Ein 17jähriger gründet die Bramscher SPD …

… vor 150 Jahren

Als einer der ersten Ortsvereine im Osnabrücker Land wurde 1872 die SPD in Bramsche gegründet. In diesem Jahr können die Bramscher Sozialdemokraten also auf eine 150jährige Geschichte zurückblicken. Auf einer Festveranstaltung am 5. August 2022 im Bramscher Ortsteil Engter taten sie dieses im Beisein des Niedersächsischen Ministerpräsidenten Stephan Weil. Wir wollen uns ansehen, wie es zu dieser wegweisenden Parteigründung kam und wer daran beteiligt war.

Die industrielle Exploitation bemächtigte sich […] sofort der ganzen Arbeiterfamilie und sperrte sie in die Fabrik, Weiber und Kinder mußten Tag und Nacht unaufhörlich arbeiten, bis die vollständige physische Abmattung sie niederwarf […], eine Exploitation die nicht nachließ, solange noch ein Muskel, eine Sehne, ein Tropfen Bluts auszubeuten war“. Der im Zitat verwendete Begriff „Exploitation“ bedeutet schlicht: Ausbeutung. Mit diesen Worten beschreibt Friedrich Engels die Lebensumstände und die Arbeitswelt in der Mitte des 19. Jahrhunderts.

Bramsche und die Februar-Revolution 1848

Knapp 1.600 Einwohner hatte Bramsche im Jahre 1848, zum Vergleich: Osnabrück zählte ca. 12.500 Einwohner. Bramsche und Osnabrück gehörten seit dem Wiener Kongress zum Königreich Hannover.

Durch Flachsanbau und Schafzucht waren Leinen- und Wollweberei dominierend. Ein Teil der Einwohner Bramsches und auch seiner näheren ländlichen Umgebung fertigte aus dem Flachs Leinenprodukte in häuslicher Arbeit und verkaufte sie zunächst auf der Legge. Die Verbindung mit England brachte Industrialisierung und Arbeitsteilung nach Bramsche. Das führte dazu, dass die Waren zunächst von den Webern noch in den Häusern produziert wurden. Den Verkauf der Waren übernahmen aber jetzt die Kaufleute, die auch die Rohstoffe beschafften und die Aufträge erteilten. In dieser ersten Stufe waren aus den „selbständigen“ Webern quasi lohnabhängige Beschäftigte geworden.

Tuchmacherinnung von 1586 in Bramsche. Auf der Legge wurden die Leinenprodukte verkauft (Foto: Dieter Przygode)Tuchmacherinnung von 1586 in Bramsche. Auf der Legge wurden die Leinenprodukte verkauft (Foto: Dieter Przygode)

Politisch schwappte die Februarrevolution von Frankreich aus nach Deutschland über

Die Bundesversammlung in Frankfurt im März 1848 stellte den Staaten des Deutschen Bundes jedoch frei, den Forderungen nach Pressefreiheit, Vereinsrecht, Volksbewaffnung und nach einem deutschen Parlament nachzukommen. Der König von Hannover lehnte dies zunächst aber für sein Gebiet und damit auch für das Osnabrücker Land ab. Erst Wochen später wurde im Königreich Hannover die Pressefreiheit verkündet und auch dem Zusammentritt eines neuen liberalen Ministeriums zugestimmt sowie ein großes Reformprogramm angekündigt. Johann Carl Bertram Stüve, Osnabrücks vormaliger Bürgermeister und nun Innenminister in Hannover, war allerdings ein vehementer Gegner des Paulskirchenparlaments in Frankfurt/Main, weil ihm dessen demokratischen Vorstellungen viel zu weit gingen. Trotz dieser minimalen Zugeständnisse brachen in weiten Teilen des Osnabrücker Landes Unruhen und Tumulte aus.

Erstes Aufbegehren in der Not

Es waren die untersten Schichten der Bevölkerung, Arbeiter, verarmte Handwerker und Heuerleute, die unter dem Krisenjahr 1847 mit der großen Hungersnot und dem Niedergang des Textilgewerbes besonders leiden mussten. Viele von ihnen wanderten aus nach Natal in Südafrika oder nach Amerika. Die, die hierblieben, sahen nach Jahrhunderten der Unterdrückung den Zeitpunkt gekommen, um aufzubegehren. Im Osnabrücker Land entspann sich eine lebhafte politische Diskussion, politische Tageszeitungen und Vereine wurden ins Leben gerufen.

Demokratischer Verein

In Bramsche wurde auf Anregung des aus Schüttorf stammenden, aber in Bramsche arbeitenden Färbergesellen Bartolomei der „Demokratische Verein“ gegründet. Bartholomei hatte früher in Frankreich gearbeitet und von dorther republikanische und sozialistische Ideen mitgebracht. Außerdem hatte er Grundsätze über eine Garantie der Arbeit entwickelt. All das fand aber wenig Anklang, obwohl der Verein mit seinen Statuten auf der Seite der nationalen Linken stand und sich zur sogenannten „roten“ Republik bekannte. Im Dezember 1848 gehörten dem Verein etwa 90 Mitglieder an, vorwiegend Kleinbürger und Handwerksgesellen, vereinzelt auch Kaufleute aus der Tuchmachergilde. Sogar zwei Bauern hatten sich dem Verein angeschlossen. Vorsitzender war der Färber und Kattunfabrikant Christian Rudolph Wiecking vom Bramscher Brückenort, der aber nach einem Streit zurücktrat mit der Folge, dass auch die wenigen Kaufleute der Tuchmachergilde den Verein verließen. Der Nachfolger von Wiecking, ein 27-jähriger Theologiekandidat und Privatlehrer aus Einbeck, war auch nicht lange im Amt. Ihm folgte Lehrer Schröder aus Epe.

Straßenschild für den Platz des 18. März vor dem Brandenburger Tor in Berlin,  ursprünglich zur Erinnerung an die Märzrevolution von 1848; später auch an die erste freie Volkskammerwahl in der ehemaligen DDR im Jahre 1990 (Foto: Dieter Przygode)

Als die hannoversche Regierung zögerte, die von der Reichsgesetzgebung auferlegten Grundrechte als bindend anzuerkennen, kam es zu einer großen Kundgebung in Bersenbrück mit über 200 Besuchern. Die Redner auf dieser Veranstaltung, Bartolomei aus Bramsche und Schröder aus Epe, wandten sich in scharfer Form gegen die Politik des als liberal geltenden Innenministers Stüve.

Bramsche, das „Nest des Demokratenunfugs“

Der gut organisierte und zahlenmäßig relativ starke Verein aus Bramsche sorgte weiter dafür, dass die Aufregung nicht so schnell abklingen konnte. Zum Jahrestag der Revolution am 18. März 1849 zogen die Mitglieder des Vereins mit schwarz-rot-goldenen, aber auch mit roten Fahnen zu einer Demonstration nach Osnabrück. Bartolomei forderte offen zur „Vergiftung“ der Armee auf, zuvor waren Soldaten von Färbergesellen in Bramsche tätlich angegriffen worden. Am Abend des 19. Mai 1849 wurde auf den Advokaten Buddenberg, ein Vertrauter Stüves und Mitglied im Staatsrat des Königreichs Hannover, ein Attentat verübt. Sein Wagen wurde „von einem Haufen aus Bramsche“ mit Steinen beworfen, wie es in dem offiziellen Bericht hieß. Innenminister Stüve war erbost darüber, dass die Untersuchung dieses Vorfalls durch die Landdrostei zu keinem Ergebnis geführt hatte und ermahnte die örtlichen Behörden, darüber zu wachen, „dass dem Gesetz in Bramsche wieder das nötige Ansehen verschafft werde“. Dennoch gelang es nicht, die Attentäter zu ermitteln, obwohl sie angeblich jedermann in Bramsche kannte. Stüve brandmarkte daraufhin Bramsche als „das Nest des Demokratenunfugs“, und selbst in den Augen des Osnabrücker Bürgertums galt Bramsche seitdem als „Sodom“.

Die politischen Aktivitäten des Vereins ließen jedoch immer mehr nach, zumal der Hauptagitator Bartolomei flüchten musste. Als der Demokratische Verein bei der Bürgermeisterwahl im September 1849 keinen Erfolg mehr hatte, war es mit der politischen Betätigung des Vereins vollends vorbei. Die Versammlungen des Vereins dienten nur noch geselligen Zwecken, und damit „kehrte auch in Bramsche die Ruhe wieder ein“, wie behördlicherseits zufrieden festgestellt wurde. Zunächst …

Arbeiterbildungsverein: „Wissen ist Macht!“

Schon im Oktober 1849 setzte sich im benachbarten Osnabrück eine 24köpfige Kommission von Zigarrenarbeitern und zünftigen Gesellen unter der Leitung von Johann Heinrich Schucht dafür ein, „wie in anderen Städten Deutschlands einen Verein zu gründen, durch welchen die geistigen und materiellen Verhältnisse der Arbeiter in den verschiedenen Gewerben verbessert werden können.“

Titel der Arbeiterzeitschrift Die Verbrüderung von 1850 (Repro: Przygode)Titel der Arbeiterzeitschrift Die Verbrüderung von 1850 (Repro: Przygode)

In der Arbeiterzeitschrift „Die Verbrüderung“ wird 1850 berichtet:

„Von der lobenswerten Begeisterung für den vernünftigen Fortschritt geben auch die Arbeiter zu Bramsche Zeugnis. Auch hier wurde ein Verein für Bildung und Wanderunterstützung gegründet.“

Man versuchte also, durch Bildung die Position der Arbeiter zu stärken und so ihre Arbeitsverhältnisse zu verbessern. Wilhelm Liebknecht hat dafür später das Wort gebraucht: „Wissen ist Macht!“

Das Problem war nur, dass die Lehrer der Bramscher Fortbildungs- und Realschule nicht für den Unterricht gewonnen werden konnten. Diese wollten oder mussten offenbar unpolitisch bleiben und fürchteten deshalb eine Verbindung mit dem Arbeiterverein als „demokratische Bildungsschule“. Schließlich unterrichtete ein Tierarzt namens Karl Schürmann.  An Zeitungen hielt man die „Verbrüderung“ und das linksrepublikanische „Osnabrücker Tageblatt“.

Obrigkeitsstaat gegen Arbeiter

Der Bramscher Magistrat sah den Arbeiterbildungsverein als ein Übel an, „weil er in mancher Hinsicht die Arbeitskräfte ganz fühlbar“ vereinnahmt habe und durch die Einrichtung der Wanderunterstützungskasse die Gesellen „von der Arbeit entfremdet würden“, wie es in einem Bericht vom September 1850 heißt. Immer wieder wurde seitens der Stadt versucht, Druck auf den Arbeiterbildungsverein auszuüben. Es setzte gar eine Überwachung durch staatliche Behörden ein, weil man befürchtete, dass die Arbeiterbildungsvereine sich nur vordergründig um die Verbesserung der Arbeitsverhältnisse bemühten und eigentlich den politischen Umsturz planten. Wie stark der Druck seitens des Magistrats auf den Bramscher Arbeiterbildungsverein war, zeigte sich daran, dass sein Präsident im September 1850 Bramsche verlassen musste.

Durch diese permanenten Restriktionen erreichten die Behörden schließlich, dass die Vereinsführung und deren Aktivitäten sich letztlich den behördlichen Vorgaben im Laufe der Jahre immer mehr anpassten. Am 10. März 1853 teilte der Bramscher Magistrat mit, dass der Arbeiterbildungsverein eingegangen sei.

Zwar war jetzt auch der zweite Verein, der sich um die Arbeiterinteressen kümmerte, von der Obrigkeit abgewehrt worden, aber der Zug ließ sich nicht mehr aufhalten …

Organisiert gegen Ausbeutung

In der jetzt einsetzenden zweiten Phase der Industrialisierung mit dem Einsatz der Dampfmaschine und der zunehmenden Mechanisierung werden Hausindustrie und Handwerk durch die fabrikmäßige Produktion ersetzt. Die Kehrseite des industriellen Aufstiegs bekamen die Arbeiter in den Fabriken zu spüren: Es gab keinen gesetzlich festgelegten Arbeitstag, keine Sonntagsruhe oder gar Urlaub. Eine tägliche Arbeitszeit von über 16 Stunden bei geringem Lohn, der dazu zwang, dass Kinder mitarbeiten mussten, war obligatorisch. Um dieser Ausbeutung entgegenzuwirken, musste eine Organisation der Arbeiterschaft her, die für ihre Rechte eintrat.

Als Konsequenz wird am 23. Mai 1863 in Leipzig von Ferdinand Lassalle der „Allgemeine Deutsche Arbeiterverein“ ins Leben gerufen, um zu den eigentlichen Zielen – der Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der arbeitenden Klassen – zurückzukehren.

Auch in Bramsche entwickelte sich in der Arbeiterschaft das Bewusstsein, dass sich ihre Verhältnisse nur bessern würden, wenn man sich gegen die Willkür der Fabrikanten kollektiv zur Wehr setzte.  Wilhelm Wiemann, einer der führenden Kräfte an der Spitze der Bramscher Arbeiterbewegung, sagte darüber folgendes:

„Von Osnabrück kamen die Genossen Himmermann und Klute und versuchten, eine Gruppe des genannten Vereins ins Leben zu rufen, was denn auch gelang. Die Zusammenkünfte waren in der Wirtschaft Meyran auf dem Damm. In diesen Zusammenkünften sprach in der Regel der Genosse Klute und wurden Maßnahmen zur Gewinnung von Mitgliedern besprochen.“ Die Osnabrücker Genossen, die „ersten Sozialdemokraten im Osnabrücker Land“, wie es in der Chronik „100 Jahre SPD in Osnabrück“ heißt, bestärkten die Bramscher Arbeiter, sich zu organisieren. Der erst 17jährige Wilhelm Wiemann, bekannt für seinen „rebellischen Charakter“, nahm daraufhin das Heft des Handelns in die Hand und gründete den Bramscher Arbeiterverein.

Feier anlässlich des 50jährigen Bestehens der Bramscher SPD im Jahre 1922; Wilhelm Wiemann - im Alter von 66 Jahren -  ist in der vorderen Reihe der 4. von links (Foto: SPD Bramsche)Feier anlässlich des 50jährigen Bestehens der Bramscher SPD im Jahre 1922; Wilhelm Wiemann - im Alter von 66 Jahren -  ist in der vorderen Reihe der 4. von links (Foto: SPD Bramsche)

Dass in Bramsche früher als in anderen ländlichen Gebieten Nordwestdeutschlands eine politische Arbeiterbewegung entstehen konnte, führt der vor wenigen Monaten verstorbene Bramscher Sozialdemokrat Heinz Aulfes in der von ihm verfassten Chronik „100 Jahre SPD in Bramsche – Ein Lehrstück sozialer Demokratie“ auf den Umstand zurück, „dass ehemalige Handwerker, vor allem Tuchmacher, die als Folge der Industrialisierung zu Fabrikarbeitern wurden („ins Proletariat abgesunken waren“), als künftige Führungsschicht der wachsenden politischen Arbeiterbewegung in Bramsche bereitstanden“ und so 1872 ein „Ortsverein“ des Lassalleschen Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins entstehen konnte.

„Wiemes Lassalle“

Wie Wilhelm Wiemann zu seinem Spitznamen „Wiemes Lassalle“ gekommen ist, darüber gibt es nur Vermutungen. „Wiemes“ ist die im damals gängigen plattdeutschen Sprachgebrauch übliche Bezeichnung für den Namen „Wiemann“.  Die Ergänzung „Lassalle“ mag ein Hinweis auf seine Aktivitäten für die Arbeiterbewegung sein, kann aber auch bedeuten, dass sein Aussehen dem des Leipziger Arbeiterführers Lassalle ähnelte. Manche in der Stadt sollen ihn gar nicht unter seinem richtigen Namen gekannt haben. Wilhelm Wiemann wurde am 15. Oktober 1855 als Sohn eines Tuchmachers in Bramsche geboren. Als seine Mutter stirbt, ist er 12 Jahre  und muss sich um seine beiden jüngeren Schwestern kümmern. Erst als sein Vater erneut heiratet, wird ihm diese Verantwortung ein wenig abgenommen. Dafür muss er jetzt mehr und mehr seinen Vater bei seiner Arbeit als Tuchmacher unterstützen. So bekommt er von klein auf die Kehrseite der stürmischen industriellen Entwicklung mit, von der seine Familie direkt betroffen ist.

Noch in jungen Jahren beginnt er einen Handel mit Südfrüchten, Orangen und Kokosnüssen, und betreibt auf Jahrmärkten eine Spielwarenbude. Dies hilft ihm dabei, auch nach dem Verbot sämtlicher sozialistischer Organisationen und Aktivitäten durch das Bismarcksche Sozialistengesetz („Gesetz wider die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“) von 1878 weiter „unter der Oberfläche“ für die Arbeiterbewegung tätig zu sein. So soll er dabei maßgeblich beteiligt gewesen sein, das im Ausland hergestellt offizielle Parteiorgan „Der Sozialdemokrat“ als Seidenware oder Schweizer Käse nach Osnabrück zu transportieren. Ein Osnabrücker Zeitzeuge erzählte, dass Wilhelm Wiemann die Zeitungen oder Flugblätter aus der Schweiz in Kisten als „Südfrüchte“ oder „Kurzwaren“ nach Bramsche geschickt bekam. Er habe die Kisten dann auf sein Hundegespann gepackt und sie nach Osnabrück gebracht. Um die Polizei nicht auf sich aufmerksam zu machen, spannte er an der Haster Mühle die Hunde aus und zog den Handwagen allein weiter zur Johannisstraße, wo ihm Osnabrücker Genossen die Kisten abnahmen und ihren Inhalt weiter verteilten.

Nachruf der Bramscher SPD zu Wilhelm Wiemanns Tod im Jahre 1925 (Repro: Herbert Holstein)

Wilhelm Wiemann stirbt am 30. Oktober 1925 in Hesepe bei Bramsche. Die Bramscher SPD würdigt in einem Nachruf ausdrücklich seine Verdienste als „Gründer der hiesigen Partei- und Arbeiterbewegung“.

Die rote Fahne der Bramscher SPD

Eine wichtige Rolle mit Symbolkraft spielte die rote Fahne der Bramscher SPD, die im Rahmen einer Festveranstaltung am 24. August 1873 feierlich geweiht wurde. „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ wurde als Motto gewählt, obwohl es eigentlich „die Losung der bürgerlichen Revolutionen von 1789 und 1848 gewesen war, die im Verständnis der bürgerlichen Aufklärung des 18. Jahrhunderts für alle Menschen gelten sollte“, wie Heinz Aulfes in seiner Chronik feststellt. Mit Fortschreiten der industriellen Revolution zeigte sich in der Praxis aber, dass es dem Bürgertum in erster Linie um die Freiheit der Kapitalisten im Kampf gegen die Interessen der entstehenden Fabrikarbeiterschaft ging. Die bürgerlichen Freiheitsrechte wollte man den Proletariern aber nicht zugestehen. Erst unter Lassalle forderten die sich ihrer recht- und besitzlosen Lage bewusstgewordenen Arbeiter nunmehr im Kampf gegen das Bürgertum Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Die Bramscher Genossen um Wilhelm Wiemann schrieben folgerichtig das Motto auf ihre Fahne, die als eine der ältesten, wenn nicht als gar die älteste Parteifahne in Deutschland gilt. Auf der Fahne aus rotem Seidentuch sind außerdem das Datum der Fahnenweihe und die Insignien des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins zu lesen.

Die Gelder für die Anfertigung der Fahne waren durch freiwillige Spenden und Sammlungen – bei Verlobungen, Hochzeiten und Kindtaufen – aufgebracht worden. Auch in den Zusammenkünften wurde fleißig dafür gesammelt. Die Rührigkeit der ersten Anhänger der Bewegung war dem Bürgertum und den Unternehmern recht unangenehm. Ein Bramscher Textilunternehmer soll am Tage nach der Fahnenweihe zu seinen Arbeitern gesagt haben: „Was wollt ihr denn mit dem Fetzen; verkauft doch das Ding!“ Wilhelm Wiemann berichtete aber mit Stolz, dass die Arbeiterschaft die Fahne stets in Ehren gehalten habe, „und wenn machtvoll für das Recht der Schaffenden demonstriert wurde, wurde sie vorangetragen. Manchem erprobten Kämpfer gab sie das Geleit zur letzten Ruhestätte.“

Parteifahne der SPD Bramsche von 1873 (Foto. SPD Bramsche)Parteifahne der SPD Bramsche von 1873 (Foto. SPD Bramsche)

In der Folge hat es unter anderem mit Bismarcks Sozialistengesetz von 1878 oder dem Parteiverbot durch die Nazis, um nur 2 Beispiele zu nennen, viele Versuche gegeben, die SPD aufzulösen oder gar zu zerstören. Nach der Auflösung des Arbeitervereins 1878 sollte die Bramscher Fahne von der preußischen Polizei beschlagnahmt werden. Doch bevor sie ausfindig gemacht werden konnte, wurde sie von Wilhelm Wiemann abgeholt und immer wieder versteckt, so dass sie von der Obrigkeit nicht gefunden wurde. Bei einem Brand des Hauses von Wilhelm Wiemann wäre sie beinahe vernichtet worden, konnte jedoch in letzter Minute noch vor den Flammen gerettet werden. 1933 waren es die Gestapo-Schergen, die der Fahne auf der Spur waren. Doch auch dieses Mal hatten die Bramscher Genossen ihre Parteifahne, in ein Sofakissen eingenäht, in Sicherheit gebracht. Später versteckte man sie in einem doppelten Boden eines Kleiderschrankes. Sie hat alle Widrigkeiten überdauert und wird heute im Parteibüro der Bramscher SPD in einer eigens dafür angefertigten Glasvitrine aufbewahrt. Bei besonderen Anlässen, wie jetzt auch beim 150jährigen Jubiläum der Bramscher SPD, wird sie herausgeholt und als Symbol der Sozialdemokratie mit berechtigtem Stolz präsentiert.

Einladung mit Programm zur 150-Jahrfeier der Bramscher SPD am 5. August 2022 (Repro: Dieter Przygode)Einladung mit Programm zur 150-Jahrfeier der Bramscher SPD am 5. August 2022 (Repro: Dieter Przygode)

 

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