Ali Boelzen (Frank Schneider): Kontrollverlust beim professionalisierten VfL

Der in Hamburg lebende Osnabrücker Soziologe Frank Schneider – in Fankreisen eher unter seinem Nicknamen „Ali Boelzen“ bekannt – macht sich in seinem Kommentar Gedanken um das Innenleben des VfL:

Der VfL hat seine Entscheidungen professionalisiert, indem Ende 2017 die Position des Sportdirektors geschaffen wurde. Mit dieser Stelle wurden das geschäftsführende und sportliche Subsystem strukturell besser gekoppelt – zumal Jürgen Wehlend mit Benny Schmedes einen Kandidaten fand, der mit Daniel Thioune kongenial zusammenarbeiten konnte. Aus dem jetzigen sportlichen Totalkollaps lässt sich jedoch schließen, dass die Professionalisierung einen „blinden Fleck“ hatte.

Meine These lautet: Thiounes Kommunikation mit Schmedes war eine Reflexionsschleife, in der Entscheidungsalternativen des Sportdirektors kritisch hinterfragt wurden. Dadurch, dass sich Thioune als fachlich kompetente und selbstbewusste Persönlichkeit mit Schmedes kontrovers austauschte, konnte der Sportdirektor die Rationalität seiner Entscheidung steigern. Ohne Thioune fehlte dann ein herausforderndes Gegenüber, das ergebnisoffenere Diskussionen ermöglichte. Thioune machte Schmedes besser – und Schmedes machte Thioune besser. Denn unser Ex-Trainer war innerlich aufgeschlossen genug, um sich in seinen Entscheidungen vom Sportdirektor positiv irritieren zu lassen.

Als Thioune ging, fiel diese Reflexionsschleife weg. Wehlends Kommunikation mit Schmedes oder die Kommunikation der Kontrollgremien mit dem Sportdirektor war kein funktionales Äquivalent. Denn Schmedes war für eine symmetrische Kommunikation zu stark geworden, nachdem der VfL zwei Jahre sehr erfolgreich war. Heftig vom 1.FC Nürnberg umworben, war auch Schmedes wie Thioune scheinbar schneller gewachsen – verglichen mit anderen VfL-Entscheidungsträgern in der Binnenumwelt des KGaA-Systems. Der Sportdirektor war der „heimliche Hauptgeschäftsführer“ – auch wenn Wehlend noch an der Spitze der KGaA stand.

Anzunehmen ist, dass im Sommer 2020 Wehlend und die Kontrollgremien nicht genügend Aushandlungs- und Überzeugungsmacht hatten, um mit Schmedes auf Augenhöhe über die Trainerfindung zu diskutieren. Fraglich ist auch, ob der damalige HGF und die zuständigen Gremienmitglieder überhaupt erkannt haben, wie wichtig ein starker Trainer ist, der als Gegengewicht in einer symmetrischen Beziehung mit dem Sportdirektor wirken kann. Marco Grote konnte das nicht sein, weil er als Trainernovize im Profibereich einen geringeren Status als Thioune hatte.

Unabhängig von der Frage nach der Korrektivfunktion betrachtet, halte ich Marco Grote für einen guten Coach, sonst hätte der VfL nicht so eine erfolgreiche Hinrunde spielen können. Hätte er die Meriten von Thioune gehabt, wäre Schmedes den Weg mit ihm wahrscheinlich weitergegangen. Desaströser als heute hätte die Situation auch nicht werden können.

Nachdem der VfL eine Negativserie von sieben Niederlagen hintereinander realisiert hatte, musste Marco Grote gehen. Diese Entscheidung entsprach den Gesetzmäßigkeiten der Branche, in der die Trainerentlassung als ein Darstellungsmittel für professionelles Handeln verwendet wird. Umso überraschender war aber, mit welchem Chefcoach Benny Schmedes die Trainerposition neu besetzte.

Als er Markus Feldhoff holte, war Schmedes kein „heimlicher Hauptgeschäftsführer“ mehr, sondern seit dem 01.01.2021 „Geschäftsführer Sport“. Bis Doc Welling Mitte Februar Wehlend ersetzte, führte Schmedes die KGaA allein. Wahrscheinlich ist er noch entscheidungsmächtiger geworden, als er es im Sommer 2020 war. Doc Welling ist zwar eine starke und kompetente Persönlichkeit, die eine hohe Integrationskraft in die Fanszene hinein hat. Aber nach vierzehn Tagen im Amt wird er kaum harte Einwände gegen die Trainerwahl seines ihm gleichgestellten Geschäftsführerkollegen vorgebracht haben. So konnte Benny Schmedes durchregieren, als wäre der VfL ein Patriarchenunternehmen.

Bei den trainerbezogenen Entscheidungsprozessen nach Grotes Freistellung rächte sich nun, dass unter Wehlend im Kommunikationssystem der KGaA keine Redundanzen bei den Kontroll- und Reflexionsschleifen geschaffen wurden. Wehlends größter Personalcoup – die Einstellung von Benny Schmedes – wendet sich nun ins Tragische. Denn die Entscheidung für Markus Feldhoff erschien höchst riskant – und wird morgen im sportlichen Desaster enden.

Kaum einer konnte nachvollziehen, warum Schmedes diese Trainerwahl traf. Kaum einer konnte verstehen, weshalb Schmedes wieder einen Cheftrainerneuling verpflichtete – in einer sportlich prekären, aber nicht hoffnungslosen Situation, in der ein Coach viel naheliegender gewesen wäre, der schon den Abstiegskampf in der Zweiten Liga gemeistert hat. Kaum einer konnte sich vorstellen, wie ein sehr introvertierter Trainer erfolgsfördernde emotionale Impulse auf die Mannschaft übertragen kann. Kurzum: Kaum war davon überzeugt, dass Markus Feldhoff den VfL retten konnte. Die einzige Hoffnung war, dass es Benny Schmedes besser beurteilen könnte als die Schwarmintelligenz in der Gemeinde der VfL-Fans.

Jürgen Wehlend wollte den VfL vor den Hasardeuren retten. Nun steht der VfL in der Ruinenlandschaft zerstörter Hoffnungen auf den Klassenerhalt. Die Professionalisierung der Entscheidungen geriet in der KGaA auf Abwegen, so dass eine fatale Trainerwahl getroffen wurde. Benny Schmedes ist im wehlendschen Sinne kein Hasardeuer. Aber bei seiner Entscheidung für Markus Feldhoff ging er ein so hohes Risiko ein, als wäre er ein Hasardeur – egal, wie es morgen ausgeht.

Markus Feldhoff finde ich sympathisch. Sollte er mit seiner introvertierten Art entgegen jeder Wahrscheinlichkeit den Klassenerhalt noch schaffen, würde ich mich für ihn freuen. Dann stünde er in einer Reihe mit Lucien Favre, der Gladbach 2011 emotionsarm zum Klassenerhalt coachte: in der Relegation gegen den anderen VfL aus Bochum. Einzig: Mir fehlt der Glauben daran!

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