Lesekompetenz nach Corona: Eine Osnabrücker Grundschullehrerin erzählt

Nach 12 Monaten gefühltem Nichtstun sollen Schülerinnen und Schüler nun die Ferien durcharbeiten, um das Versäumte aufzuholen. Aber ist es wirklich so schlimm? Haben alle tatsächlich nichts gelernt und die Lehrerinnen und Lehrer eine Auszeit genossen? Wir haben nachgefragt!

Als Deutschlehrerin an einer großen Osnabrücker Grundschule unterrichtet Tina Schick seit Jahrzenten Mädchen und Jungs im Alter von fünf bis elf Jahren (die Altersspanne der Schülerinnen und Schüler ist durch die Möglichkeiten des Früher-eingeschult-Werdens und des Zurückstellens sehr groß geworden).

Im vergangenen Jahr mussten Kolleginnen und Kollegen von Tina Schick coronabedingt die vierten Klassen fast ohne Abschied an eine weiterführende Schule abgeben. Tina Schick selbst bekam nach den Sommerferien eine ganz neue erste Klasse. Nach einer spannenden Zeit des Kennenlernens und dem Aufbau einer schönen Lernatmosphäre in Gemeinschaft kam Corona jedoch mit aller Wucht zurück und der zweite Lockdown war nicht mehr zu vermeiden. Was nun?

Ich habe mit Tina Schick ein Interview über diese schwierigen Zeiten geführt; wir kennen uns schon seit einigen Jahren, und ich weiß, wie sehr ihr ihre Schülerinnen und Schüler am Herzen liegen.

Kerstin Broszat, Osnabrücker Rundschau: Tina, als erstes möchte ich gerne von dir wissen, warum es überhaupt so wichtig ist, gut lesen zu können. Man kann sich doch über Tablet und Handy alles vorlesen lassen.

Tina Schick mit Buch
Foto: Tina Schick

Tina Schick: Erst einmal ist es Bildung! Dann gibt es so viele schöne Bücher, die gelesen werden wollen – alleine deswegen lohnt es sich schon, fließend lesen zu können. Man kann abtauchen in ganz andere Welten, die einem sonst verschlossen bleiben. Abgesehen davon ist es auch natürlich wichtig, wenn man dann irgendwann einmal den ersten Liebesbrief kriegt und ihn lesen kann. Wär‘ ja doof, wenn das nichts wird.

KB: Ich weiß, dass du zum Beispiel während der Zeit des ersten Lockdowns bis hinein in die Sommerferien für die Kinder kurze Youtube-Videos gedreht hast, in denen du tolle Kinderbücher vorgestellt und vorgelesen hast. Wie ist das angekommen?

Tina Schick: Die Kinder waren jeden Abend vor ihrem Tablet oder PC und haben darauf gewartet, dass endlich das nächste Video kommt. Am Anfang habe ich auch gedacht, ich mache das wirklich nur so zwanzig Bücher lang und nicht so viele – es sind zum Schluss zusammen mit den Lernvideos 100 geworden!

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Die Kinder wollten immer mehr und immer mehr; die haben mir sogar selber Buchvorschläge gemacht, sie habe mir ihre Lieblingsbücher in den Briefkasten geworfen oder direkt vorbeigebracht, damit ich auch ihre Bücher vorstelle. Die Kinder waren hin und weg – es hat mir so viel Spaß gemacht, so dass ich auch wirklich die ganze Lockdownphase durchgehalten habe, wobei ich gestehen muss, dass mir am Schluss echt die Puste ausging.

Auch die Eltern saßen mit davor, die Geschwisterkinder; andere Kolleginnen habe es auch in anderen Schulen mitgekriegt und weitergeleitet an ihre Schüler. Also – es war wirklich sehr, sehr schön. Da habe ich was erreicht und konnte den Kindern die Bücher näherbringen (meine Kinder waren da ja erst in der ersten Klasse). Und es war fast ein bisschen Alltag, weil wir jeden Morgen in der Schule auch immer eine kleine Geschichte oder ein Kapitel aus einem wundervollen Buch lesen.

KB: Was haben du und deine Kolleginnen und Kollegen noch unternommen, um nahe bei den Kindern zu sein? Und vor allem: wie zeitaufwändig war das alles?

Tina Schick: Das war ganz schön anstrengend und zeitaufwändig. Ich war ja am Anfang so naiv und hab‘ geglaubt, dass es nur diese Zeit vom 13. März bis zu den Osterferien sein wird und danach geht alles wieder ganz normal weiter.

Deswegen: Am Anfang viel kopiert, Arbeitsblätter vorbereitet, viel sortiert und dann ab auf’s Fahrrad und zu den einzelnen Kindern gebracht. Dadurch hat man sie dann auch noch zwischendurch gesehen, mal kurz „übern Zaun geschnackt“, auch mit den Eltern – das war schön, aber echt aufwändig. Die Eltern waren so lieb und haben mir die Sachen, wenn sie bearbeitet waren, wieder in den Briefkasten bei mir zu Hause geworfen, ich habe sie dann am Wochenende durchgesehen und bin dann am Sonntag oder Montag mit neuen Kopien wieder losgeradelt und habe den Kindern den Arbeitsplan für die nächste Woche gebracht.

Als dann die Notbetreuung losging wurde es ein bisschen anders, weil ich dann ja in der Schule die Kinder sitzen hatte, mit denen ich auch Videos gedreht hatte. Aber ich hatte plötzlich ja nicht mehr so viel Zeit Sachen vorzubereiten, Sachen nachzubereiten, durchzugucken, dahinzubringen. Teilweise haben die Eltern die Sachen dann aus der Schule abgeholt, wenn ich in der Notbetreuung war; das war ganz gut. Oder andere Kinder haben mitgeholfen beim Verteilen. Das war auch mega lieb. Oder sie haben es halt selber ausgedruckt.

Das war am Anfang das Zeitaufwändigste. Natürlich musste man auch immer wieder mit den Kindern oder Eltern telefonieren. Die Videos kamen erst etwas später, weil die Kinder digital noch gar nicht so aufgestellt waren.

KB: Konntet ihr die Kinder der vierten Klassen mit einem guten Gefühl in die weiterführenden Schulen entlassen?

Tina Schick: Ich hatte im letzten Jahr als es losging mit dem ersten Lockdown eine Klasse 1; für die war das natürlich total doof, weil die die Sozialkontakte auch für das Lernen in der Schule brauchten. Aber sie haben es wirklich gut gemeistert, auch dadurch, dass ich sie zwischendurch immer mal wieder am Zaun gesehen habe.

Für die Viertklässler war das was völlig anderes. Da weiß ich von Kollegen, dass sie megatraurig waren, weil viele Sachen für sie ausfielen, z.B. Klassenfahrten, Klassenfest, die Abschlussfeier in der Schule: sonst sitzen alle 260 Kinder in der Sporthalle, und jede Klasse, die Lust hat, führt was vor. Vor allem die Viertklässler üben Tanz ein oder ein Lied – es ist ihre Party – das fiel alles aus! Stattdessen gab es ein kleines Alternativprogramm, für jede Klasse einzeln. Es ist nicht dasselbe gewesen. Trotzdem konnten wir sie gut verabschieden.

In diesem Jahr läuft es zum Glück schon wieder ein bisschen anders. Es gibt zwar nicht die große Feier in der Sporthalle, aber es gibt ein bisschen mehr für die Kinder auf dem Schulhof. Sie sind auf jeden Fall alle wieder zusammen; das war im letzten Jahr ja auch nicht so – da waren sie getrennt in „Gruppe A“ und „Gruppe B“. Dieses Jahr können sie sich zusammen verabschieden von uns.

KB: Was meinst du, wieviel haben die Kinder verloren – an Lernstoff, an Sozialkompetenzen, an Lernkompetenzen …? Und was davon findest du am wichtigsten?

Tina Schick: Ja, was haben sie verloren? Das ist eine gute Frage! Mein erstes Schuljahr war relativ breit und gut aufgestellt. Ich habe ganz tolle Eltern, die die Kinder unterstützen und die jede Hilfe auch wirklich annehmen, jeden Tipp annehmen, wenn ich sage „Üben sie doch einmal bitte das und das“ oder „Gucken sie doch mal in ein anderes Arbeitsheft, da ist es besser erklärt“, oder ich habe über Videokonferenzen mit Eltern darüber gesprochen, was man alles machen kann – das lief gut! Das heißt, an Lernstoff haben meine Kinder fast nichts verloren. Sonst sind wir im Herbst mit allen Buchstaben durch; dieses Mal waren wir kurz vor Weihnachten damit durch; das ist auch nicht schlimm.

Lesende Kinder
Foto: Tina Schick

Und auch jetzt kurz vor den Sommerferien sind wir in Mathe auf dem Stand, wo wir sonst immer sind (in Klasse zwei) und im Schreiben auch relativ weit; im Lesen sind sie top, das liegt aber auch daran, dass ich darauf das meiste Gewicht drauf lege. Eigene Geschichten schreiben fällt ihnen noch schwer, aber das wird dann Schwerpunkt in Klasse drei.

Ja, Lernkompetenzen haben wir auch irgendwie hingekriegt, wobei – das sind jetzt andere, als wir sonst gewohnt waren. Das Heft sieht nicht so ordentlich aus wie gewohnt, wo oben das Datum steht und dann kommt die Überschrift, und es wird schön am Rand angefangen. Es wird schon mal kreuz und quer im Heft geschrieben – das sind dann die Nachteile. Dafür können sie jetzt super mit Computern umgehen.

Aber an Sozialkompetenzen, da haben wir mega viel verloren! Die Kinder waren ja nur ganz kurz im zweiten Schuljahr vor den Weihnachtsferien komplett in der Schule, dann kamen die Weihnachtsferien, dann kam schon der zweite Lockdown, wo sie getrennt unterrichtet wurden oder das Homeschooling. Vor Ostern war es dann schon wieder so weit, dann wieder Homeschooling, dann die Schneeferien dazwischen (auch Homeschooling) – und darauf haben die Kinder überhaupt keinen Bock mehr. Ich brauche denen nicht mehr damit kommen, dass wir eine Videokonferenz machen – das sind die so leid! Deswegen bin ich froh, dass wir wieder in der Schule unterrichten.

In Szenario B war es zum Teil viel besser, weil ich kleine Gruppen hatte; ich hatte Zeit für alle Kinder, diese auch mitzunehmen.

Jetzt haben wir wieder Szenario A. Die Kinder freuen sich natürlich, dass sie sich gegenseitig sehen und bräuchten eigentlich viel mehr Freizeit, um miteinander was zu unternehmen, viel mehr Ausflüge (was im Moment nur zu Fuß erlaubt ist); es wird und wird.

Aber die Sozialkompetenzen, die haben tatsächlich richtig gelitten, da müssen die Kinder sich erst wieder dran gewöhnen, wie man respektvoll und freundlich miteinander umgeht. Und nicht über Tische und Bänke – aber wir sind dicht dran (diese Woche war es schon viel besser nach den ersten zwei sehr lebendigen Wochen).

KB: Gibt es noch etwas sehr Wichtiges, was du gerne allen Mitmenschen mitteilen möchtest?

Tina Schick: Die Kinder sind mit Corona echt durch, die habe da keine Lust mehr drauf; ich auch nicht mehr – wer weiß, was jetzt als Nächstes wieder kommt, ob die nächste Variante wieder in den Lockdown führt? Ich hoffe es, ehrlich gesagt, nicht. Die Kinder haben über ein Jahr, fast eineinhalb Jahre damit zugebracht. Viele Sachen, viele Regeln akzeptieren sie ohne Probleme: Das mit dem Mundschutz funktioniert gut, dass sie sich die Hände waschen funktioniert gut. Abstand funktioniert überhaupt nicht gut; das kann ich achtjährigen Kindern aber auch nicht vorwerfen – die wollen sich zwischendurch einfach mal knuddeln oder fangen spielen und sich auch mal berühren können.

Für den Unterricht brauche ich es, dass sie sich nahe sein können, sonst kann ich keine Partnerarbeit, keine Gruppenarbeit machen. Sie müssen sich gegenseitig unterstützen und helfen können. Aber trotzdem: die haben das super bis jetzt hingekriegt und das werden sie auch weiter. Das wird sie auch ihr ganzes Leben begleiten, denn es war einschneidend – egal wie es irgendwie weitergeht. Und immer zu sagen „die Kinder …, die Kinder …, die Kinder … – die Kinder sind toll!“ Das ist meine wichtigste Botschaft für heute.

KB: Vielen Dank für deine Offenheit und dass du dich für dieses Interview bereit erklärt hast.

Wir von der Osnabrücker Rundschau wünschen allen Kindern, Eltern, Lehrerinnen und Lehrern, Erzieherinnen und Erziehern und allen anderen erholsame und wundervolle Sommerferien!

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