Sensationelle exklusive Serie in der OR beginnt heute

Bernhard Schulz (1913 – 2003) dürfte ein Osnabrücker Autor sein, der nicht nur in seiner Heimatstadt wahrhaftig keinen Vergleich zu scheuen braucht: Stolze 24 Bücher und fast 2.400 (!) Kurzgeschichten sind seit 1934 erschienen. Letztere fanden sich in Zeitungsausgaben, Anthologien und Sammelbänden. Völlig zu Unrecht, das ist zumindest die Auffassung der OR-Chefredaktion, ist dieser markante Schreiber heutzutage fast in Vergessenheit geraten.

Eine bemerkenswerte Resonanz erfuhr in der Osnabrücker Rundschau eine Reportage von Heiko Schulze, der sich Anfang Juli dieses Jahres mit dem reichhaltigen Wirken des Osnabrücker Journalisten und Schriftstellers auseinandergesetzt hat. Dies nebenbei nicht ohne Anlass: Wie Hans Wunderlich, Josef Burgdorf oder Karl Kühling zählte Schulz anno 1946 zum Redaktionsteam der damaligen Osnabrücker Rundschau, der leider nur ein kurzes Zeitungsleben zuteil wurde.

Redakteur Bernhard Schulz mit der OR-Erstausgabe vom 1. März 1946

Ganz im Gegensatz zu Bernhard Schulz hat es sein enger Freund Fritz Wolf (1918-2001) bis heute in die Ahnengalerie von solchen Osnabrückerinnen und Osnabrückern geschafft, die über Jahrzehnte, von der NOZ bis zum Stern, erfolgreich versucht haben, den deutschen Zeitgeist textlich oder zeichnerisch zu spiegeln. Immer wieder ergeben sich bis heute aktuelle Anlässe, um an den Meister des feinen Federstrichs mit seinen stets liebevoll in Szene gesetzten Prominenten zu erinnern.

Sohn Ansgar und Bernhard Schulz

Kurzum: Anlässe genug, fortan eine neue OR-Serie zu starten, in der ausgewählte Kurzgeschichten von Bernhard Schulz mitsamt ihrer zeichnerischen Begleitung durch Fritz Wolf vorgestellt werden. Herzlich gedankt sei an dieser Stelle Ansgar Schulz-Mittenzwei, der die neue Serie im vertrauensvollen Kontakt zur OR-Redaktion erst ermöglicht hat und der bis heute in liebevoller Weise das literarische Erbe seines Vaters verwaltet.

Bernhard Schulz und Fritz Wolf 1951

Alle Schulz-Geschichten sowie etliche Wolf-Zeichnungen besitzen eine einzige Quelle, die in jüngster Zeit, ebenfalls durch das entscheidende Mitwirken seines Sohnes Ansgar, erscheinen konnte. Entnommen sind sie nämlich dem Schulz-Buch „Den Löwenzahn zermalmt nicht die Kesselpauke oder Hinwendung zur Geborgenheit. 200 kurze Geschichten der Jahre 1945-1965.“ Das kompakte Werk ist im Buchhandel (beispielsweise bei Wenner), online oder direkt über die Website www.BernhardSchulz.de erhältlich.

Neugierigen seien – vor der Lektüre der folgenden Kurzgeschichte – überdies diese Internet-Seiten ans Herz gelegt:

http://www.BernhardSchulz.de
https://de.Wikipedia.org/wiki/Bernhard_Schulz 
http://www.Fritz-Wolf.de

 

Und hier nun – endlich – unsere „Nummer 1“. Ausgewählt wurde eine Geschichte von 1946, die, wie keine andere, insbesondere zum heutigen „Totensonntag“ passt.

Bernhard Schulz
Feld Qu Einzelgrab 398 (1946)         

Es war November, als ich aus der Kriegsgefangenschaft entlassen wurde und in die Stadt zurückkehrte, in der ich gelebt hatte. Ich hatte mir vorgenommen, das Grab meines Vaters zu suchen. Ich wusste, dass er tot war. Ein Angestellter des Städtischen Friedhofamtes blätterte in den Listen und schrieb mir die Nummer des Grabes auf einen Zettel: Feld Qu Einzelgrab 398.

„Sie werden es schon finden“, sagte der Mann, der hinter seinem Schreibtisch einen Mantel und eine Wollmütze trug, weil der Ofen nicht geheizt werden konnte, und dann fügte er hinzu: „Übrigens – mein Beileid.“

„Danke“, erwiderte ich.

Sie hatten den Friedhof in Felder eingeteilt. Jedes Feld war mit einem Buchstaben gekennzeichnet, um das Auffinden der Gräber zu erleichtern. Überall dort, wo sich die Wege kreuzten, steckten kleine Holztafeln im Rasen, auf denen weiß auf schwarz der Buchstabe zu lesen war, Qu zum Beispiel. In den ersten Jahren nach dem Krieg kamen viele Menschen auf den Friedhof und sie alle hatten einen Zettel in der Tasche, auf dem das Grab vermerkt war. Das ganze Alphabet war eingesetzt worden, so viele Tote hatte es gegeben.

Ich will hier nicht behaupten, dass ich Friedhöfe mag. Jedenfalls fürchtete ich mich nicht vor dem Anblick ausgehobener Gruben und vor dem Geruch des Buchsbaums, der ja ein Leichengeruch ist. Ich hatte begriffen, dass ich sterben musste. Mit meinen neunzehn Jahren hatte ich das begriffen. Aber jetzt im Spätherbst sahen die Gräber freundlich aus, sie waren mit Astern geschmückt und auf einigen brannten kleine Laternen. Die Flämmchen wuschelten umher in dem roten Glas und das brachte wahrhaftig sogar Leben in die Sache. Den Kindern gefiel es, sie standen da und träumten.

Feld Qu Einzelgrab 398 – hier ruhte mein Vater. Er war zweiundsechzig Jahre alt, als er starb. Er war von der Friedhofsverwaltung unter der Nummer 398 in die Liste der Verstorbenen eingetragen worden. Schulz, Emil, geb.1883, röm.-kath., Rentner, verwitwet, Wohnsitz unbekannt.

Ach ja, Schulz Emil, hatte zuletzt in seiner Gartenlaube gewohnt.

Jedes Feld zählte tausend Gräber, tausend Nummern, tausend Herzen. Herzen, die eine Weile geschlagen hatten.

Im Film hatte ich einmal in Großaufnahme gesehen, wie ein menschliches Herz schlägt und pumpt und sich anstrengt. Das menschliche Herz auf der Leinwand machte blupp-blupp-blupp und immer blupp-blupp-blupp, ganz dumpf.

Ich fing an, ein Gebet zu sprechen. Ich sagte etwas Lateinisches auf, das ich einmal gelernt hatte, „Dona ei requiem aeternam“, gib ihm die ewige Ruhe, Herr, und ich machte mir Vorwürfe, dass ich kein rotes Laternchen gekauft hatte.

Mein Vater war am 7. März 1945 getötet worden. Er wurde in seinem Schrebergarten vor der Stadt von einem Tiefflieger umgebracht, der gedacht haben muss, dieser Mann da unten ist derjenige, der den Krieg angefangen hat. Der 7. März war der Tag, an dem amerikanische Panzer bei Remagen über den Rhein gingen. Hitler ließ den Offizier erschießen, der sich geweigert hatte, die Brücke zu sprengen.

Ich betete: Herr, laß ihn ruhen in Frieden, und das ewige Licht leuchte ihm. Und mitten im Gebet erinnerte ich mich an meinen Vater, wie er beschaffen gewesen war und welche Art von Freundschaft wir miteinander gehabt hatten. Ich erinnerte mich an die Abende vor Weihnachten, als die Familie und das Haus und das Leben noch in Ordnung gewesen waren. Wir hatten die Abende damit verbracht, Rätsel zu lösen. Wir waren immer auf der Suche nach Preisausschreiben und wenn wir das Rätsel gelöst hatten, lief ich zum Briefkasten, um die Lösung einzustecken.

Wir kauften Stapel von Zeitschriften. Wir beteiligten uns an allen Preisausschreiben, die aufzutreiben waren. Wir lebten ständig in der Hoffnung, dass wir endlich den großen Gewinn machen würden. Und wahr ist, dass wir eine Menge dabei lernten, zum Beispiel, wer Tizian gewesen war und welche Sinfonien Beethoven geschrieben hatte und dass die Araber nach dem Koran leben.

Wir sandten im Laufe der Jahre Hunderte von Lösungen ein, eine Lösung nach der anderen, aber wir waren nie bei den Gewinnern. Wir zählten nicht zu denjenigen, die fähig waren, eine Nähmaschine oder die Gesamtausgabe von Brehms Tierleben oder eine Reise nach Wien für zwei Personen zu gewinnen. Einmal war der Hauptgewinn ein Fahrrad, ich hätte damit zur Schule fahren können, die sechs Kilometer entfernt war, aber die Fahrradfabrik muss unsere Lösung einfach in den Papierkorb geschleudert haben.

Als ich aus dem Krieg zurückkehrte und das Elternhaus zerstört fand und der Vater tot war, berichteten die Nachbarn, dass die Flieger damals fast in Baumhöhe über die Stadt und die Gärten hinweggeflogen waren und ihre Waffen auf alles abgefeuert hatten, was sich bewegte.

Unter den Tausenden, Zehntausenden, Hunderttausenden von Geschossen, die in die Mauern und in die Erde spritzten, traf ein Geschoss meinen Vater. Aber unter den vielen Preisausschreiben, deren richtige Lösungen wir eingesandt hatten, war nicht einmal ein Pröbchen Zahnpasta für ihn dabei.