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Freitag, 9. Mai 2025
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Schicksal in großen Buchstaben

Extra zum 8. Mai: eine Kurzgeschichte des früheren OR-Schreibers Bernhard Schulz

1965 schrieb Bernhard Schulz, Buchautor, Kurzgeschichtenschreiber, Feulletonist und 1946 OR-Autor der ersten Stunde, die folgende Geschichte. Sie darf in der OR gern die inhaltsreichen Beiträge anlässlich des Tages der Befreiung ergänzen. Zum Duktus beachte man bitte die Sichtweise eines Menschen gegen Mitte der 60er-Jahre.

Wie war das vor zwanzig Jahren? Wie war das an jenem Tag, als ich aus der amerikanischen Kriegsgefangenschaft in meine Vaterstadt heimkehrte? Wir waren in Front zu drei Gliedern angetreten, an die hundert Mann, ein Haufen zerlumpter Gefangener. Unsere Wachmannschaften hatten sich entfernt. Die Lastwagen hatten kehrtgemacht. Die Gefangenschaft war zu Ende. Die Stadt hatte einige ihrer Söhne wieder. Kameraden, was nun?

Großartige Söhne waren wir, und es sah nicht danach aus, als hätte jemand damit gerechnet, uns lebendig wiederzusehen: feldgraues Gewimmel, Flieger in blau und Panzerfahrer in schwarz, blutjunge Arbeitsdienstler dazwischen.
Ein Mann trat aus einer Baracke und las Namen aus einer Liste vor. Die Aufgerufenen traten einen Schritt vor. Der Mann setzte ein Häkchen hinter den Namen.

Der Mann war die Vaterstadt und das Heimatland. Er war Oberbürgermeister, Regierungspräsident, Landesvater und Ehrenjungfrau. Er war Fahnenabordnung, Sprecher der Parteien, Haupt der Wohlfahrtsbeamten und Haupt der Wiedergutmachungskommission. Er war alle Personen in einer Person, alle Ämter in einem Amt, alle Würden in einer Würde. Ein dürres Männchen mit geflickter Hose und Krankenkassenbrille auf der Nase. Das Männchen war nicht einmal darauf gekommen, sich zur Begrüßung der verlorenen Söhne eine Blume ins Knopfloch zu stecken.

Das Männchen gab mir den Entlassungsschein. Er trug meinen Daumenabdruck und den ärztlichen Vermerk UNFIT. Ich konnte gehen. Aber wohin gehen? He, Alter, wer lebt denn noch von den Menschen, die ich verlassen habe, als ich auszog, um zu siegen? Lebt meine Frau noch? Lebt meine Mutter noch, mein Vater, meine Schwester, mein Bruder? Lebt die Tante noch, der Onkel, der Nachbar? Auf meinem Entlassungsschein stand MARRIED, das war nicht gelogen. In NUMBER OF CHILDREN hatte ich KEINE eintragen lassen, aber das war vielleicht doch gelogen. Ich hatte seit einem Jahr keine Nachricht mehr erhalten.

Entlassen. Ich war entlassen. Kein Stacheldraht hinderte mich mehr. Kein Maschinengewehr war auf meinen Kopf gerichtet. Kein Posten drohte mit dem Knüppel. Der Sieger ließ mich laufen. LET’S GO, DAMNED BLOODY NAZIBOY, auch das in großen Buchstaben, in BLOCK LATIN CAPITALS, wie es die Vorschrift zur Ausfüllung des Formulars befahl, und mitgegeben hatten sie mir ein Paar Socken und acht Stück Seife der Marke LUX, von der Gloria Swanson begeistert war. LET’S GO.

Ich bin nie in meinem Leben und bei keiner noch so verdammten Gelegenheit langsamer gegangen als an diesem Tag. Ich zog in eine zerbombte, durchlöcherte, verbrannte, verratene, entvölkerte, verarmte Stadt. Auf meinem Rücken stand in weißen Buchstaben PoW, das hieß PRISONER OF WAR, Kriegsgefangener, ich war gezeichnet, und ich kannte niemanden, der reich genug war, mir einen Anzug zu schenken. Meine Beute aus sechs Jahren Waffendienst, mein Anteil am Feldzug durch Polen, Frankreich und Russland, meine Beute, mein Verdienst, mein Lohn, mein Volksvermögen, mein Kapitalzuwachs, meine Ersparnisse waren ein Paar olivfarbene Socken und acht Stück Seife mit dem Porträt von Gloria Swanson. LET‘S GO.

Ich erinnere mich, dass es anfing zu regnen und grau zu werden. Ich ging immer noch langsam. Ich hatte Angst. Es war nicht deshalb, weil ich Tote gesehen hatte, viele Tote, mit denen ich weder verwandt noch verschwägert war. Aber wer zählte in meiner Familie zu den Toten?

Ich blieb stehen und entfaltete den Entlassungsschein. CERTIFICATE OF DISCHARGE stand da, und ein gewisser Harry La Bow Capt. C.M. hatte unterschrieben. Thank you, Captain. Die AMT* haben meinen Ehering und die Armbanduhr genommen, ich will’s vergessen, aber sie haben mir die Socken und acht Stück Seife gelassen, um darauf das neue Leben aufzubauen. LET’S GO.

Das neue Leben bestand zunächst aus einer Ruine. Hier hatten die Eltern gewohnt. Auf Pappe stand in der Küche meiner Mutter zu lesen, daß die Eltern in einem Ort namens Hunteburg wohnten. So war das heute. So benachrichtigte man einander, auf Pappe und auf Stein, hinter verbrannten Türen. Tante Mentrup ist tot, stand da.

Ich taumelte weiter. Ich spürte Hunger. Aber ich besaß weder Geld noch Lebensmittelmarken. Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, wie das hier weitergehen würde. Meine Frau hatte ich zuletzt in Berlin gesehen. Wir hatten dort eine Wohnung gehabt. Wohin sollte ich fahren? In jenen Ort namens Hunteburg? Nach Berlin? Fuhren schon Züge? Durfte ich die Stadt, die mich aufgenommen hatte, überhaupt verlassen?

Da erbarmte sich meiner der Engel der entlassenen Kriegsgefangenen und schickte mir die Tante Anna über den Weg, und die Tante Anna sagte, daß meine Frau aus der sowjetisch besetzten Zone geflohen und in der vergangenen Nacht wohlbehalten bei den Eltern angekommen sei. „Mit Sabinchen“, fügte Tante Anna hinzu.
„Wer ist das?“ fragte ich..
„Wer Sabinchen ist? Das weißt du nicht? Ach, du lieber Himmel…das ist deine Tochter!“

Ich war langsam gegangen, weil ich Angst gehabt hatte. Auch war ich der Freiheit entwöhnt. Stacheldraht und Wachtposten hatten mich zur Vorsicht erzogen. Aber jetzt fing ich an, schnell zu gehen. Ich lief. Ich kannte ja das Ziel. Ich wusste, dass ich angekommen war. Dass ich zuhause war. Dass es weitergehen würde. Irgendwo. Irgendwie. In dieser Stadt.

*AMT, American Military Troops

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