Montag, 8. Januar 2024

Von der Piefigkeit zur Hochschulstadt

Thorsten Unger zum langen Werdegang des Osnabrücker Studienbetriebs

Osnabrück als Hochschulstadt? Angesichts von heutzutage 28.000 Studierenden an beiden Hochschulen klingt diese Frage aktuell ziemlich albern. In den 70er-Jahren war dies gänzlich anders. Erst durch die Etablierung der Hochschulen konnte sich Osnabrück von seiner eher provinziellen Piefigkeit lösen. Entwickeln konnte sich ein multikulturelles Kultur- und Gastro-Leben, das der heutigen Zeit nahekommt. Dr. Thorsten Unger entführte das Publikum einer VHS-Veranstaltung in eine Zeitreise, bei der all dies anschaulich nachvollzogen werden konnte.

Der Referent betreut das gemeinsame Archiv der Universität und Hochschule Osnabrück, das im Niedersächsischen Landesarchiv – Abteilung Osnabrück untergebracht ist. Die OR hatte bereits anlässlich der Vorinformationen zur Veranstaltung auf Themen hingewiesen, die Unger anhand aufschlussreicher Abbildungen, Dokumente und Originalzitate präsentierte. „Aufbruch und Krise. Die Osnabrücker Hochschulen in den 1970er Jahren“ lautete dann auch der Titel der Abendveranstaltung, zu der die VHS gemeinsam mit dem Verein Soziokultureller Dialog e.V. eingeladen hatte.

Wie lange sich der Prozess der Herausbildung beider Hochschulen vollzog, machten allein schon Jahreszahlen deutlich, die Unger gemeinsam mit Abbildungen und Originalzitaten darbot. Wer erinnert sich heute noch daran, dass die frühere Pädagogischen Hochschule, damals noch nach dem Reformpädagogen und Nazi-Opfer Adolf-Reichwein-Hochschule benannt, bis 1973 einen Lehrbetrieb in den Schloss-Räumlichkeiten organisierte, der ab Sommersemester 1974 in die frisch gegründete Uni integriert wurde?

„Vor allem altgediente PH-Professoren und mit Reformgeist ausgestattete neue Lehrkräfte hatten viele Differenzen untereinander auszutragen“, musste Unger feststellen. „Zwei Welten sind sich da begegnet“, wurde es spontan aus dem Publikum formuliert.

„Natürlich“, so Unger, „wurden in den 70er-Jahren Fundamente gelegt, ohne die sich beide Hochschulen nicht zu ihrer heutigen Bedeutung entwickelt hätten. Aber es gab im Rahmen der Gründerjahre auch sehr viele Zukunftsvorstellungen, die noch im Gründungsausschuss und ersten Studieninhalten eine Rolle spielten, dennoch aber nie verwirklicht wurden.“

 

Scheitern von Reformideen und Hoffnungen

Vor allem den zahlreich vertretenen Zeitzeugen im Publikum war neben dem Referenten klar, was damit gemeint war. Ein brachiales Scheitern erlebte beispielsweise die Idee einer Gesamthochschule, welche der Universität wie der damaligen Fachhochschule ein gemeinsames Dach verliehen hätte. Ebenfalls, hier insbesondere von der damaligen CDU-FDP-Landesregierung liquidiert wurde die Einphasige Lehrerausbildung, die noch 1977 rund 80 % aller damals Studierenden der 1974 gegründeten Uni absolvierten. Jene Studi-Pioniere waren bis heute die letzten, die seinerzeit eine Integration von Studium und Referendariat in einem integrierten Studiengang erleben durften. Die zeitgleich gestartete Uni in Oldenburg traf kurze Zeit später ein ähnliches Schicksal.

Ein weiteres Scheitern benannte Unger mit der Idee eines Projektstudiums, das mehrere Fächer in gemeinsamen Themenfeldern zusammenführen sollte. Am Ende stand erneut der als überholt angesehene klassische Fächerkanon. Allerorten zu spürende Rückschritte wie die seit langem ersehnte, dann aber gescheiterte Drittelparität, in der sich Studierende, Mittelbau und Professoren die Selbstverwaltung in den Gremien aller Hochschulen gleichberechtigt aufteilen sollten, taten ihr Übriges. Zunehmend mehr grundlegende Elemente der Reformprozesse stoppten auf diese oder andere Weise. Auch Berufsverbote gegen unliebsame Uni-Absolventen und die damit einhergehende Bespitzelung links und kapitalismuskritisch eingestellter junger Menschen prägten einen Zeitgeist, den Unger auch für Osnabrück ausführlich nachzeichnete.

Ebenfalls mit vielen gescheiterten Ideen war bereits anno 1971 die damalige Fachhochschule gestartet. Speisen durfte sich die erste Osnabrücker Hochschule vor allem aus dem Erbe zuvor etablierter Ingenieurschulen wie solcher für Maschinenbau, Elektrotechnik, Garten- und Landschaftsbau. Detailreich zeichnete Unger das Scheitern des Integrationsausschusses nach, der eigentlich die Fundamente einer Fusion mi der Uni zur Gesamthochschule Osnabrück hätte schaffen sollen.

: Quellenschatz und Wirkungsstätte des Referenten: das Uni- und Hochschularchiv im Landesarchiv in der Schloßstraße: Quellenschatz und Wirkungsstätte des Referenten: das Uni- und Hochschularchiv im Landesarchiv in der Schloßstraße

 

Anekdoten aus dem Publikum

Die auch anekdotenreiche Zeit spiegelte sich am Schluss der Veranstaltung auch deutlich in Gestalt einer Einbeziehung des Publikums wider. Erinnerungen bezogen sich beispielsweise auf die damals nicht seltenen studentischen Streiks. Unger zitierte den Ökologen Professor Dr. Helmut Lieth, der die damalige Atmosphäre mit Worten dargestellt hatte, die anwesende Zeitzeugen sowohl bestätigten wie auch erheiterte: „Wenn man das Treppenhaus benutzen wollte, musste man über Tische und Bänke klettern.“

Weitere Erinnerungen kamen auf, als Unger an neu entstandene Hochschulbauten, ebenso an längst vergessene Studentenwohnheime wie das an der Ritterstraße oder an aufgegebene Campus-Ideen im Stadtteil Dodesheide ins Gedächtnis rief. Dass damals neu etablierte Studiengänge wie Jura oder BWL zunächst als teils aufgezwungene Fremdkörper im Uni-Angebot erschienen, heute wiederum eher prägende Fächer-Angebote der Uni darstellen, gehörte, das bestätigte ebenfalls die abschließende Aussprache, zu besonders hervorgehobenen Unterschieden zwischen damals und heute.

 

Veranstaltungsreihe geht weiter

Es oblag Reiner Wolf, Sprecher des mitveranstaltenden Vereins Soziokultureller Dialog, sich beim Referenten für seine Ausführungen und beim Publikum für die rege Schlussdebatte zu bedanken. In der nächsten Veranstaltung am Donnerstag, 23.06.2022, wird es im VHS-Saal um das Thema „Von der ‚Gastarbeit‘ zur Einwanderung“ gehen. Referent ist ier Tim Zumloh. Letzterer hat sich bereits in Gestalt eines vielbeachteten Aufsatzes in dem von Reiner Wolf und Heiko Schulze herausgegebenen Sammelband „Aufbruch und Krise. Osnabrück in den 70er-Jahren“ mit dem gleichen Thema auseinandergesetzt. Der Eintritt ist erneut frei. Mehr dazu hier …

Hier steht mehr zu den 70ern: den Sammelband zum Osnabrücker Geschehen gibt es im hiesigen Buchhandel Hier steht mehr zu den 70ern: den Sammelband zum Osnabrücker Geschehen gibt es im hiesigen Buchhandel

 

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