Dienstag, 23. April 2024

Zeitreisebericht Anno 1238

Liebe Os-Kids,

spätestens ab der 5. Klasse gibt es für die größeren Kinder in der Schule das Fach Geschichte. Darin geht es nicht etwa um ausgedachte Fantasie-Geschichten, sondern um Zahlen und Fakten von Ereignissen, die tatsächlich in längst vergangenen Zeiten stattgefunden haben sollen. Natürlich ist es viel glaubhafter, wenn etwas zeitnah aufgeschrieben wurde und dadurch noch heute ein Beweis vorliegt, am besten aus mehreren Quellen. Schreiben konnten allerdings weltweit früher nur wenige Menschen.

Der größte Teil unserer Geschichte besteht also tatsächlich aus von Generation zu Generation weitererzählten Geschichten. Und auch die Geschichte der Schreibenden kann nicht wirklich vollständig sein, denn natürlich waren (und sind) auch Schreiber Menschen mit Gefühlen und Meinungen. Außerdem – und das weiß ich als Schreibende und Erzählerin sehr gut – wer mag schon langweilige Geschichte(n)? Niemand, genau! Doch vielleicht kennt ihr den Spruch „In jeder Geschichte steckt ein Fünkchen Wahrheit“. Am Ende dieses Beitrages bekommt ihr dazu einen kleinen Auftrag, doch zunächst nehme ich euch mit auf Zeitreise in das Jahr 1238.


Anno 1238

Eine Maschine, um durch die Zeit in die echte Vergangenheit zu reisen, gibt es nicht, aber um ehrlich zu sein, ist dies wohl auch ganz gut so. Denn das Leben im Mittelalter war keineswegs ungefährlich, ganz im Gegenteil. Weiche Betten, warme Häuser, eigene Toiletten, Frieden, immer genug zu essen, Zugang zu Bildung und Medizin, davon konnten die meisten einfachen Leute damals nur träumen. Der Besuch eines Mittelaltermarktes ist eine genauso tolle wie spannende Möglichkeit, Geschichte(n) zu erleben – und ganz nebenbei auch ungefährlich. Ich habe mich in Telgte beim Mittelalterspektakel „Anno 1238“ im letzten Jahr für euch umgesehen. Heute habt ihr übrigens noch die Möglichkeit dort in eure eigene Zeitreise zu starten. Kann ich sehr empfehlen!


Ankunft

Marktwächter

Am Eingang wurde ich nach Begleichen des Wegezolls von zwei Wachen begrüßt und kontrolliert, so war das sicher auch für Durchreisende oder Besucher von Städten und Burganlagen im Mittelalter üblich. Um ihre Bewohner vor Überfällen zu schützen, waren Städte und Burganlagen zumeist von Mauern umgeben, die streng bewacht wurden. Da ich weder Waffen noch anderweitige unerlaubte Dinge bei mir hatte, durfte ich mit den Worten „Seid gegrüßt und gehabt euch wohl“ passieren. Dass die Darsteller des Marktes in Sachen Kleidung und Wortwahl so gut wie möglich die damalige Zeit nachspielen, ist Ehrensache und rundet das Erlebnis Zeitreise perfekt ab. Ich habe mit einigen von ihnen gesprochen.


Leben wie im Mittelalter

Zwar kannte man im Mittelalter längst Zeitmessgeräte wie Sonnen-, Sand-, Wasser- oder Kerzenuhren, doch so genau wie heutige (mechanische und digitale) Uhren waren sie nicht und für die meisten einfachen Leute ohnehin nicht verfügbar. Die Zeit, so wie wir sie heute messen und nach der wir uns andauernd richten wollen und ja, oft auch müssen, wurde damals nicht so wichtig genommen. Und genau dies ist es, was mir alle Darsteller unabhängig voneinander von ihrem wochenendlichen Lagerleben als „echte“ Ritter, Schmiede, Mägde, Burgfräulein, Herzoge, Bischöfe oder Knappen als erstes erzählten. „Einfach mal die Zeit vergessen“. Natürlich steht außer Frage, dass sie alle auch die Begeisterung für das Leben und die Menschen im Mittelalter eint.

Auch viele Kinder nehmen am Lagerleben teil. Niklas ist 13 Jahre alt und war von klein auf stets mit dabei. Er verriet mir, dass er mittlerweile eigentlich eher ein Wikingerfan ist, aber im stattlichen Ritterlager seiner Familie, das der Gralsritter, fühlt er sich dennoch frei und zu Hause. Natürlich darf und will er sich nützlich machen. Holzhacken für die Feuerstelle ist für ihn (wie ihr seht) kein Problem. Auf meine Frage, ob ihm sein Handy oder andere Medien fehlen (denn natürlich haben solche neumodischen Geräte nichts in der Ritterzeit zu suchen) schüttelte er überzeugend den Kopf. „Nein, denn irgendwer hat hier immer Zeit.“ Ich finde das großartig und lasse das hier mal so stehen.

Niklas aus dem Lager Gralsritter

Gesandtschaft zu Dincelachen

In einem anderen Lager komme ich mit Lisa ins Gespräch. Lisa ist längst erwachsen, aber auch sie ist ins mittelalterliche Lagerleben quasi hineingeboren, denn schon mit ihren Eltern war sie zeitweilig auf verschiedenen Mittelaltermärkten zu Hause. Mittlerweile wird das Lager der Gesandtschaft zu Dincelachen sogar von einer weiteren Generation in Form von Lisas dreijähriger Nichte verstärkt. Auch ihr gefällt das Lagerleben sichtbar, kein Wunder, denn an Spielmöglichkeiten mangelt es hier nicht. Natürlich habe ich einiges ausprobiert. In einem Spiel für größere Kinder und Leute galt es zu überlegen, welche Nahrungsmittel es im Mittelalter in Deutschland schon gegeben hat. So viel darf ich verraten: Besonders abwechslungsreich war das Essen nicht.

Andere Spiele, die mittelalterliche Kinder wohl gerne spielten, waren Drei gewinnt (kennt ihr vielleicht als Tic Tac Toe) und Mühle. Diese beiden und auch Schiffchen ziehen werdet ihr sicher kennen, aber ein Spiel kennt ihr wahrscheinlich nicht, das hat mir besonders gefallen. Es ist ganz einfach nachzubauen und geht so: Vier ungefähr gleichgroße Stöcker werden fest in den Boden gesteckt, darauf liegen vier kleine Holzstücke. Aufgabe ist es, die Stöckchen mit einem weiteren Holzstück so zu treffen, dass möglichst viele herunterfallen. Ein schöner Spaß! Es folgen Fotos von den Spielen und ein paar Eindrücke aus dem Lager der Familie.

Lisa und Kinderspiele unten rechts das Stöckchenspiel
Lager Dincelachen, zu Tisch, bitte!

Ritter

Natürlich dürfen, wenn es um das Mittelalter geht, die Ritter nicht fehlen. Es gibt viele bekannte und auch weniger bekannte Geschichten über sie. Bei Marcus vom Lager der Freyschaeler bekam ich einige von ihnen zu hören. Ob wirklich alle Ritter gerne kämpften, sie mutig, edel und heldenhaft waren, nun, dies kann niemand mit hundertprozentiger Sicherheit beantworten. Zumindest besaßen sie wohl zunächst eine ordentliche Portion Mut und Geduld, zum Ritter wurde man schließlich nicht von heute auf morgen.

Von Markus erfahre ich, dass ein angehender Ritter im Alter von ungefähr 6 Jahren seine Eltern und sein Zuhause verlassen musste um als Page bei einem Ritter zu leben und ihm zu dienen. Zunächst half der Junge wohl in Haus, Hof und Küche. Des Weiteren lernte er Lesen, Schreiben, die ein oder andere Fremdsprache und natürlich auch gutes Benehmen. Laut Markus konnte man sich im Mittelalter fernab der Heimat vor allem mit Latein und griechisch verständigen. Das war wichtig, denn natürlich kam ein richtiger Ritter auch viel herum. Aber stopp, noch ist unser Page ja kein Ritter.

Im Alter von ungefähr 14 Jahren wird aus dem Pagen zunächst einmal ein Knappe. Zu seinen Aufgaben gehört es nun, sich um des Ritters Pferd und Rüstung zu kümmern. Der Knappe darf mit zur Jagd und bekommt Unterricht im Schwertkampf und anderen Disziplinen. Wenn nach weiteren circa 7 Jahren alle Prüfungen bestanden waren, sonst alles geklappt hat und vor allem der Ritter des Vertrauens noch lebte, hatte der Knappe seinen Lebenstraum erreicht und wurde so mit 21 Jahren endlich zum Ritter geschlagen. Halleluja. Ob die Geschichte des neuen Ritters dann eine voller Ruhm, Ehre und Happy End wurde, steht auf einem anderen Blatt geschrieben.

Knappe Calli probiert die Rüstung im Lager von Marcus und Familie

Neuzeitritterfräulein Tinas Tagebuch

Alle während meiner Zeitreise befragten Darsteller und Mitwirkenden des Mittelaltermarktes hatten jede Menge über das damalige Leben zu erzählen. Viel mehr, als ich hier aufschreiben könnte. Ich durfte Rittern und allen anderen jede Menge Löcher ins Blech – äh in den Bauch fragen. Doch auch ohne Fragen zu stellen, bekam ich für mich Antworten, denn hier im westfälischen Telgte konnte ich Geschichte(n) mit allen Sinnen erleben. Feine Gerüche stiegen mir in die Nase, während ich an den mittelalterlichen Freiluft-Kochplätzen und Feuern vorbeischlenderte. Mit den Augen staunte ich über Kleidung und die vielen originalgetreu nachgebauten Zelte und Lagerplätze. Auch der Schmied ließ sich über die Schultern schauen. Überall gab es Gelegenheiten, Dinge auszuprobieren oder tastend zu erforschen. Mittelalterliche Musik brachten meine Hüfte und meine Ohren zum Schwingen. Geschwungen wurde auch anderes, Lanzen zum Beispiel, im Turnierkampf mit Pferden.

Mittelaltermarktgetümmel, unten die von den Kindern besiegten Ritter

Auch andere Ritter(Schau)Kämpfe sorgten für Spannung und Spaß. Moment mal, Waffen und Spaß, geht so etwas denn? Na klar, denn zum Glück ist eben doch nicht alles zu 100 Prozent originalgetreu, und so wusste ich, verletzt wird hier und heute natürlich niemand. Ordentlich jubeln durften später noch alle mutigen Kinder, als es hieß „Kinder gegen Ritter“. Schwerbewaffnet mit echten Poolnudeln brachten sie die Ritter in kürzester Zeit zu Fall. Das war sehr lustig. Aber apropos Zeit: Die ist mal wieder eindeutig viel zu schnell vergangen. Die Neuzeit hat mich längst wieder und somit ist es an der Zeit für die anfangs angekündigte Aufgabe:


Erzähle (d)eine Geschichte

Denkt einmal an ein zurückliegendes Ereignis, das ihr gemeinsam mit anderen erlebt habt. Fragt alle, die dabei waren, woran sie sich erinnern. Wenn ihr schon schreiben könnt, schreibt es jede/r für sich auf. Ihr könnt auch einfach nur denken, was euch dazu einfällt. Dann vergleicht eure Geschichten. Ihr werdet feststellen, sie sind vielleicht ähnlich, aber niemals ganz gleich. Stimmts?


Fazit:

Eine Zeitreise auf einen Mittelaltermarkt lohnt sich wirklich. Ich war jedenfalls, wie ihr meinem Text sicher entnehmen konntet, schwer begeistert. Geschichte ist eben am schönsten, wenn man sie richtig erleben kann. Und Geschichten, nun, die sind am schönsten, wenn man sich gemeinsam an sie erinnert. Ein kleines bisschen gleich und ein kleines bisschen verschieden werden sie bei jeder Erinnerung ein kleines bisschen toller.

Gehabt euch wohl und bleibt gegrüßt

Eure Tina Birgitta Lauffer

 

 

 

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