Freitag, 29. März 2024

Sonntag, 12.00 Uhr: Bernhard Schulz mit Fritz Wolf – „Ich bin Patient“ (1964)

Bernhard Schulz
Ich bin Patient (1964)
(Links zu früheren Folgen und Anmerkungen zu dieser exklusiven OR-Serie am Ende des Textes)

Mit meinem Knie ist etwas nicht in Ordnung. Ich habe Schmerzen, und der Hausarzt sagt, damit sei nicht zu spaßen und ich müsse einen Facharzt aufsuchen. Ein Termin wird vereinbart, und eines Nachmittags sitze ich mit Menschen, die alle miteinander schlimme Füße und Knie und dergleichen haben, im Wartezimmer eines Orthopäden. Ein Orthopäde ist ein Mann, der sich von Berufs wegen mit schlimmen Füßen, Knien und dergleichen befasst.

Ich erhalte eine Nummer, und zwar die Nummer 99, und das Wartezimmerfräulein sagt, dass ich meinen Blick auf eine Stelle über der Tür richten muss, wo eine Tafel hängt, und wenn die 99 aufleuchtet, dann bin ich an der Reihe. Es ist ein fortschrittliches Wartezimmer.

Ich habe jetzt Zeit, mir das Fräulein anzuschauen. Weil es nicht fein ist, das Fräulein nach seinem Namen zu fragen, nenne ich es Fräulein Kleiner Zeh, und ein bisschen sieht es auch so aus wie Fräulein Kleiner Zeh.

Der Patient mit der Nummer 98 sitzt neben mir. Er ist dreiundfünfzig Jahre alt, verheiratet, zwei Kinder, pensioniert und hat Wasser in den Gelenken, und der Schneider muss ihm weite Hosen anfertigen, damit er die Knie hineinbekommt. Er muss dreimal in der Woche zur Behandlung. „Die Mädchen, die dem Doktor helfen“, sagt er, „sind alle sehr nett. Da brauchen Sie keine Bange zu haben.“

Nach einer Stunde leuchtet die 99 auf. Ich erhebe mich mit meinen Knie, aber das Fräulein Kleiner Zeh sagt: „Sie sind noch nicht dran. In der Zählmaschine ist etwas kaputt. Kommen Sie bitte, wenn die Hundert aufleuchtet.“

Schön, sage ich zu mir, setz dich wieder hin, du bist kein Spielverderber, du hast das Warten schließlich gelernt. Wenn du ein kaputtes Knie hast, dann kann sich der Doktor ein kaputtes Zählmaschinchen leisten.

„Kaputt ist es immer nur bei Neunundneunzig“, sagt das Fräulein, „da hoppelt das Zählwerk, hahaha!“ Die Patienten lachen, und es ist auch zum Lachen. Ein Zählwerk, das hoppelt, hahaha.

Endlich erscheint die 100. Ich hoppele mit meinem Knie in den Nebenraum und werde von einem Fräulein, das wieder so ein Traumfräulein ist und dem ich sofort den Namen Fräulein Großer Zeh gebe, in die Kartei aufgenommen. Name, Geburtsdatum, Wohnort, Nationalität, Arbeitgeber, Krankenkasse. Lauter Bürokratisches.

„Nehmen Sie Platz auf diesem Stuhl“, befiehlt Fräulein Großer Zeh, „ich werde Sie aufrufen. Welche Nummer haben Sie?“

„Neunundneunzig“, antworte ich.

„Stimmt nicht“, sagt das Fräulein streng, „Sie haben Hundert. Das Zählwerk hoppelt bei Neunundneunzig – hat man Ihnen das nicht gesagt?“ „, Jawohl“, sage ich, „das Fräulein hat es mir gesagt, entschuldigen Sie bitte.“ Fräulein Kleiner Zeh, Fräulein Großer Zeh, und wer kommt gleich noch daher? Da muss man höllisch aufpassen, dass man es mit niemanden verdirbt. Immerhin bin ich dem Doktor ein paar Meter näher gerückt, und wie es einen so ergeht im Wartezimmer: das Knie tut fast überhaupt nicht mehr weh.

Jetzt tritt aus dem Sprechzimmer ein weiteres Fräulein und sagt: „Bitte Nummer Eins!“ Von Nummer Hundert ist überhaupt keine Rede, ich bin hier völlig unbekannt. Das Zählwerk hoppelt nicht nur, es betrügt offensichtlich. An meinem Knie vorbei schiebt eine junge Mutter fünf Kinder ins Sprechzimmer, die Einlagen bekommen sollen, weil sie Senkfüße haben. Das letzte Kind, ein dreijähriges Mädchen, streckt mir die Zunge heraus. Dieses Mädchen wird es weit bringen im Leben.

Es muss sich bei dieser Praxis um einen Arzt handeln, der adrette Mädchen sammelt und in blütenweiße Kittel steckt, um in den Herzen seiner Patienten neuen Lebensmut wachzurufen. Ich folge seiner Anregung und richte mir einen Harem ein aus medizinisch-technischen Angestellten. Fräulein Kleiner Zeh und Fräulein Großer Zeh kenne ich schon. Hinzu kommen Fräulein Senkfuß, Fräulein Spreizfuß, Fräulein Fußknöchel und Miss Kniescheibe. Miss Kniescheibe ist mein Typ. Wenn es nachher darum geht, mir Holzschrauben ins Knie zu ziehen, dann soll sie es tun.

Aber zur Untersuchung kommt es nicht mehr. Die Sprechzeit ist abgelaufen, der Doktor wird zum Abendessen erwartet. An mir vorbei eiern die fünf Senkfußkinder. Das dreijährige Mädchen feixt lebenstüchtig; es weiß, was hier gespielt wird.

„Macht es Ihnen etwas aus, wenn Sie morgen wiederkommen?“ fragt Fräulein Kleiner Zeh. „Ich gebe Ihnen die Nummer Zwei, dann sind Sie sofort dran.“ Das sagt sie richtig schelmisch, das Fräulein Kleiner Zeh, und wer kommt da nicht gerne wieder?


Anmerkungen zu dieser exklusiven OR-Serie

Bernhard Schulz (1913 – 2003) dürfte ein Osnabrücker Autor sein, der nicht nur in seiner Heimatstadt wahrhaftig keinen Vergleich zu scheuen braucht: Stolze 24 Bücher und fast 2.400 (!) Kurzgeschichten sind seit 1934 erschienen. Letztere fanden sich in Zeitungsausgaben, Anthologien und Sammelbänden. Völlig zu Unrecht, das ist zumindest die Auffassung der OR-Chefredaktion, ist dieser markante Schreiber heutzutage fast in Vergessenheit geraten.

Eine bemerkenswerte Resonanz erfuhr in der Osnabrücker Rundschau eine Reportage von Heiko Schulze, der sich Anfang Juli dieses Jahres mit dem reichhaltigen Wirken des Osnabrücker Journalisten und Schriftstellers auseinandergesetzt hat. Dies nebenbei nicht ohne Anlass: Wie Hans Wunderlich, Josef Burgdorf oder Karl Kühling zählte Schulz anno 1946 zum Redaktionsteam der damaligen Osnabrücker Rundschau, der leider nur ein kurzes Zeitungsleben zuteil wurde.

Redakteur Bernhard Schulz mit der OR-Erstausgabe vom 1. März 1946Redakteur Bernhard Schulz mit der OR-Erstausgabe vom 1. März 1946

Ganz im Gegensatz zu Bernhard Schulz hat es sein enger Freund Fritz Wolf (1918-2001) bis heute in die Ahnengalerie von solchen Osnabrückerinnen und Osnabrückern geschafft, die über Jahrzehnte, von der NOZ bis zum Stern, erfolgreich versucht haben, den deutschen Zeitgeist textlich oder zeichnerisch zu spiegeln. Immer wieder ergeben sich bis heute aktuelle Anlässe, um an den Meister des feinen Federstrichs mit seinen stets liebevoll in Szene gesetzten Prominenten zu erinnern.

Sohn Ansgar und Bernhard SchulzSohn Ansgar und Bernhard Schulz
Bernhard Schulz und Fritz Wolf 1951Bernhard Schulz und Fritz Wolf 1951

Kurzum: Anlässe genug, fortan eine neue OR-Serie zu starten, in der ausgewählte Kurzgeschichten von Bernhard Schulz mitsamt ihrer zeichnerischen Begleitung durch Fritz Wolf vorgestellt werden. Herzlich gedankt sei an dieser Stelle Ansgar Schulz-Mittenzwei, der die neue Serie im vertrauensvollen Kontakt zur OR-Redaktion erst ermöglicht hat und der bis heute in liebevoller Weise das literarische Erbe seines Vaters verwaltet.

Alle Schulz-Geschichten sowie etliche Wolf-Zeichnungen besitzen eine einzige Quelle, die in jüngster Zeit, ebenfalls durch das entscheidende Mitwirken seines Sohnes Ansgar, erscheinen konnte. Entnommen sind sie nämlich dem Schulz-Buch „Den Löwenzahn zermalmt nicht die Kesselpauke oder Hinwendung zur Geborgenheit. 200 kurze Geschichten der Jahre 1945-1965.“ Das kompakte Werk ist im Buchhandel (beispielsweise bei Wenner), online oder direkt über die Website www.BernhardSchulz.de erhältlich.

 


Neugierigen seien überdies diese Internet-Seiten ans Herz gelegt:
http://www.BernhardSchulz.de
https://de.Wikipedia.org/wiki/Bernhard_Schulz 
http://www.Fritz-Wolf.de

Bislang in der OR erschienen:
Geschichte vom 21.11.2021
Geschichte vom 28.11.2021
Geschichte vom 05.12.2021
Geschichte vom 12.12.2021
Geschichte vom 19.12.2021
Geschichte vom 26.12.2021
Geschichte vom 02.01.2022
Geschichte vom 09.01.2022
Geschichte vom 16.01.2022
Geschichte vom 23.01.2022

 

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