Freitag, 29. März 2024

Sonntag, 12.00 Uhr: Bernhard Schulz mit Fritz Wolf – „Es war sein einziges Eigentum“ (1963)

Bernhard Schulz (1913 – 2003) war ein Osnabrücker Autor, der keinen Vergleich zu scheuen braucht: 24 Bücher und fast 2.400 (!) Kurzgeschichten sind seit 1934 erschienen. Letztere fanden sich in Zeitungsausgaben, Anthologien und Sammelbänden und sind ein Stück Zeitgeschichte. Nach Auffassung der OR-Redaktion ist dieser markante Schreiber zu Unrecht in Vergessenheit geraten, dessen Geschichten hin und wieder von seinem Freund Fritz Wolf mit einer Karikatur begleitet wurden. Die Ergebnisse sind auch ein Spiegelbild des damaligen, heute oft äußerst befremdlich wirkenden Zeitgeistes. Ein Link zu früheren Folgen und Anmerkungen zu dieser exklusiven OR-Serie am Ende des Textes.Bernhard Schulz

Es war sein einziges Eigentum (1963)
(Links zu früheren Folgen und Anmerkungen zu dieser exklusiven OR-Serie am Ende des Textes)

„Hast du deine Zahnbürste eingesteckt?“ fragte die Frau.

Der Junge wandte den Kopf vom Fenster und antwortete: „Jawohl, Tante.“

„Hör mir einmal gut zu, Jürgen. Ich bin keine Tante. Ich heiße Frau Smilinski. Ich möchte, dass du dir den Namen einprägst. Wie heiße ich?

„Frau Smilinski“, sagte der Junge wie von einer Metallfeder aufgezogen, und es klang trocken und abweisend.

Die Frau stand auf und legte ihre Kostümjacke ab. Dann nahm sie aus dem Gepäcknetz eine Aktentasche und öffnete sie auf ihren Knien. Sie zögerte eine Weile, bevor sie sich entschloss, der Tasche ein Aktenstück zu entnehmen. Das Aktenstück war in einen blauen Hefter eingebunden.

Der Junge, der Jeans, Turnschuhe und Pullover trug, mochte etwa zehn Jahre alt sein. Er warf keinen Blick auf die Aktentasche und das Schriftstück. Er starrte mit einem seltsam trüben, geistesabwesenden Ausdruck über die Felder, an denen die Eisenbahn vorüberfuhr. Auf den Feldern standen Getreidehocken, eine neben der anderen in langen Reihen, Brot für den Winter, der vor uns lag.

Ich saß dem Jungen gegenüber, mit einem Buch in der Hand, und beobachtete das Kind, während Frau Smilinski in dem blauen Hefter blätterte, wobei sie gelegentlich einen schmalen Blick auf ihren Schützling warf. Keine Dummheit, hieß das, bitte jetzt keine Dummheit.

„Jürgen, dies ist jetzt die vierte Anstalt, in die du eingewiesen wirst“, sagte die Frau, „wie erklärst du dir das? Du machst überall Schwierigkeiten. Sie mögen dich nicht und sind froh, wenn sie dich abschieben können. Das muss doch nicht sein, Junge. Ich bringe dich jetzt in ein Fürsorgeheim. Der Leiter soll sehr streng sein. Du musst dich zusammenreißen und dir vornehmen, ein artiger Junge zu sein. Nur artige Kinder werden es im Leben zu etwas bringen- und das willst du doch, nicht wahr?“ Der Junge sagte: „Jawohl, Tante.“

„Du sollst mich nicht Tante nennen. Ich habe dir gesagt, wie ich heiße. Ich heiße Frau Smilinski. Du musst dir den Namen einprägen.“

Frau Smilinski richtete sich kerzengerade auf und schaute von oben auf den Jungen herab. Dabei ließ sie das Aktenstück auf ihrem Schoß liegen, sodass ich die Beschriftung lesen konnte. Jürgen Winter, das war der Name des Jungen. Vollwaise, stand da, Eltern unbekannt.

Ich hätte gerne mehr erfahren. Ich fragte mich, was ein Kind erleidet, das von den Eltern weggeworfen wird. Dieser blaue Hefter enthielt die Berichte über die charakterlichen Eigenschaften des Jürgen Winter. Es enthielt seine Schulzeugnisse, seine Impfbescheinigungen und eine Liste der Kleidungsstücke, die er trug.

Dort auf den Knien von Frau Smilinski, dieser xbeliebigen Transportbegleitperson, lag zur Akte verdickt das Schicksal eines zehnjährigen Knaben, der ohne Eltern und Geschwister in Waisenhäusern und Heimen aufgewachsen war. Ein Schicksal in Zahlen und Buchstaben, in Behördenpapier und Erziehersprache, in Protokollen und Gutachten. Der Vormund hatte es an nichts fehlen lassen, außer an Wärme.

Was hatte der Junge angestellt? Hatte er gelogen, gestohlen, sein Bett in Brand gesetzt? Hatte er die Suppe auf den Fußboden geschüttet? Hatte er um sich geschlagen und jemanden verletzt?

Ich schaute mir Frau Smilinski an. Eine knochige, hagere Person Ende der Vierzig, eine Frau mit herben Falten um den hart zusammengekniffenen Mund. Ihr war anzusehen, dass sie es nicht leicht gehabt hatte. Den Transport schwer erziehbarer Kinder zu bewältigen, war das ihr erlernter Beruf? Vielleicht hat am Beginn ihrer Laufbahn, dachte ich, doch die Liebe gestanden. Aber sie ist keine Mutter geworden, das Leben hat aus ihr eine Aufseherin gemacht, die schwer erziehbaren Kindern Respekt einflößen muss.

Weder Schmuck noch Farbe gaben dieser Person etwas Frauliches. Auch an diesem sommerlichen Tag, an dem Getreide geerntet wurde, blieb sie mit ihrem Herzen an Gitterstäben und Schriftstücken hängen. Sie gab sich sehr viel Mühe, aufrecht zu wirken und herabzuschauen, oh ja.

Herabzuschauen auf wen? Auf diesen Jürgen Winter, der ein mutterloses Lamm war, ein verstoßenes Kind, ein Menschenjunges, das in seinem ganzen Leben auch nicht den Anhauch von Liebe gespürt hatte. Und nun wurde er einem Anstaltsleiter zugetrieben, der womöglich noch härter, noch entschlossener, noch erfolgloser war als die Herren, die bisher über ihn befunden hatten. Was weiß denn ein Mann wie ich, der dabeisitzt und sich langweilt, mit einem Buch in der Hand, das ihm als Ausrede dient? Frau Smilinski, das Waisenkind und mich hat in der Eisenbahn doch nur der Zufall zusammengebracht.

„Du hast zwei Paar Socken mitbekommen“, sagte Frau Smilinski “wo hast du sie? Die Socken gehören dem Heim, das weiß du hoffentlich.“

Der Junge rückte ein wenig zur Seite und deutete auf einen Pappkoffer, an den er während der Fahrt seinen Körper gepresst hatte, als enthielte der Koffer mit seinen abgestoßenen Kanten einen Schatz von unnennbarem Wert.

„Gut“, sagte Frau Smilinski zufrieden und steckte den blauen Hefter in die Aktentasche zurück. Sie wollte die Socken nicht sehen, jedenfalls nicht jetzt und auf der Stelle.

Und jetzt geschah etwas Merkwürdiges. Frau Smilinski, die gespürt haben mochte, dass ich neugierig war, wandte sich an mich als an einen Reisenden, der ebenfalls die Eisenbahn benutzt um voranzukommen, und sagte: „Entschuldigen Sie bitte, wenn ich Sie in der Lektüre störe. Ich möchte den Toilettenraum aufsuchen. Darf ich Sie bitten, auf den Jungen zu achten. Er heißt Jürgen. Der Junge darf seinen Platz nicht verlassen. Er besucht jetzt ein schönes Heim, in dem er mit den anderen Jungens Fußball spielen kann, nicht wahr, Jürgen?“ Bei diesen Worten lächelte sie den Jungen sauersüß an. Sie ahnte wohl nicht, dass ich die Beschriftung des blauen Hefters entziffert und den Zusammenhang begriffen hatte.

„Selbstverständlich“, sagte ich, „lassen Sie sich Zeit.“ Ich legte das Buch aus der Hand und richtete mich kerzengerade auf, als sei ich gewillt, die Rolle des Aufpassers zu spielen.

Der Junge schaute mich an, wie Kinder den neuen Lehrer abschätzen; es war ein Blick gemischt aus Misstrauen und Gleichgültigkeit. Sobald Frau Smilinski die Tür hinter sich hörbar verriegelt hatte, ließ ich die Maske fallen und sagte: „Ich gebe dir meine Adresse. Schreib mir mal, wie es dir im Heim gefällt. Vielleicht kann ich etwas für dich tun.“ Das sagte ich, und ich dachte daran, ihm einen Fußball zu schicken, wenn ich seine Anschrift besäße, aber Jürgen hörte gar nicht zu. Er ließ mich reden und hielt mich für einen Quatschkopf oder was. Er hatte etwas Anderes vor, etwas Verbotenes, und das setzte er jetzt in die Tat um.

Mit einem flinken Griff zog er den schäbigen Koffer auf seine Knie, ließ die Verschlüsse aufschnappen, klappte den Deckel hoch, griff nach einem Bündelchen Lumpen und drückte es fest an seine Wange. Das Bündelchen Lumpen war eine Puppe, ein in Stunden der Einsamkeit geschaffenes Monstrum. Ersatz für einen Bruder. Ersatz für eine Schwester. Ersatz für Liebe.

Jürgen schloss die Augen und lächelte vor sich hin. Sein Gesichtsausdruck hatte sich in Sekunden verändert. Er war glücklich. Seine Sinne waren jedoch scharf genug, um den harten Schritt der Aufseherin wahrzunehmen. Ebenso blitzschnell, wie er das Püppchen hervorgeholt hatte, ließ er es verschwinden.

Seine Augen starrten wieder ausdruckslos ins Leere. Ängstlich presste er seinen Körper an den Koffer, der das Püppchen barg. Es war sein einziges Eigentum.


Anmerkungen zu dieser exklusiven OR-Serie

Bernhard Schulz (1913 – 2003) dürfte ein Osnabrücker Autor sein, der nicht nur in seiner Heimatstadt wahrhaftig keinen Vergleich zu scheuen braucht: Stolze 24 Bücher und fast 2.400 (!) Kurzgeschichten sind seit 1934 erschienen. Letztere fanden sich in Zeitungsausgaben, Anthologien und Sammelbänden. Völlig zu Unrecht, das ist zumindest die Auffassung der OR-Chefredaktion, ist dieser markante Schreiber heutzutage fast in Vergessenheit geraten.

Eine bemerkenswerte Resonanz erfuhr in der Osnabrücker Rundschau eine Reportage von Heiko Schulze, der sich Anfang Juli dieses Jahres mit dem reichhaltigen Wirken des Osnabrücker Journalisten und Schriftstellers auseinandergesetzt hat. Dies nebenbei nicht ohne Anlass: Wie Hans Wunderlich, Josef Burgdorf oder Karl Kühling zählte Schulz anno 1946 zum Redaktionsteam der damaligen Osnabrücker Rundschau, der leider nur ein kurzes Zeitungsleben zuteil wurde.

Redakteur Bernhard Schulz mit der OR-Erstausgabe vom 1. März 1946Redakteur Bernhard Schulz mit der OR-Erstausgabe vom 1. März 1946

Ganz im Gegensatz zu Bernhard Schulz hat es sein enger Freund Fritz Wolf (1918-2001) bis heute in die Ahnengalerie von solchen Osnabrückerinnen und Osnabrückern geschafft, die über Jahrzehnte, von der NOZ bis zum Stern, erfolgreich versucht haben, den deutschen Zeitgeist textlich oder zeichnerisch zu spiegeln. Immer wieder ergeben sich bis heute aktuelle Anlässe, um an den Meister des feinen Federstrichs mit seinen stets liebevoll in Szene gesetzten Prominenten zu erinnern.

Sohn Ansgar und Bernhard SchulzSohn Ansgar und Bernhard Schulz
Bernhard Schulz und Fritz Wolf 1951Bernhard Schulz und Fritz Wolf 1951

Kurzum: Anlässe genug, fortan eine neue OR-Serie zu starten, in der ausgewählte Kurzgeschichten von Bernhard Schulz mitsamt ihrer zeichnerischen Begleitung durch Fritz Wolf vorgestellt werden. Herzlich gedankt sei an dieser Stelle Ansgar Schulz-Mittenzwei, der die neue Serie im vertrauensvollen Kontakt zur OR-Redaktion erst ermöglicht hat und der bis heute in liebevoller Weise das literarische Erbe seines Vaters verwaltet.

Alle Schulz-Geschichten sowie etliche Wolf-Zeichnungen besitzen eine einzige Quelle, die in jüngster Zeit, ebenfalls durch das entscheidende Mitwirken seines Sohnes Ansgar, erscheinen konnte. Entnommen sind sie nämlich dem Schulz-Buch „Den Löwenzahn zermalmt nicht die Kesselpauke oder Hinwendung zur Geborgenheit. 200 kurze Geschichten der Jahre 1945-1965.“ Das kompakte Werk ist im Buchhandel (beispielsweise bei Wenner), online oder direkt über die Website www.BernhardSchulz.de erhältlich.




Alle bislang in der OR erschienenen Geschichten gibt es hier.
Neugierigen seien darüber hinaus diese Internetseiten ans Herz gelegt:
Webseite von Bernhard Schulz
Wikipedia über Bernhard_Schulz 
Webseite Fritz Wolf
Interview mit Ansgar Schulz Mittenzwei, dem Sohn von B. Schulz

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