Bernhard Schulz (1913 – 2003) war ein Osnabrücker Autor, der keinen Vergleich zu scheuen braucht: 24 Bücher und fast 2.400 (!) Kurzgeschichten sind seit 1934 erschienen. Letztere fanden sich in Zeitungsausgaben, Anthologien und Sammelbänden und sind ein Stück Zeitgeschichte. Nach Auffassung der OR-Redaktion ist dieser markante Schreiber zu Unrecht in Vergessenheit geraten, dessen Geschichten hin und wieder von seinem Freund Fritz Wolf mit einer Karikatur begleitet wurden. Die Ergebnisse sind auch ein Spiegelbild des damaligen, heute oft äußerst befremdlich wirkenden Zeitgeistes. Ein Link zu früheren Folgen und Anmerkungen zu dieser exklusiven OR-Serie am Ende des Textes.
„Fingerübungen für einen Skandal“ 1972
Die Schulferien brachten es mit sich, dass meine Schwester Lisbeth, die drei Jahre älter war als ich, aus dem Internat nach Hause kommen durfte. Meine Mutter hatte sich in den Kopf gesetzt, dass Lisbeth Apothekerin werden sollte, weil Apotheke „eine Sache ist, die sich auszahlt“. Und außerdem hätten wir immer Aspirin und Hustensaft im Schrank. Zum Bild einer Apothekerin gehört auch, dass die Apothekerin Klavier spielen konnte.
Lisbeth erhielt im Internat Klavierunterricht, und es bedeutete für Lisbeth, dass sie in den Ferien, statt unter den Obstbäumen zu liegen und im Wald spazieren zu gehen, auf dem Klavier Fingerübungen machen musste. Der Apotheker im Dorf, das wusste meine Mutter, hatte als Gymnasiast auch immer fleißig geübt. „Ohne Fleiß in den Ferien hätte er es nie zu solch einer hohen Stellung gebracht“, bekam Lisbeth auch von Tante Erna zu hören.
Meine Mutter hatte als junge Frau einen eichenen Schrank voller Tisch- und Bettwäsche und Kisten voller Porzellan mit in die Ehe gebracht, aber an ein Klavier hatte offenbar niemand gedacht.
Mutter fand jedoch bald heraus, dass es im Dorf ein Klavier gab. Das Klavier stand in der guten Stube bei Krechtings und wurde nie benutzt. Die Krechtings hatten, als sie heirateten, Möbel hineingestellt und Gardinen angenagelt, und dann hatten sie das Zimmer nie wieder betreten, mit einer einzigen Ausnahme, das war Weihnachten.
Am Heiligen Abend hatten sie in der guten Stube einen Baum stehen und verteilten Geschenke, und nach dem Fest zog Frau Krechting den Schlüssel ab und versenkte ihn in ein Gefäß, auf dem „Muskat“ stand. Weder sie selbst noch ihr Mann oder gar die Kinder spürten den Drang, den Klavierdeckel zu heben und mit dem Klimpern anzufangen.
Frau Krechting willigte ein, dass ihr Klavier gegen Entgelt auf Schwung gebracht werden durfte. Mit Lisbeth kam nun Leben in das bislang stumme Instrument. Da saß meine Schwester nun auf dem drehbaren Hocker, auf dem eine tote Palme gestanden hatte, und betrieb das Üben.
Wir wussten, dass Lisbeth als begabt angesehen wurde im Internat, und dass sie erwählt worden war, für ein Schulfest eine Etüde zu meistern. Die Etüde hieß „Albumblatt für Elise“. Und der Komponist war Beethoven. Sein Name kam in einem Gesellschaftsspiel vor, das „Komponisten – Quartett“ hieß und das wir an Winterabenden hervorholten, wenn uns das Mensch-ärgere-dich-nicht zum Gemüt heraushing.
Indes meine Schwester auf den verstimmten Saiten Beethovens Etüde vergewaltigte, betrachtete ich den Weihnachtsbaum mit seinen Ästen, an denen keine Nadel mehr hing, jedenfalls keine grüne. Ich dippte die bunten Kugeln an und zerbröselte die Pfeffernüsse, die unter dem Baumgerippe lagen. Damals lernte ich den Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg kennen; er hing als Opa mit Stehhaaren über dem Sofa. Hindenburg war derjenige, der verhindert hatte, dass die Russen in unser Dorf eingefallen waren und mit ihren Kanonen vielleicht sogar die Kirche zerstört hätten.
Ich war zur Gesellschaft mitgegangen, gewissermaßen aus brüderlicher Liebe, und ich hatte Verständnis dafür, dass Lisbeth, die ja von Nonnen erzogen wurde, sich in dem muffigen Raum mit dem nie benutzten Sofa und dem Gerippe von Weihnachtsbaum und vor Paul von Hindenburg fürchtete.
Durch ein Mottenloch in der Gardine beobachtete ich die Schweine, die sich unter den Apfelbäumen in ihren Staubkuhlen suhlten. Einmal saß auch ein Pfau im Baum, der zu Schiffbauers Mühle gehörte, und in der Sonne glitzerte sein Gefieder, als sei es mit Edelsteinen besetzt.
„Spiel doch mal was Lustiges“, bat ich, „einen Schlager oder so was“.
„Was heißt hier ‚lustig‘?“ fragte Lisbeth. „In diesem Zimmer und auf diesem Klavier kann niemand lustig sein, und ich will auch nicht Apothekerin werden“. Ihre Tränen fielen auf die Elfenbeintasten, die gelb waren wie Pferdezähne, und vielleicht waren es Pferdezähne.
Auf dem Hof hörten wir die Sauen grunzen und den Hund bellen. Beethoven war im Alter taub gewesen, und was für eine Elise war das überhaupt? Mitten im Sommer gab es hier diesen ab genadelten Christbaum und die ranzigen Nüsse und den Holzwurm, der das Klavier fraß. Mich packte der Zorn. Ich stieß den Baum um, ich riss das Fenster auf, ich zertrat die Glaskugeln. Und Lisbeth – was tat Lisbeth? Was brach in ihrem Herzen auf? Wie befreiten sich ihre zarten Finger von Beethovens Etüde.
Lisbeth fing lauthals an zu singen. Sie klimperte, hackte, holzte den Gassenhauer, „wenn der weiße Flieder wieder blüht“ in die gelben Pferdezähne. Sie sang die Strophen rauf und runter, den ganzen Text, die ganze Musik, die ganze Schnulze: „Immer immer wiehdär … knie ich vor Dir niehdär … trink mit Dir den Duft vom weißen Fliehdär…“ Die Nonnenlisbeth war wie verwandelt. Sie hatte es hinter sich. Sie hatte sich befreit von Tränen, Nonnen und Etüden – und von dem schäbigen Rest einer Weihnacht.
Das Klavier schrie, der Holzwurm machte Mehl vor Schreck. Die Gardinen blähten sich. Die bunten Kugeln knirschten unter meinen Sohlen. Endlich war der Bann gebrochen. Endlich wehte Sommerluft ins Zimmer. Endlich war der Spuk verflogen.
Frau Krechting sprach von undankbaren Kindern und von einem Skandal, der sich auf ihrem Hof abgespielt hätte. Niemals wieder würde sie dulden, dass jemand die Tasten ihres Klaviers berühre. Und es hat auch niemals wieder ein Kind auf diesen Pferdezähnen gespielt.

Ganz im Gegensatz zu Bernhard Schulz hat es sein enger Freund Fritz Wolf (1918-2001) bis heute in die Ahnengalerie von solchen Osnabrückerinnen und Osnabrückern geschafft, die über Jahrzehnte, von der NOZ bis zum Stern, erfolgreich versucht haben, den deutschen Zeitgeist textlich oder zeichnerisch zu spiegeln. Immer wieder ergeben sich bis heute aktuelle Anlässe, um an den Meister des feinen Federstrichs mit seinen stets liebevoll in Szene gesetzten Prominenten zu erinnern.

Kurzum: Anlässe genug, fortan eine neue OR-Serie zu starten, in der ausgewählte Kurzgeschichten von Bernhard Schulz mitsamt ihrer zeichnerischen Begleitung durch Fritz Wolf vorgestellt werden. Herzlich gedankt sei an dieser Stelle Ansgar Schulz-Mittenzwei, der die neue Serie im vertrauensvollen Kontakt zur OR-Redaktion erst ermöglicht hat und der bis heute in liebevoller Weise das literarische Erbe seines Vaters verwaltet.

Alle Schulz-Geschichten sowie etliche Wolf-Zeichnungen besitzen eine einzige Quelle, die in jüngster Zeit, ebenfalls durch das entscheidende Mitwirken seines Sohnes Ansgar, erscheinen konnte. Entnommen sind sie nämlich dem Schulz-Buch „Den Löwenzahn zermalmt nicht die Kesselpauke oder Hinwendung zur Geborgenheit. 200 kurze Geschichten der Jahre 1945-1965.“ Das kompakte Werk ist im Buchhandel (beispielsweise bei Wenner), online oder direkt über die Website www.BernhardSchulz.de erhältlich.
Alle bislang in der OR erschienenen Geschichten gibt es hier
Neugierigen seien darüber hinaus diese Internetseiten ans Herz gelegt:
Webseite von Bernhard Schulz
Wikipedia über Bernhard_Schulz
Webseite Fritz Wolf
Interview mit Ansgar Schulz Mittenzwei, dem Sohn von B. Schulz