Donnerstag, 25. April 2024

Heiko Schulze: Gedanken zum Kurs einer rot-grün-gelben Ampelkoalition

Kater nach Sondierungsrausch?

Keine Angst! Es folgt hier nicht die Suche nach Haaren in einer frisch gebrühten Suppe, deren Rezeptur gerade erst bekannt wurde und die noch mitsamt eines Löffels aufgetragen werden muss.

Dennoch: Das 12-seitige „Sondierungspapier“ der wahrscheinlichen neuen Bundesregierung sollte gut gelesen sein. Denn neben die Freude an einem sichtbaren Aufbruch jenseits der Merkel-eigenen Pfründenverwaltung und Mehltauverbreitung mischt sich so manch bittere Erwartung.
Nun aber der Reihe nach! Und zwar mit besonders ausgewählten Themen, um Endloszeilen zu verhindern.
Beginnen wir doch mal positiv:

Aufbruch statt Pfründenwirtschaft
Seit 2005 schien der Hauptsinn einer Unions-geführten Regierung stets darin zu bestehen, zu verwalten, Türen für das Anklopfen potenter Interessenorganisationen aufzuhalten, sich am Ende gar – siehe Masken- oder Aserbaidschan-Affären – private Tantiemen zu erwirtschaften. Etliche, durchaus mögliche Fortschritte, die aus prall gefüllten Schubladen sozialdemokratisch geführter Umwelt- oder Sozialministerien kamen, versandeten allesamt im Merkel-Nirwana. Dass sich die CDU-Kanzlerin in Harvard für SPD-Erfolge wie Mindestlohn, Kurzarbeitergeld und die gleichgeschlechtliche Ehe feiern ließ, bildete den makabren Höhepunkt des Null-Profils der Union. Lediglich die CSU forderte Eigentümlichkeiten wie „Ausländermaut“ oder „Herdprämie“, die schneller von zuständigen Gerichten kassiert wurden, als dies bajuwarische Chefstrategen erahnen konnten.
Dass die Union, deren Protagonisten in Ministerehren wie Scheuer, Spahn, Altmeier, Klöckner, Seehofer bis hin zu Karliczek allenfalls zu eher sinnlosen Suchanzeigen nach persönlichen Arbeitsbilanzen taugen, bei der Bundestagswahl kein Viertel der Wählerschaft mehr erreicht hat, lässt Freude aufkommen und den Glauben an Gerechtigkeit hochschnellen. Ob es mit der ebenfalls eng mit der Lobby-Welt verstrickten FDP besser wird? Zumindest nicht schlimmer.

Klimaschutz: zumindest ernstgenommen …
Nahezu der gesamte Neubau im Gebäudebestand, bei Unternehmen gar verpflichtend, soll mit Solardächern ausstaffiert, zwei von hundert Quadratmetern Fläche auf dem Lande soll mit Windrädern bestückt werden – ergänzend zu mehr Windmühlen auf Meereswasser. Das 1,5-Grad-Ziel des Pariser Klimaabkommens soll als „zentrale gemeinsame Aufgabe“ angegangen werden. Jedes Ministerium muss weiter nachweisen, hier im Soll zu bleiben. Zu den milliardenschweren Investitionen, die all dies und mehr begleiten müssen, kommen wir noch.

12 Euro Mindestlohn
Der bis zur letzten Sekunde von allen bürgerlichen Parteien und neoliberalen Dogmatikern verteufelte, zumindest existenzsichernde Mindestlohn wird kommen! Schon die damaligen Untergangsszenarien marktradikaler Ideologen alias Hans-Werner Sinn waren durch den umkämpften, dennoch zu geringen Mindestlohn von damals 9 Euro eindrucksvoll widerlegt worden. Dies dürfte auch jetzt geschehen – soweit eine zuständige Kommission die jährlichen Anpassungen problemgerecht vornimmt. Verbessert werden sollen Mini-Jobs mit tariflicher Vergütung. Verhindert werden soll die Umwandlung von Vollzeitstellen in Mini-Jobs. Schaumermal.

Kein Rentendesaster
Entgegen früheren Ideen seit Kanzler Schröder soll vier Jahre lang der Grundsatz gelten, dass es weder eine Rentensenkung noch eine Erhöhung des Renteneintrittsalters gibt.
Und die Finanzierung der Kosten, die einen erheblichen Teil des Bundeshaushalts umfasst? Sie folgt, auch hier, im Problemteil am Ende dieses Kommentars.

Digital statt Kupfer
Es ist Jahrzehnte her, da hielt ein CDU-Kanzler Helmut Kohl Datenautobahnen für ein in Beton gegossenes Routenproblem des Bundesverkehrsministeriums. Dafür sorgte der gute Mann in enger Abstimmung mit Freund Leo Kirch von SAT 1 dafür, dass die BRD schnellstens mit Privatfernsehen-tauglichen Kupfer- statt Glasfaserkabeln unterbuddelt wurde. Dass die deutsche Digitalisierung heutzutage noch hinter Vietnam zurückhängt, hat viel mit dem damals ausgelösten Dauerschlaf zu tun. Gut wie überfällig, dass Digitalisierung fortan einen Teil des Modernisierungsprogramms ausmachen soll.

Cannabis statt Knast
Die Spatzen pfeifen es von den Dächern: Wenn schon Drogen mit Todesdrohung wie Tabak und Alkohol im Handel zu haben sind, dann werden es wohl bald auch die sogenannten weichen Drogen sein. Eine Schizophrenie, die Deutschlands Drogenpolitik über Jahrzehnte bestimmt hat, landet auf dem Müllhaufen der Geschichte. Gut so.

Mehr Zivilgesellschaft, mehr Mitsprache – und ein Wahlrecht ab 16!
Neue „Formen des Bürgerdialogs“ wie „Bürgerräte“ sind anskizziert und versprechen eine konkrete Füllung zugunsten einem Mehr an Mitsprache. Im Berufsleben will man die Mitbestimmung, konkretisiert ist das allerdings noch nicht, „weiterentwickeln“.
Epochal ist das anvisierte Wahlrecht für die Bundestags- und EU-Parlamentswahlen. Ab 16 sollen junge Leute zukünftig an die Wahlurnen treten können. Fridays for Future bekäme in Gänze Wahlrecht! Angesichts der demografisch bedingten, dramatisch gesunkenen Anteile junger Menschen am Wahlvolk könnte dies ein Quantensprung sein. Nur: Gewinnt man Unionsabgeordnete für eine Zweidrittelmehrheit?

Kinderrechte gestärkt
Ein Epochenschritt kann die künftige Verankerung für „starke Kinderrechte“ im Grundgesetz sein. Zumal hier aber im Parlament das Ja der Unionsabgeordneten aufgrund der nötigen Zweidrittelmehrheit zu erwarten ist, steht alles natürlich in den Sternen. Auf jeden Fall kommen soll ein schulischer Digitalpakt und ein neues Kindergrundsicherungsmodell. Die katastrophale, vor allem durch Hartz 4 ausgelöste Kinderarmut wird zumindest zart angegangen.

Wohnungsbau
400.000 neue Wohnungen sollen fortan pro Jahr in Kooperation mit den Bundesländern entstehen. 100.000 davon sollen öffentlich gefördert werden. Wissen muss man dabei allerdings, dass es derzeit nur gut 1 Million Sozialwohnungen gibt. 2002 waren es noch mehr als doppelt so viele gewesen, was erheblich zum aktuellen Mietendesaster beigetragen hat. Ob die Zielvorgabe des Sondierungspapiers nur etwas mehr Wassertropfen für den berühmten heißen Stein bedeutet, dürfte jetzt von Bewegungen an der Basis, siehe Berliner Votum zur Enteignung von Profit-Konzernen, abhängen.  Mieterschutzregelungen, eh nur bescheiden vorhanden, will man zumindest „evaluieren und verlängern“. Einen Push für den Wohnungsbau erhofft man sich von einer „neuen Wohngemeinnützigkeit“.

Migration und Zuwanderung
Überfällig ist die endlich festgeschriebene, von der Union über Jahrzehnte negierte Erkenntnis, dass Deutschland ein „Einwanderungsland“ ist. Ein auf Rechtssicherheit basierender Aufenthaltsstatus wird hoffentlich in Zukunft die Seehofersche Praxis unterbinden, gut integrierte Familien mit fester Arbeitsplatzbindung in ferne Länder abzuschieben. „Spurwechsel“ lassen die Hoffnung zu, dass abgelehnte Asylbewerber sich auf einen neuen Weg im Zuge eines neuen Einwanderungsgesetzes machen können. Erhebliche Fragen wirft allerdings jenes „Punktesystem“ auf, das neue Einwanderung fest an berufliche Qualifikationen knüpft. Welchen Sinn macht es, armen Staaten Ärzte und Ingenieure zu entziehen, sobald Einreisende, auch ohne politische, religiöse oder kulturelle Verfolgung, solche „Punkte“ auflisten können?

Aufrüstung oder Friedenspolitik?
Mehr Geld soll in eine verbesserte Ausrüstung der Truppe wie in die Bundeswehr insgesamt gepumpt werden. Ein Hinweis auf das unsägliche Zweiprozentziel des Bruttoinlandsprodukts, das eine gigantische Aufrüstung beinhalten würde und von der Union gebetsmühlenhaft gefordert wird, fehlt allerdings erfreulicherweise. Gleichwohl bekennt man sich am Ende dazu, eine „restriktive Rüstungsexportpolitik“ ebenso einzuleiten wie eine „abrüstungspolitische Offensive“. Ob dies mit säbelrasselnden NATO-Staaten möglich ist, wird die Zukunft zeigen.

Bittere Pillen
Anknüpfend an derart bedenkliche, oben bereits angedeutete Punkte soll nun abschließend die Auflistung einiger „Zumutungen“ (Habeck) folgen, die Vorfreude auf ein echtes Erneuerungsprogramm mehr als eindämmen.

Finanzplanung der Marke Voodoo
Dass eine steuerliche Mehrbelastung gigantischer Einkommen mit der FDP ebenso wenig zu machen ist wie die überfällige Einführung einer Vermögenssteuer bis hin zu einer erneuerten Erbschaftssteuer, sollte jeder wissen, der mit der Lindner-Partei ins Koalitionsbett steigt. Gleichzeitig verheißt das angedachte Regierungsprogramm gigantische Infrastruktur-, Bildungs-, Sozial- und Umweltinvestitionen. Zudem ist die gigantische Aufgabe angerissen, bedrohte Kommunen zu entschulden.
Gemäß neoliberaler Ideologie steigen Steuererträge des Staates, sobald sich eine relativ unbelastete Wirtschaft frei entfalten kann. Kevin Kühnerts Spruch von der „Voodoo-Ökonomie“ trifft eine solche Ideologie ziemlich haargenau.
Zudem soll die grundgesetzlich fixierte Schuldengrenze, die in Staaten wie USA und Japan undenkbar wäre und jedes massive Öko- und Sozialprogramm verhindert, weiter gelten. Green Deal mit schwarzer Null? Wohl eher ein Fantasieprodukt.

Tempolimit abgelehnt
Auch unter der neuen Bundesregierung soll Deutschland auf Autobahnen seinen weltweit einzigartigen Weg einer „Freien Fahrt für freie Bürger“ weiter beschreiten. Dass dies ein Mehr an CO2-Emissionen und mehr Verkehrsopfer beinhaltet, schien bei den Porsche-Freunden der FDP nicht als Argument zu wirken.

Zocken mit der Rentenversicherung?
Trotz der garantierten Nichtkürzung von Renten und der Beibehaltung des Renteneintrittsalters gibt es im Sondierungspapier einen Punkt, der knallrote Alarmsirenen bei all denen aufblinken lässt, die nicht, wie FDP-Menschen, an die Seligmachung von Spekulationsgewinnen auf dem Kapitalmarkt glauben.
Wörtlich heißt es: „Wir werden der Deutschen Rentenversicherung auch ermöglichen, ihre Reserven am Kapitalmarkt reguliert anzulegen.“ Nur zur Erinnerung: Die gesetzliche Rentenversicherung hat mittlerweile zwei Weltkriege und hohe Inflationsraten einigermaßen überstanden. Steht das jetzt auf der Kippe, weil Rentner plötzlich Börsenberichte studieren müssen?

Weiter mit der Zweiklassenmedizin
Eine Kranken- wie Altersversicherung, in der alle, gemessen an ihren Möglichkeiten einzahlen wird es auch fortan mit der FDP nicht geben. Auch bis 2025 gibt es somit zwei Kategorien von Menschen, was in der Gesundheitsversorgung Nachteile für Kassenpatienten festschreibt und eine mögliche Bürgerversicherung, in die auch Besserbetuchte einzahlen, für weitere Jahre verhindert.
„Weiterentwickeln“ wollen die Möchtegern-Koalitionäre die Fallpauschalen im Krankenhauswesen, die weitere Krankenhausschließungen in hoher Zahl sowie mehr oberflächliche Einzelbehandlungen mit minimaler Verweildauer bedeuten können.

Weiter mit Hartz 4 – nur mit neuem Etikett?
„Bürgergeld“ soll sich das – dann ehemalige – „Hartz 4“ nennen. Was den Ankündigungen von mehr Wahrung der Menschenwürde, Unkompliziertheit, mehr Zuverdienstmöglichkeiten, Prüfaufträgen in Sachen Schonvermögen und Wohnungsgröße, vor allem Rückkehrangeboten in den Arbeitsmarktfolgen wird, bleibt skeptisch abzuwarten. Ein Fortbestand der verklausulierten „Mitwirkungspflichten“ lässt befürchten, dass Sanktionen zur Senkung des kargen Geldes auch weiter möglich sind.

Kurzum:
Jeder Neustart hat eine Chance verdient. Aber die Risiken dieses Neustarts sollten von Beginn an klar benannt werden.

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