Donnerstag, 18. April 2024

Ernst Leitz (*1.3.1871) hat die „Leica“ gebaut … und Dutzende Menschen gerettet

Vor 153 Jahren wurde Ernst Leitz geboren

Ernst Leitz 1925

Der Sohn des Firmengründers Ernst Leitz I aus Wetzlar wurde nach dem Tod seines Vaters Alleingesellschafter der Firma Leitz, die anfangs Mikroskope, Linsen und Messinstrumente herstellte und ab 1925 die „leitzsche Camera“, kurz „Leica“, die erste 24×36-Kleinbildkamera, die mit ihrem geringen Gewicht, den Wechselobjektiven und der Möglichkeit, 36 Aufnahmen am Stück zu machen, die Plattenkameras ablöste und die Fotografie revolutionierte.

Bereits Ernst I war ein sozialer Mensch gewesen. Ernst II, zugleich ein führender Stadtverordneter und Mitgründer der Deutschen Demokratischen Partei (DDP), führte für seine Angestellten nun noch den Acht-Stunden-Arbeitstag ein sowie eine Unterstützungs- und eine Rentenkasse.

Der Anhänger der Weimarer Republik machte keinen Hehl aus seiner Abneigung gegenüber den Nationalsozialisten, er nannte sie in öffentlichen Versammlungen „braune Affen“ und begann schon in den ersten Tagen des NS-Regimes jüdischen und politisch missliebigen Mitarbeitern und Bekannten zu helfen.

Beispielsweise stellte er 1933 Paul Rosenthal an, der als Jude in der Schule gemobbt worden war, ließ ihn drei Jahre ausbilden und schickte ihn dann in seine Firma in die USA; anschließend sorgte er für die Ausreise von Pauls Schwester Gertrude und schließlich auch noch die ihrer Eltern Else und Nathan.

Ebenfalls schon 1933 bekam Christine Jessen einen Job von Leitz, nachdem das Lebensmittelgeschäft ihres jüdischen Ehemannes Moritz demoliert worden war; ihn konnte Leitz am Ende nicht vor der Deportation bewahren, aber er sorgte dafür, dass Christine und dann auch ihre „halbjüdische“ Tochter Lore bei ihm bis zum Ende des Kriegs Arbeit und ein Einkommen hatten.

Oder: 1938, kurz nach der Pogromnacht kaufte Leitz dem Wetzlarer Arzt Arno Strauss sein Haus und Grundstück zum vollen Marktwert ab und transferierte die Summe dann illegal nach Amerika, damit die Familie Strauss dort ihr Leben wieder aufnehmen konnte.

Oder: für einen bekannten Leica-Händler, Heinrich Ehrenfeld, dessen Geschenkeladen in der Pogromnacht zerstört worden war, und der in Buchenwald festgehalten wurde, verfasste Leitz einen Lobgesang als Referenzscheiben, so dass der 1939 ein Visum bekam und emigrieren konnte (er wurde als Harry Enfield ein erfolgreicher Leica-Händler in Miami Beach). Nachdem Gestapo-Spitzel eine Kopie dieses Briefs in der Leitz-Fabrik entdeckt hatten, wurde Leitz’ Verkaufsleiter Alfred Türk verhaftet. Ernst Leitz erreichte seine Freilassung und sagte zu, Türk in den Ruhestand zu versetzen (zum Missfallen der Nazis bei vollen Bezügen, bis Türk nach dem Ende des Dritten Reichs wieder bei Leitz anfing).

Leitz selbst kam mit einer Rüge davon, denn als Alleininhaber des zweitgrößten optischen Werks im Deutschen Reich war er wegen seiner Leicas weltbekannt, vor allem aber war er mit seinen optischen Erzeugnissen relevant für das Militär und er war ein wichtiger Devisenbringer für das ständig klamme Regime. Man traute sich nicht so richtig an ihn heran, selbst als der Gestapo klar geworden sein musste, dass Ernst Leitz systematisch die Ausreise jüdischer und politisch gefährdeter Leute arrangierte, dass er Überfahrten und Stipendien zahlte und so weiter.

Es gelang Leitz 1943 sogar, seine Tochter Elsie gegen ein üppiges Lösegeld nach drei Monaten Haft im Polizeigefängnis Frankfurt vor der Einweisung in ein KZ zu bewahren. Elsie, eine promovierte Juristin, war erwischt worden, als sie versucht hatte, die Wetzlarer Jüdin Hedwig Palm über die Schweizer Grenze zu schleusen. Spätestens von da an waren Ernst und Elsie Leitz permanent im Visier der Gestapo (Elsie hatte zum Beispiel versucht, die Lebensbedingungen der ukrainischen Sklavenarbeiterinnen, die dem Werk zugewiesen worden waren, zu verbessern; nun wurde ihr das Betreten des Lagers strikt untersagt).

Zuvor aber – und bis Deutschland die Grenzen dicht machte – hatte ihr Vater noch reihenweise Verfolgte (auch solche ohne jegliche Fachkenntnisse) in seinem Wetzlaer Werk angestellt und sie dann in seine Niederlassungen in Frankreich, Großbritannien, Hongkong und die USA „versetzt“ – ein Trick, damit sie ohne Probleme aus Deutschland ausreisen konnten. In seinen Filialen blieben sie dann auf Leitz’ Anordnung solange angestellt, bis sie eine andere Arbeit gefunden hatten. In den USA, wo die meisten der Leitz-Schützlinge gelandet sind, sind seine Rettungsaktionen als „the Leica freedom train“ bekannt.

Heute ist erwiesen ist, dass Ernst Leitz II für mindestens 86 Menschen lebensrettende Hilfe geleistet oder ihnen die Ausreise ermöglicht hat. Dass davon lange wenig bekannt war, liegt vor allem daran, dass Ernst Leitz nie darüber gesprochen hat.

Er ist 1956 gestorben. Die Anti-Defamation League hat ihm 2007 postum den „Courage to Care Award“ verliehen.

 

Judith Kessler
Judith Kessler
Judith Kessler ist Sozialwissenschaftlerin, Redakteurin und Autorin mit den Schwerpunkten jüdische Migration, Gegenwartskultur und Biografieforschung.
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