Sonntag, 12.00 Uhr: Bernhard Schulz (heute ohne Fritz Wolf) – „Haben wir das vergessen?“ – 24. Dezember 1946

Bernhard Schulz (1913 – 2003) war ein Osnabrücker Autor, der keinen Vergleich zu scheuen braucht: 24 Bücher und fast 2.400 (!) Kurzgeschichten sind seit 1934 erschienen. Letztere fanden sich in Zeitungsausgaben, Anthologien und Sammelbänden und sind ein Stück Zeitgeschichte. Nach Auffassung der OR-Redaktion ist dieser markante Schreiber, dessen Geschichten zumeist von seinem Freund Fritz Wolf mit einer Karikatur begleitet wurden, zu Unrecht in Vergessenheit geraten.

 

Bernhard Schulz
„Haben wir das vergessen?“ – 24. Dezember 1946
(Links zu früheren Folgen und Anmerkungen zu dieser exklusiven OR-Serie am Ende des Textes)

Haben wir vergessen, dass wir in Russland gewesen sind? Russland, das ist für uns immer noch der Krieg. Wenn wir Russland hören, hören wir das Feuer. Wenn wir Russland sehen – in den Zeitungen und auf Bildern ist Russland zu sehen –  dann sehen wir Schnee.

Aber der Schnee ist nicht alles. Der Schnee war nicht allein Russland. Da waren rote Spuren im Schnee, die sich schwammig ausdehnten, wie auf Löschpapier.  Da waren jene schwarzen Flecken, die von den Einschlägen der Artillerie herrührten und von Bomben. Brandmale der Schlacht. Der Krieg schrieb seine Sprache in den Schnee.

Es ist nicht so, dass wir etwas gegen Russland gehabt hätten. Wir hätten den Schnee liebgewinnen können. Auch die Menschen hätten wir liebgewinnen können und das Petroleumlicht in den Hütten und die

Lehmöfen mit ihrer guten Wärme. Vielleicht hätten uns sogar die Birken zugesagt mit der Zeit. Aber sie nahmen ja das Birkenholz, um Kreuze daraus zu machen für die Toten.

Am Heiligen Abend erreichten wir einen Ort, der Kotobitschi hieß. Ich habe nie begriffen, wer das war, der immer gleich den richtigen Namen wusste. Man vergisst nicht, wo man sich am Heiligen Abend aufgehalten hat.

Damals waren wir also in Kotobitschi. Es war ein dickverschneites Nest mit dreiunzwanzig Hütten und einer Kirche in der Mitte, aus der sie eine Traktorenwerkstatt gemacht hatten. Der Kompaniechef schenkte jedem von uns fünfzig Schuss Gewehrmunition. Nichts Grünes dran, bewahre. Auf dem Kalender stand „Weihnachten“.

Wir waren abgelöst worden. Die Front wummerte jetzt in unserem Rücken. Leuchtkugeln flirrten durch den schneegrauen Himmel. Aus den Hütten säulte gelblicher Rauch: verbranntes Holz aus den tiefen russischen Wäldern, durch die der Wolf strich.

Und es roch auch nach Holz. Bei großer Kälte gibt es nichts tröstlicheres als den Geruch von verbranntem Holz.

Die Tür öffnete sich. Unsere Augen waren noch blind von der Dunkelheit draußen. Dastehen und glotzen, das Gewehr im Anschlag. Woina* nix gutt, dachten sie jetzt da drinnen an ihrem breiten Lehmofen und den Ikonen in der Ecke und den gackernden Hühnern im Korb.

Seht die Madka mit dem Tuch um den Kopf und den bärtigen Muschick**! Die Kinder lagen auf dem Ofen und fürchteten sich. Im Kalender stand „Weihnachten“. Das hatten sie stehen lassen, kein General wusste warum. Es hätte besser nicht dagestanden; denn an diesem Abend waren wir nicht tapfer genug, um einen Krieg zu gewinnen.

Die Russen wussten nicht, dass Heiliger Abend war. Für die Leute von Kotobitschi kam Weihnachten erst im Januar.  Aber der bärtige Mann setzte den Samowar in Gang, und die Frau reichte den fremden Soldaten Brot und Salz und heiße Kartoffeln. Im Ikonenwinkel glühte das Lämpchen. Woina nix gutt, sagte sie.

Der Korporal rückte eine Bank vor das Ofenloch, und da hockten wir nun und starrten in das flackernde Feuer, und länger als eine halbe Stunde würden sie uns hier nicht sitzen lassen, das wussten wir. Das Eis taute aus Nase und Augenbrauen. Die Lippen brannten in der Wärme. Die Füße schmerzten vom Frost. Im Schein des Petroleumslichts hatte der Russe einen Kopf wie ein Apostel. Er lächelte, als er uns den Tee in den Becher goss. Serafim, sagte er, ich heiße Serafim.

Es ist nicht wahr, dass wir dann „Stille Nacht“ gesungen haben. Niemand hat davon geredet, dass er daheim sein möchte und dass ihn dieser verdammte Krieg nichts angeht. Es stimmt nicht, dass irgendjemand gerührt war und dass der Korporal dem Muschick Familienfotos gezeigt hat.

Wir saßen da und atmeten Wärme und schlürften Tee und hörten den Samowar singen und das Holz knistern. Wir dachten an nichts. Eine halbe Stunde lang dachten wir an nichts. Weil Heiliger Abend war, hatten wir die Helme abgesetzt und die Gewehre gesichert.

Tapfer waren wir nicht, das ist wahr. Niemand hätte mit uns eine Schlacht gewinnen können. Nicht in dieser Nacht.

*Woina steht für „Krieg“ (Russisch: Война)
**Muschik, ein einfacher russischer Bauer im zaristischen Russland (Russisch:  мужик) 

 


Anmerkungen zu dieser exklusiven OR-Serie

Bernhard Schulz (1913 – 2003) dürfte ein Osnabrücker Autor sein, der nicht nur in seiner Heimatstadt wahrhaftig keinen Vergleich zu scheuen braucht: Stolze 24 Bücher und fast 2.400 (!) Kurzgeschichten sind seit 1934 erschienen. Letztere fanden sich in Zeitungsausgaben, Anthologien und Sammelbänden. Völlig zu Unrecht, das ist zumindest die Auffassung der OR-Chefredaktion, ist dieser markante Schreiber heutzutage fast in Vergessenheit geraten. Wir drucken die Geschichten im Original ab.

Eine bemerkenswerte Resonanz erfuhr in der Osnabrücker Rundschau eine Reportage von Heiko Schulze, der sich Anfang Juli dieses Jahres mit dem reichhaltigen Wirken des Osnabrücker Journalisten und Schriftstellers auseinandergesetzt hat. Dies nebenbei nicht ohne Anlass: Wie Hans Wunderlich, Josef Burgdorf oder Karl Kühling zählte Schulz anno 1946 zum Redaktionsteam der damaligen Osnabrücker Rundschau, der leider nur ein kurzes Zeitungsleben zuteil wurde.

Redakteur Bernhard Schulz mit der OR-Erstausgabe vom 1. März 1946Redakteur Bernhard Schulz mit der OR-Erstausgabe vom 1. März 1946

Ganz im Gegensatz zu Bernhard Schulz hat es sein enger Freund Fritz Wolf (1918-2001) bis heute in die Ahnengalerie von solchen Osnabrückerinnen und Osnabrückern geschafft, die über Jahrzehnte, von der NOZ bis zum Stern, erfolgreich versucht haben, den deutschen Zeitgeist textlich oder zeichnerisch zu spiegeln. Immer wieder ergeben sich bis heute aktuelle Anlässe, um an den Meister des feinen Federstrichs mit seinen stets liebevoll in Szene gesetzten Prominenten zu erinnern.

Sohn Ansgar und Bernhard SchulzSohn Ansgar und Bernhard Schulz

Kurzum: Anlässe genug, fortan eine neue OR-Serie zu starten, in der ausgewählte Kurzgeschichten von Bernhard Schulz mitsamt ihrer zeichnerischen Begleitung durch Fritz Wolf vorgestellt werden. Herzlich gedankt sei an dieser Stelle Ansgar Schulz-Mittenzwei, der die neue Serie im vertrauensvollen Kontakt zur OR-Redaktion erst ermöglicht hat und der bis heute in liebevoller Weise das literarische Erbe seines Vaters verwaltet.

 

Bernhard Schulz und Fritz Wolf 1951Bernhard Schulz und Fritz Wolf 1951

Alle Schulz-Geschichten sowie etliche Wolf-Zeichnungen besitzen eine einzige Quelle, die in jüngster Zeit, ebenfalls durch das entscheidende Mitwirken seines Sohnes Ansgar, erscheinen konnte. Entnommen sind sie nämlich dem Schulz-Buch „Den Löwenzahn zermalmt nicht die Kesselpauke oder Hinwendung zur Geborgenheit. 200 kurze Geschichten der Jahre 1945-1965.“ Das kompakte Werk ist im Buchhandel (beispielsweise bei Wenner), online oder direkt über die Website www.BernhardSchulz.de erhältlich.


Neugierigen seien überdies diese Internet-Seiten ans Herz gelegt:
Webseite von Bernhard Schulz
Wikipedia über Bernhard_Schulz 
Webseite Fritz Wolf
Interview mit Ansgar Schulz Mittenzwei, dem Sohn von B. Schulz

Bislang in der OR erschienen:
Geschichte vom 21.11.2021
Geschichte vom 28.11.2021
Geschichte vom 05.12.2021
Geschichte vom 12.12.2021
Geschichte vom 19.12.2021

Geschichte vom 26.12.2021
Geschichte vom 02.01.2022
Geschichte vom 09.01.2022
Geschichte vom 16.01.2022
Geschichte vom 23.01.2022
Geschichte vom 30.01.2022
Geschichte vom 06.02.2022
Geschichte vom 13.02.2022
Geschichte vom 20.02.2022
Geschichte vom 27.02.2022
Geschichte vom 06.03.2022
Geschichte vom 13.03.2022
Geschichte vom 20.03.2022
Geschichte vom 27.03.2022
Geschichte vom 03.04.2022
Geschichte vom 10.04.2022
Geschichte vom 17.04.2022
Geschichte vom 24.04.2022
Geschichte vom 01.05.2022
Geschichte vom 08.05.2022
Geschichte vom 15.05.2022
Geschichte vom 22.05.2022
Geschichte vom 29.05.2022
Geschichte vom 05.06.2022
Geschichte vom 12.06.2022
Geschichte vom 19.06.2022
Geschichte vom 26.06.2022
Geschichte vom 03.07.2022
Geschichte vom 10.07.2022
Geschichte vom 17.07.2022
Geschichte vom 24.07.2022

Geschichte vom 31.07.2022
Geschichte vom 07.08.2022
Geschichte vom 14.08.2022
Geschichte vom 21.08.2022
Geschichte vom 28.08.2022
Geschichte vom 04.09.2022
Geschichte vom 11.09.2022
Geschichte vom 18.09.2022
Geschichte vom 25.09.2022
Geschichte vom 02.10.2022
Geschichte vom 09.10.2022
Geschichte vom 16.10.2022
Geschichte vom 23.10.2022
Geschichte vom
30.10.2022
Geschichte vom 06.11.2022
Geschichte vom 13.11.2022
Geschichte vom 20.11.2022
Geschichte vom 27.11.2022 
Geschichte vom 04.12.2022
Geschichte vom 11.12.2022

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