Bernhard Schulz (1913 – 2003) war ein Osnabrücker Autor, der keinen Vergleich zu scheuen braucht: 24 Bücher und fast 2.400 (!) Kurzgeschichten sind seit 1934 erschienen. Letztere fanden sich in Zeitungsausgaben, Anthologien und Sammelbänden und sind ein Stück Zeitgeschichte. Nach Auffassung der OR-Redaktion ist dieser markante Schreiber zu Unrecht in Vergessenheit geraten, dessen Geschichten hin und wieder von seinem Freund Fritz Wolf mit einer Karikatur begleitet wurden. Die Ergebnisse sind auch ein Spiegelbild des damaligen, heute oft äußerst befremdlich wirkenden Zeitgeistes. Ein Link zu früheren Folgen und Anmerkungen zu dieser exklusiven OR-Serie am Ende des Textes.
„Die kleinen süßen Gräuel“ 1962
Manchmal abends, wenn die Damen das Büro verlassen haben und hie und da noch einen Hauch von Parfüm und Zigarettenrauch über den Tischen schwebt, macht Herr Niggemann seine „kleine Runde“, wie er sagt, denn schließlich ist Herr Niggemann Abteilungsleiter. Er ist für Ordnung in seinem Bereich verantwortlich. Außerdem erwartet man von einem Angestellten in gehobener Position, dass er Würde und Fleiß über den Bürostuhl hinaus zu wahren versteht.
Herr Niggemann beugt sich zu den Schreibtischen nieder und lächelt über gewisse Gegenstände, die er nachsichtig duldet. In seinem Herzen nennt er sie jedoch „kleine süße Gräuel“. Es ist nämlich so, dass die Damen seines Büros Leere und Langeweile ihres Broterwerbs mit Nichtigkeiten auszufüllen trachten, wie es zum Beispiel dieser Kaktus ist, der neben der Federschale von Fräulein Görlitz steht. Du lieber Himmel, ist es möglich, dass jemand an einem derart stacheligen Ding Trost findet?
Blumen stehen freilich überall. Herr Niggemann gibt zu, dass sich gegen Blumen nichts einwenden lässt. Aber die Fische über der Schreibmaschine von Fräulein Staff sind nun doch ein bisschen zu viel des Guten. „Trockenaquarium“ nennen die Damen dieses Gebilde aus haarfeinem Draht und pergamentenen bunten Fischlein, das da von der Decke herabhängt und zittert und nie zur Ruhe gelangt.
In diesen quirligen Fischlein kommen der innere Aufruhr seiner Damen gegen die Büroarbeit und ihre Sehnsucht nach Freiheit zum Ausdruck. Herr Niggemann pustet etwas und treibt die Fischlein, deren jedes eine weibliche Bürokraft darzustellen scheint, in einem Wirbel lautloser Empörung, der wie Ballett anmutet. Hübsch, nicht wahr?
Dann nimmt er jenes Teakholzmännlein zur Hand, das Fräulein Friedrichs aus Göteborg mitgebracht hat. Es ist ein troll ähnliches Kerlchen mit Augen aus grünem Glas und Haaren aus weißem Hanf. Plötzlich spürt er, dass er eifersüchtig ist. Er ist verliebt. Er hat es auf dieses Fräulein Friedrichs abgesehen. Er leidet schon seit Monaten an seiner Verlegenheit dem schönen Geschöpf gegenüber. Er besitzt nicht den Mut, sie anzusprechen. Und nun hat ihr jemand diesen Troll geschenkt, womöglich zur ewigen Erinnerung. Ist ihr Herz überhaupt noch frei?
Er stellt den Troll zurück und wirft sich vor, dass er indiskret gewesen sei. Pfui, sagt Herr Niggemann zu sich selbst.
Weiterhin betrachtet er einen Aschenbecher, dessen Glasboden mit Briefmarken der jugoslawischen Post unterlegt ist. Er spielt mit einer Ratte aus Brot, die für Hameln an der Weser Reklame macht, und er bewundert die Zärtlichkeit einer Gruppe hölzerner Rehe aus Oberammergau. Kleine süße Gräuel, denkt er, was haben sie nur davon?
Er geht heim, in seine triste Junggesellenbude und zu seiner bösen Wirtin. Der Troll auf Fräulein Friedrichs Schreibtisch lässt ihn nicht in Ruhe. Er fragt sich, was ein neunzehnjähriges Fräulein in Schweden zu suchen hat. Er kennt die schwedischen jungen Männer nicht, aber er verspricht sich in diesem Augenblick nichts Gutes von ihnen. Und warum schenkt Fräulein Friedrichs einem Troll ihre Aufmerksamkeit? Liegt es daran, dass der Troll aus Teak ist?
Herr Niggemann beginnt alles zu lesen, was er in seinem Bücherregal über schwedische Männer und Trolle und dergleichen finden kann. Anderntags fängt er mit Fräulein Friedrichs ein Gespräch über Skandinavien an: „Ich habe zufällig gehört, dass Sie in Schweden waren, liebe Kollegin. Auch meine Interessen gehören dem Knäckebrot und den Trollen. Ich esse Stockfisch mit Vergnügen. Diese herrlichen Wälder im Norden! Das Meer und die Einsamkeit!“ Und so weiter und so fort und immer dann, wenn er zur Auffrischung eine kleine Pause für notwendig erachtet. Man lacht viel und bläst die Fischlein an und gründet einen gemeinsamen Kaffeetopf.
Und so kommt es denn, dass Herr Niggemann und Fräulein Friedrichs ein Paar werden. Das Teakholzmännlein halten sie in Ehren, diesen kupplerischen Troll mit seinen grünen Augen und dem Bart aus Hanf, diesem Gräuel aus einem Arbeitskerker, diese süße Nichtigkeit, die doch so Großes vollbrachte wie dies: die Liebe anzuspornen.

Ganz im Gegensatz zu Bernhard Schulz hat es sein enger Freund Fritz Wolf (1918-2001) bis heute in die Ahnengalerie von solchen Osnabrückerinnen und Osnabrückern geschafft, die über Jahrzehnte, von der NOZ bis zum Stern, erfolgreich versucht haben, den deutschen Zeitgeist textlich oder zeichnerisch zu spiegeln. Immer wieder ergeben sich bis heute aktuelle Anlässe, um an den Meister des feinen Federstrichs mit seinen stets liebevoll in Szene gesetzten Prominenten zu erinnern.

Kurzum: Anlässe genug, fortan eine neue OR-Serie zu starten, in der ausgewählte Kurzgeschichten von Bernhard Schulz mitsamt ihrer zeichnerischen Begleitung durch Fritz Wolf vorgestellt werden. Herzlich gedankt sei an dieser Stelle Ansgar Schulz-Mittenzwei, der die neue Serie im vertrauensvollen Kontakt zur OR-Redaktion erst ermöglicht hat und der bis heute in liebevoller Weise das literarische Erbe seines Vaters verwaltet.

Alle Schulz-Geschichten sowie etliche Wolf-Zeichnungen besitzen eine einzige Quelle, die in jüngster Zeit, ebenfalls durch das entscheidende Mitwirken seines Sohnes Ansgar, erscheinen konnte. Entnommen sind sie nämlich dem Schulz-Buch „Den Löwenzahn zermalmt nicht die Kesselpauke oder Hinwendung zur Geborgenheit. 200 kurze Geschichten der Jahre 1945-1965.“ Das kompakte Werk ist im Buchhandel (beispielsweise bei Wenner), online oder direkt über die Website www.BernhardSchulz.de erhältlich.
Alle bislang in der OR erschienenen Geschichten gibt es hier
Neugierigen seien darüber hinaus diese Internetseiten ans Herz gelegt:
Webseite von Bernhard Schulz
Wikipedia über Bernhard_Schulz
Webseite Fritz Wolf
Interview mit Ansgar Schulz Mittenzwei, dem Sohn von B. Schulz