Bernhard Schulz
„Festakt im Regen“ (1964)
(Links zu früheren Folgen und Anmerkungen zu dieser exklusiven OR-Serie am Ende des Textes)
Wenn ich von meinem Schreibtisch ans Fenster gehe, um nachzuschauen, ob der Regen nachgelassen hat, werfe ich immer auch einen Blick auf die Baustelle dort unten. Es ist eine Baustelle, die von der für Baustollen zuständigen Behörde als Dauerbaustelle eingerichtet wurde.
Diese Behörde sorgt dafür, daß die Straße in regelmäßigem Abstand aufgerissen und wieder zugeschüttet wird. Aufgerissen, zugeschüttet. Aufgerissen, zugeschüttet. Und so weiter. Damit diese Bemühungen in-den Augen der Bürger einen Sinn erhalten, werden entweder Telefonkabel oder Gasrohre verlegt, und wenn genügend Telefonkabel und Gasrohre in der Erde sind, legt man den elektrischen Strom oder das chemisch gereinigte Wasser hinein.
Das Gute an dieser Sache ist immerhin, dass eine Anzahl von Gastarbeitern dabei das tägliche Brot findet. Die Herren kommen aus Sizilien, und sie gehorchen einem Vorarbeiter, der Cesare heißt und wie ein Statist in einem Film von Fellini aussieht. Dieser Cesare geht an der Baustelle auf und ab und erklärt seinen Landsleuten, wie es gemacht werden soll.
Wenn es regnet, und es regnet fast immer, stülpen sich die Sizilianer einen Sack über den Kopf, und auf diese Weise sehen sie aus wie Kapuzenmänner, die sich soeben aus dem Innern der Erde bis vor unsere Haustüre durchgebuddelt haben. Die Kapuze gibt ihnen etwas Gnomenhaftes und Schalentierartiges. Sie sehen gar nicht mehr wie Sizilianer aus, die doch Kinder der Sonne sind und den Regen nicht scheuen. Aber sie sind immer guter Dinge, und sie singen sogar bei der Arbeit, was sonst niemand tut.
Ich mag diese Menschen gern. Sie besitzen noch den Sinn für das einfache, heitere Leben. Jedes Mal, wenn ein junges Mädchen vorübergeht, hören sie auf zu arbeiten, stützen sich auf ihre Schaufeln und träumen von der fernen Heimat, in die sie eines Tages mit einem Auto zurückkehren wollen.
Mit der Heimat vorbindet sie vorerst nur der Postbote. Der Postbote kommt gegen Mittag in ihre Unterkunft und bringt Briefe und Päckchen, und wenn etwas Besonderes dabei ist, dann macht jemand, der aus irgendeinem Grunde nicht arbeiten kann und daheim geblieben ist, den Weg zur Baustelle und gibt die Sendung ab.
Heute Morgen zum Beispiel ist wieder etwas Besonderes angekommen. Ein Mann, der einen Arm in der Binde trägt, kommt im Laufschritt herbei und schwenkt schon von Weitem einen Brief in der Hand. „Alberto“, ruft er, „Alberto!“ Es ist offensichtlich, dass Alberto eine wichtige Nachricht empfangen soll.
Im Nu versammeln sich alle Männer um Alberto, einen jungen Mann, der völlig bewegungslos verharrt und sich nicht einmal dem Überbringer der Botschaft zuwendet. Er macht die Augen zu und schlägt das Kreuzzeichen. Seine Lippen bewegen sich wie im Gebet, Mamma mia und die Hände klammern sich an den Schaufelstiel. Er sieht in dieser Minute wie ein Hirte aus, der sich damit abfinden muss, ein Schaf entweder verloren oder gewonnen zu haben.
Aber hier handelt es sich um Gewinn. Der Mann mit dem Arm in der Binde bleibt vor Alberto stehen, reißt mit den Zähnen das Schreiben aus dem Umschlag und liest vor: „Caro mio Alberto…“ Schon nach wenigen Sätzen erhebt sich großer Jubel. Albertos Augen leuchten.
Er blickt sich stolz im Kreise seiner Kameraden um und steigt aus der Grube, um den Brief in Empfang zu nehmen.
„Alberto Papa!“ verkündet Cesare den deutschen Zuschauern, „Alberto prima!“
Dann heben sie den jungen Vater auf ihre Schultern und tragen ihn eine Weile umher. Da sie jedoch nicht bis Sizilien gelangen können und das Umhertragen im Regen sinnlos ist, setzen sie ihn vor Igelbrincks Feinkostgeschäft wieder ab, und Cesare stiftet Geld für eine Flasche Chianti, die bei Igelbrincks im Schaufenster steht.
Dieser Ausbruch von Fröhlichkeit vor meinem Fenster, dieses Vergnügen an der Ankunft eines Kindes, dieser Dauerbaustellengalafestakt für einen liebenswerten Vater, erfüllt einen Nachmittag lang die aufgerissene Straße mit Glück.
Man sollte öfter aus dem Fenster schauen.
Anmerkungen zu dieser exklusiven OR-Serie
Bernhard Schulz (1913 – 2003) dürfte ein Osnabrücker Autor sein, der nicht nur in seiner Heimatstadt wahrhaftig keinen Vergleich zu scheuen braucht: Stolze 24 Bücher und fast 2.400 (!) Kurzgeschichten sind seit 1934 erschienen. Letztere fanden sich in Zeitungsausgaben, Anthologien und Sammelbänden. Völlig zu Unrecht, das ist zumindest die Auffassung der OR-Chefredaktion, ist dieser markante Schreiber heutzutage fast in Vergessenheit geraten.
Eine bemerkenswerte Resonanz erfuhr in der Osnabrücker Rundschau eine Reportage von Heiko Schulze, der sich Anfang Juli dieses Jahres mit dem reichhaltigen Wirken des Osnabrücker Journalisten und Schriftstellers auseinandergesetzt hat. Dies nebenbei nicht ohne Anlass: Wie Hans Wunderlich, Josef Burgdorf oder Karl Kühling zählte Schulz anno 1946 zum Redaktionsteam der damaligen Osnabrücker Rundschau, der leider nur ein kurzes Zeitungsleben zuteil wurde.

Ganz im Gegensatz zu Bernhard Schulz hat es sein enger Freund Fritz Wolf (1918-2001) bis heute in die Ahnengalerie von solchen Osnabrückerinnen und Osnabrückern geschafft, die über Jahrzehnte, von der NOZ bis zum Stern, erfolgreich versucht haben, den deutschen Zeitgeist textlich oder zeichnerisch zu spiegeln. Immer wieder ergeben sich bis heute aktuelle Anlässe, um an den Meister des feinen Federstrichs mit seinen stets liebevoll in Szene gesetzten Prominenten zu erinnern.


Kurzum: Anlässe genug, fortan eine neue OR-Serie zu starten, in der ausgewählte Kurzgeschichten von Bernhard Schulz mitsamt ihrer zeichnerischen Begleitung durch Fritz Wolf vorgestellt werden. Herzlich gedankt sei an dieser Stelle Ansgar Schulz-Mittenzwei, der die neue Serie im vertrauensvollen Kontakt zur OR-Redaktion erst ermöglicht hat und der bis heute in liebevoller Weise das literarische Erbe seines Vaters verwaltet.
Alle Schulz-Geschichten sowie etliche Wolf-Zeichnungen besitzen eine einzige Quelle, die in jüngster Zeit, ebenfalls durch das entscheidende Mitwirken seines Sohnes Ansgar, erscheinen konnte. Entnommen sind sie nämlich dem Schulz-Buch „Den Löwenzahn zermalmt nicht die Kesselpauke oder Hinwendung zur Geborgenheit. 200 kurze Geschichten der Jahre 1945-1965.“ Das kompakte Werk ist im Buchhandel (beispielsweise bei Wenner), online oder direkt über die Website www.BernhardSchulz.de erhältlich.
Neugierigen seien überdies diese Internet-Seiten ans Herz gelegt:
http://www.BernhardSchulz.de
https://de.Wikipedia.org/wiki/Bernhard_Schulz
http://www.Fritz-Wolf.de
Bislang in der OR erschienen:
Geschichte vom 21.11.2021
Geschichte vom 28.11.2021
Geschichte vom 05.12.2021
Geschichte vom 12.12.2021
Geschichte vom 19.12.2021
Geschichte vom 26.12.2021
Geschichte vom 02.01.2022
Geschichte vom 09.01.2022
Geschichte vom 16.01.2022
Geschichte vom 23.01.2022
Geschichte vom 30.01.2022
Bernhard Schulz (1913 – 2003) war ein Osnabrücker Autor, der keinen Vergleich zu scheuen braucht: 24 Bücher und fast 2.400 (!) Kurzgeschichten sind seit 1934 erschienen. Letztere fanden sich in Zeitungsausgaben, Anthologien und Sammelbänden. Nach Auffassung der OR-Redaktion ist dieser markante Schreiber, dessen Geschichten zumeist von seinem Freund Fritz Wolf mit einer Karikatur begleitet wurden, zu Unrecht in Vergessenheit geraten.