Martin Sijes: „Das Eingangsvideo beeinflusst den Deutungsrahmen“

Villa im Museumsquartier: Lob für das didaktische Konzept – Kritik an der Präsentation Calmeyers

Der in den Niederlanden und in Israel lebende Soziologe Martin Sijes (74) zählte, wie der Amsterdamer Philosphieprofessor Johannes Max von Ophuijsen, zu den vormaligen Kritikern eines „Hans-Calmeyer-Hauses“. Jetzt hat er sich am letzten Sonntag, wie von Ophuijsen, ein persönliches Bild von der neu eröffneten Villa im Museumsquartier gemacht. Die Präsentation Calmeyers findet er – noch immer – kritikwürdig. Exklusiv für die OR verfasste er den folgenden Kommentar.

Zunächst möchte man Osnabrück zur Wiedereröffnung der Villa gratulieren. Ich erwarte und hoffe, dass die Villa dazu beitragen wird, das demokratische Bewusstsein der Tausenden jungen Besucher zu stärken, die in die Villa kommen, um dieses Bewusstsein zu schärfen.

Ich bin voll des Lobes für das gewählte didaktische Modell; ein Modell, das sich auf die Selbstmotivation und die Aktivierung von Fragen und Dilemmata rund um die Demokratie konzentriert. Und wir Europäer brauchen das dringend angesichts des Aufstiegs flacher populistischer Bewegungen und quasi-neonazistischer Parteien wie der AfD in Deutschland und dem rechtspopulistischen „Forum für Demokratie“ in den Niederlanden, nicht minder natürlich gegenüber der mittlerweile stärksten niederländischen Regierungspartei, der von Geert Wilders geführten rechtsextremen Partij voor de Vrijheid (PVV), die seit der niederländischen Parlamentswahl am 22. November 2023 mit 37 von 150 Sitzen der Zweiten Kammer des Parlaments stärkste Fraktion geworden ist.

Kritischer sehe ich allerdings die Art und Weise, wie Calmeyer in der aktuellen Ausstellung dargestellt wird. Ich möchte keineswegs behaupten, dass die „dunklen“ Seiten Calmeyers dort nicht zu finden seien. Die Interviews mit Anwalt Van Proosdij und Calmeyer-Opfer Femma Swaaleb sind intensiv und erschreckend. Ich behaupte also nicht, dass man negative Aspekte unter den Tisch kehren wollte, wie wir es auch auf Niederländisch sagen.

Meine Kritik bezieht sich auf das gewählte Bild, das Paradigma, den Rahmen, von dem aus sich das Programm Hans Calmeyer nähert. Bei der Ankunft gibt nämlich der kurze Begrüßungsfilm den Ton an. In diesem Film haben die Verantwortlichen sich entschieden, Hans Calmeyer im wahrsten Sinne des Wortes als „Retter“ und „Widerstandskämpfer“ ins Rampenlicht zu rücken, der angeblich „natürlich“ nicht alle retten konnte. Auf der einen Seite der Linie ist die jüdische Familie2 deportationsfertig und reisebereit. Auf der anderen Seite stehen die Osnabrücker Bürger, die es zulassen oder bejubeln. Mit Ausnahme von Hans Calmeyer als Widerstands-Mitglied und Retter.

Calmeyer steht auch im Mittelpunkt des Raumes mit den Diagrammen des NS-Staates in den Niederlanden. Im Organigramm des NS-Staates platziert man den Widerstandskämpfer und Retter Calmeyer ganz oben in der Reihe der Herrscher des Besatzungsregimes in den Niederlanden: an der Spitze Reichskommissar Seyß-Inquart, Generalkommissar Wimmer, Stuhler und Calmeyer. Hans Calmeyer, ein „Retter“ und „Widerstandskämpfer“ mit einer sehr herausragenden Rolle bei der Organisation des Arbeitseinsatzes, der Registrierung von Juden, der Entwicklung eines Systems, in dem die Ernährung der Untergetauchten, so weit wie möglich, abgeschnitten wurde, Führer der Entscheidungsstelle. Etwas übertrieben könnte man formulieren: „Widerstandskämpfer“ Calmeyer als eine Art Günther Guillaume in der Regierung des NS-Staates.

Die Studenten und anderen Besucher beginnen somit ihren Besuch mit der impliziten Botschaft, dass es möglich ist, in einer hohen Position erfolgreich für ein Unterdrückungsregime zu arbeiten und dennoch ein „Widerstandskämpfer“ und „Retter“ zu sein. Allerdings erfährt man in den beiden genannten Interviews, dass der „Retter“ Calmeyer auch unberechenbar sein konnte. Und dass das Opfer Femma Swaaleb Calmeyer ganz anders sieht. Aber diese Kritik muss man bei den anderen Videos suchen. Der Deutungsrahmen der Jugendlichen wurde bereits durch den am Eingang platzierten Rahmen beeinflusst.

Ich bin noch einmal voll des Lobes für das gewählte didaktische Modell. Mein Kritikpunkt ist, dass die Dilemmata rund um die Zusammenarbeit in einem kriminellen System zentraler hätten sein sollen. Und diese Dilemmata beziehen sich sowohl auf gesellschaftliche Werte, Normen, Pflichten und Rechte als auch auf individuelle Motive und Möglichkeiten. Wenn man die Perspektive der Dilemmata rund um Kollaboration und Widerstand als zentralen Punkt wählt, kann man offener einschätzen, wie man sich als Besucher in einer schwierigen Situation wie in der von Hans Calmeyer verhalten würde. Dann können die Besucher den blauen Ball frei und bewusst in die Röhre werfen, wenn Sie bei der Beantwortung der Fragen, die Ihnen im Raum zu Calmeyer gestellt werden, eine Auswahl treffen.

Ich weiß, dass Gebäude statisch sind, die in Gebäuden enthaltenen Ideen jedoch nicht. Herr Kässens hat mir bereits berichtet, dass das Programm auf der Grundlage der Erfahrungen von Besuchern und anderen entwickelt wird. Ich bin von der Integrität des Engagements für diesen Prozess vollkommen überzeugt. Ich wünsche allen Beteiligten viel Erfolg dabei.

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