Ein persönlicher Erkundungsbericht von Peter Krehenbrink
80 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges gelingt es mir endlich, die Gräber von Verwandten in Frankreich aufzusuchen. Gräber von jungen Menschen aus Osnabrück, die ihr Leben lassen mussten für Nazi-Deutschland, das diesen Krieg angefangen hat. Mit Millionen von Opfern, zwei davon auch aus meiner Familie.
Ordonne, Odon; so oder so ähnlich klang der Name des Ortes, an dem meine Großmutter und meine Mutter den Verbleib von Johann Böggemann, genannt Hans, vermuteten, wenn sie darüber sprachen.
Hans war der Bruder meiner Großmutter, Onkel meiner Mutter. Er kam im 2. Weltkrieg als Pilot ums Leben. Wann und wo, wusste niemand mehr genau zu sagen. Lediglich die eingangs erwähnten möglichen Ortsnamen blieben erhalten, sowie eine Geschichte, die mit der Überbringung der Todesnachricht zusammenhing.
Der Bote war Erwin Kolkmeyer, Inhaber eines Geschäftes in der Osnabrücker Innenstadt und bekennender Nazi. Aufnahmen aus der Zeit zeigen ihn häufig in brauner Uniform. Er war nicht nur als NSDAP-Ortsgruppenleiter bekannt, sondern auch als Denunziant und Judenhasser berüchtigt. Neben seinem Geschäft installierte er zum Beispiel eine große Schautafel mit Fotos von Osnabrückern, die -entgegen der Nazipropaganda – weiter in jüdischen Geschäften eingekauft hatten, begleitet mit den üblichen Hassparolen.
Dieser Erwin Kolkmeyer erschien eines Tages bei den Eltern von Hans in der “Große Rosenstraße” und überbrachte die Todesnachricht. Das Ganze würzte er mit den Sprüchen von Stolz über den Heldentod für Führer und Vaterland. Es wird erzählt, dass meine Urgroßmutter, also die Mutter von Hans, eine sehr resolute Dame war und in ihrer Trauer um den Verlust des Sohnes den Kolkmeyer wegen dieser Sprüche zum Teufel und zum Führer wünschte, was wohl auf das Gleiche hinauslief.
Kolkmeyer nahm das nicht widerspruchlos auf, drohte mit Konsequenzen und verließ wutentbrannt die Wohnung. Weiter heißt es, mein Urgroßvater sei dem Kolkmeyer nachgelaufen, um ihn zu beschwichtigen. Was ihm mit Mühe gelang. Die Folge war, dass aus unserer Familie niemand mehr das Geschäft des Kolkmeyer betreten, geschweige denn dort etwas kaufen sollte. Das Geschäft existiert noch, betrieben von Nachfahren des Kolkmeyer. Der Boykott des Unternehmens wird von meiner Familie – meines Wissens – bis heute eingehalten.
Erste Schritte
Das waren die ersten Geschichten, die ich im Zusammenhang mit meinem Großonkel zu hören bekam. Es wäre überheblich zu sagen, dass damit der Wunsch auf Spurensuche zu gehen entstanden sei. Sie blieben allerdings im Gedächtnis haften.
Einen Schub bekam das Thema, als ich nach dem Tod meiner Großmutter in den Besitz eines Fotoalbums kam. Dieses Fotoalbum hatte Hans zu seiner Militärzeit angelegt. Ursprünglich soll es in schmuckem Leder gebunden gewesen sein, jetzt war es leider nur noch eine alte zerfledderte Kladde. Auf den Bildern waren Szenen seiner Zeit bei der Wehrmacht, der Versetzung zur Luftwaffe und auf einer einzelnen Seite mittig eingeklebt ein Foto seiner Verlobten, umrahmt von goldenen Dekorstreifen.
Die letzten Aufnahmen zeigen dann seine Beisetzung auf einem Kirchhof, ohne jegliche Ortsangabe. Zu sehen sind im Hintergrund ein großer Turm, Soldatengruppen, die Salut schießen, um die Toten zu ehren. Wer diese Bilder aufgenommen hat, wie sie in das Album von Hans kamen und letztlich Osnabrück erreichten ist unbekannt.
Mit dem Erhalt dieses Albums wuchs bei mir das Interesse an der Geschichte von Hans neu. Internet gab es noch nicht, also nahm ich mir Atlanten zur Hand und suchte in den französischen Ortsregistern nach Ordonne, Odon, bzw. Ortsnamen die ähnlich klangen. Ohne Erfolg!
Mit dem Siegeszug des Internets in den 90er Jahren änderte sich das. Über die Seite der Kriegsgräberfürsorge fand ich ihn schnell. Dokumente aus der Zeit bekam ich auf Bestellung aus dem Bundesarchiv, darunter Zeugnisse, Soldbuch, Ausbildungsnachweise, Totenschein etc. Damit erhellte sich der letzte Lebensabschnitt von Hans.
Einsatz in Frankreich
Hans erhielt eine Ausbildung zum Flugzeugführer auf Ju 88, einer Maschine, die hauptsächlich für Bombenangriffe zum Einsatz kam. Am 2. August 1940 erfolgte seine Versetzung zum 1. Kampfgeschwader 54 in die Normandie nach Carpiquet. Heute der zivile Flughafen von Caen.
Hans flog 13 Einsätze bei der Luftschlacht um England. Am 10 Oktober 1940 erhielt er dafür das EK II. Acht Tag später, am 18. Oktober verunglückte er nach einem Einsatz aufgrund schlechten Wetters bei der Landung Seine Besatzung und er überlebten nicht. Der Totenschein nennt als Todeszeitpunkt den 18.10., 4.00 Uhr morgens, Ursache Gehirnzertrümmerung als Folge von Schädelbrüchen. Er war gerade einmal 22 Jahre alt.
Beigesetzt wurden seine Crew und er auf einem kleinen Friedhof in Bretteville-sur-Odon, einem Vorort von Caen, wenige Kilometer vom Flughafen Carpiquet entfernt. Da war also das rätselhafte Odon endlich aufgetaucht.
Nach dem Krieg wurde er umgebettet auf einen provisorischen “Ehrenfriedhof” in Caen. Seine letzte Ruhestätte fand er am 7. Dezember 1956 auf dem Friedhof La Cambe, Block 36, Grab. Nr. 5. Soweit die Geschichte von Johann Böggemann.
Der zweite Angehörige
Bei meiner Suche nach Hans im Internet stieß ich überraschenderweise auch auf den Namen Reinhold Krehenbrink, geboren am 10.02.1923 in Osnabrück. Wie sich herausstellte, handelte es sich bei Reinhold um einen Bruder meines Vaters. Mir war Reinhold bis dahin völlig unbekannt. Mein Vater selbst hat über seine Zeit im Krieg nie gesprochen, geschweige denn den Namen Reinhold jemals erwähnt. Mir war lediglich bekannt, dass mein Vater mit seinem Zwillingsbruder Heinz in Frankreich stationiert war. Meine Mutter erzählte mir das Wenige, was bekannt war. Bilder und Unterlagen von Reinhold – bis jetzt Fehlanzeige.
Er fiel wenige Tage, nachdem die Alliierten die Befreiung Europas von den Nazis begonnen hatten, am 12. Juli 1944 als Angehöriger einer Panzereinheit in der Nähe von Touffreville, einem kleinen Ort östlich von Caen. Final beigesetzt – nächste Überraschung – in La Cambe, Block 9, Reihe 10, Grab Nr. 356. Reinhold wurde 21 Jahre alt.
Die Reise
Viele Jahre sind seit diesen Recherchen vergangen. Erst jetzt ergab sich die Gelegenheit nach der Schreibtischarbeit die Suche vor Ort fortzusetzen. Mit einem meiner ältesten Freunde habe ich mich auf den Weg gemacht. Meinem Freund Peter T. spreche ich hiermit auch meinen großen Dank aus: Er ist toller Mensch und ein ausgezeichneter Beifahrer, der immer den rechten Weg wies, während ich mich auf das Fahren konzentrieren konnte. Und – last but not least – ist er ein hervorragender Fotograf.
Eine Bemerkung vorab: Die Normandie ist ein wunderschönes Fleckchen Erde. Eine wunderschöne Landschaft, pittoreske Hafenstädte, sehr freundliche und hilfsbereite Menschen (mangelnde Kenntnisse der französischen Sprache waren kein Problem). Nicht zu vergessen die kulinarischen Highlights, frische Meeresfrüchte, exzellenter Käse, erfrischender Cidre und leckerer Calvados. Unsere Tour ging über Étretat, Honfleur, Bayeux, Cherbourg, Granville, Mont St. Michel. Und – was besonders auffiel – kein Müll auf den Straßen, keine vollgeschmierten Häuser, keine zugeklebten Laternenpfähle.
Erste Station für die Spurensuche war Bretteville-sur-Odon. Über Google Earth hatte ich nach dem Kirchhof recherchiert auf dem Hans zum ersten Male beigesetzt wurde. Gefunden! Anschrift: Ruelle Notre Dame.
Der Rest war mit dem Navigationssystem einfach. Der Turm von den alten Fotos klar erkennbar. Die Stelle der Grablege schnell entdeckt. Sie war – nicht weiter überraschend – leer, nicht wieder belegt. Ältere Gräber, die auch auf den Bildern zu sehen waren, räumten letzte Zweifel über die Richtigkeit der Stelle aus. Das “Odon” meiner Großmutter war gefunden.
Weiter ging es Richtung Flughafen Carpiquet. Dort gibt es das “D-Day-Wings-Museum“. Wer Interesse hat, einmal die Kanzel eines Bordkanoniers zu besetzen, kann das hier ausprobieren. Am Ausgang des Museums hing ein Hinweis, dass Fotos und Dokumente aus der Zeit willkommen sind. Ich sprach mit einem Mitarbeiter und erzählte in kurzen Worten die Geschichte von Hans. Von dem Unglück, das ihm das Leben kostete, wusste bis dahin niemand. Bilder und Unterlagen wollten sie gerne entgegennehmen. Mal schauen ob daraus noch etwas entsteht, der Kontakt ist weiterhin vorhanden.
Der Titel dieses Beitrags lautet “Spurensuche“, die weiteren touristischen Aktivitäten lasse ich daher beiseite. Mit einer Ausnahme: Bayeux! Eine wunderschöne Stadt, touristisch gut frequentiert, vor allem wegen der imposanten Kathedrale und dem Weltkulturerbe “Wandteppich von Bayeux”. Hinter der Kathedrale sei der Irish Pub “Le Conquerant” empfohlen. Versorgung ist sehr gut und die Preise deutlich günstiger als auf der Flaniermeile im Zentrum. Und noch eine Empfehlung! Übernachten wie ein Fürst zu angenehmen Konditionen? Hier bitte: www.hotel-dargouges.com.
Am nächsten Tag ging es dann zur Küste, zum Omaha-Beach. Während der ganzen Zeit in der Normandie hatten wir hervorragendes Wetter. Dieser Tag war die Ausnahme. Es stürmte und regnete heftig. So stellte ich mir das Wetter vor, welches die Amerikaner aushalten mussten, als sie am D-Day die Küste eroberten. Das “D” steht übrigens für “decision” Entscheidung.
Wer mehr erfahren möchte über Omaha-Beach, Pointe du Hoc und St.-Mere–Eglise, der findet reichlich Informationen im Netz, hier ist jetzt nicht der Platz.
Der nächste und für mich wichtigste Punkt der Reise stand bevor, La Cambe. Der Friedhof liegt etwas außerhalb des gleichnamigen Ortes und ist leicht zu finden. Parkplätze sind ausreichend vorhanden. Vor der Anlage steht ein Informationszentrum. Ein Verzeichnis gibt Auskunft über die Lage der Gräber der hier Bestatteten, ca. 21.000 teils namenlose Tote.
Den Friedhofspark selbst erreicht man nur durch ein schmales Portal, mit dem Blick auf einen Grabhügel, gekrönt von einem Kreuz mit Skulpturen. Alles ist sehr gepflegt, dem Ort des Gedenkens angemessen. Reinhold war der Erste, dessen Grabstein wir suchten und fanden. Ich hatte gehofft, vor dem Friedhof ein Blumengeschäft zu finden, um eine Erinnerung zu hinterlassen. Das gab es nicht. Ich hatte aber vorgesorgt und ein Solar-Grablicht im Gepäck. Das steckte ich neben den Gedenkstein. Möge es eine Weile dort bleiben.
Auch Hans fanden wir schnell. Sein Grab liegt im hinteren Bereich von La Cambe, und im Gegensatz zu Reinhold teilt er sich den Ruheplatz mit einem mir nicht bekannten Soldaten. Auch Hans erhielt sein Grablicht.
Mission abgeschlossen. Freude, Wehmut, Nachdenklichkeit – das prasselte in dem Moment auf mich ein. Ich war unendlich dankbar, nach den vielen Jahren dort stehen zu dürfen.