Bernhard Schulz (1913 – 2003) war ein Osnabrücker Autor, der keinen Vergleich zu scheuen braucht: 24 Bücher und fast 2.400 (!) Kurzgeschichten sind seit 1934 erschienen. Letztere fanden sich in Zeitungsausgaben, Anthologien und Sammelbänden und sind ein Stück Zeitgeschichte. Nach Auffassung der OR-Redaktion ist dieser markante Schreiber zu Unrecht in Vergessenheit geraten, dessen Geschichten hin und wieder von seinem Freund Fritz Wolf mit einer Karikatur begleitet wurden. Die Ergebnisse sind auch ein Spiegelbild des damaligen, heute oft äußerst befremdlich wirkenden Zeitgeistes. Ein Link zu früheren Folgen und Anmerkungen zu dieser exklusiven OR-Serie am Ende des Textes.
„Hansens Schwebende Weltkugel“ 1961
Das Schützenfest, war, von Weihnachten abgesehen, das bemerkenswerteste Ereignis des Jahres. An den Tagen vor dem Fest liefen und radelten wir den Karussellbesitzern und Glücksbudeninhabern entgegen, um ihnen unsere Dienste als Handlanger anzubieten. Die Kräftigsten unter uns verdienten sich auf diese Weise das Taschengeld für die Feiertage.
Was mich anbetraf, so war ich weder kräftig noch geschickt. Für die Laufbahn eines Hilfsarbeiters im Schaustellergewerbe kam ich nicht in Frage. Ich war von einem Jungen, der drei Jahre älter war als ich, einmal sogar verhauen worden, weil meine Mutter mich mit einem weißen Umlegekragen den Karussellbesitzern entgegengeschickt hatte. Ein weißer Kragen und ein sauberer Hals waren unvereinbar mit dem Kraftdünkel eines Dorfburschen. »Du mit deinem weißen Kragen«, sagte er und schlug mich ins Gesicht, so dass ich Nasenbluten bekam und umkehren musste.
Ich hatte meines vornehmen Äußeren wegen keine Chance, beim Aufbau einer Schießbude oder gar der Luftschaukel helfen zu dürfen und dafür Freikarten zu erhalten, obwohl ich eine Hasenpfote in der Tasche trug, die Glück bringen sollte. Den Hinweis auf die Hasenpfote als Glücksbringer hatte mir Tante Erna gegeben, die uns ja vor einiger Zeit einen Hasen mitgebracht hatte.
Schließlich fügte es der Zufall, dass ich doch eingestellt wurde, und zwar beim Direktor eines Fahrgeschäfts, das sich »Schwebende Weltkugel« nannte. Der Direktor hieß Hansen und hatte in der Bank mit meinem Vater geschäftlich zu tun gehabt.
»Was halten Sie davon«, fragte mein Vater, »wenn Sie meinen Jungen einstellen? Er möchte sich ein paar Freikarten verdienen.«
»Mitkommen«, sagte Herr Hansen sanft wie jemand, der Bonbons verteilt, mitkommen, mein Sohn.« Hansens Schwebende Weltkugel war ein Karussell, das auf einem mit Zelttuch umspannten Fundament ruhte und auf einer Laufplanke in diesem Zelt von zwölf kräftigen Burschen an Stricken fortbewegt und derart auf und nieder gezogen werden musste, daß es den Fahrgästen oben ungefähr wie eine rollende oder schwebende Kugel vorkam.
In Direktor Hansens schwebenden Plüschsofas zu sitzen und sich kreiseln zu lassen war gewiss nicht übel und wurde in der Hauptsache von Liebespärchen wahrgenommen. Auf der Laufplanke im halbdunklen Zelt jedoch hatte dieses Vergnügen den verteufelten Anstrich von Strafarbeit. Ich kam leider zu spät dahinter, dass ich hereingefallen war. Hansens Schwebende Weltkugel war eine Galeere.
Aber ich gab nicht nach. Jetzt wollte ich den gerissenen Burschen zeigen, wieviel Heldentum auch in einem weißen Kragen stecken kann. Mit mir auf der Laufplanke zogen Waisenkinder, Dummköpfe und Habenichtse. Wir wetzten im Laufschritt über die knarrenden Bretter, warfen uns hin, wenn das Karussell herabsank, und wurden an unseren Stricken emporgerissen, wenn es hochschnellte. Direktor Hansens Glocke hielt uns in Schwung. Herr Hansen hatte eine Art, »Heißa, die Kugel! Nun aber ran, ihr Kerls!« zu rufen, der niemand widerstehen konnte.
Angewidert vom Gekreisch der Liebenden über mir und durchwalkt vom Lärm der Orgel, die abwechselnd den »Einzug der Gladiatoren« und den »Florentiner Marsch« spielte, um jault vom Trubel eines ländlichen Festes, verbrachte ich im Unterdeck zu Hansens schwebendem und kugelndem Plüschsalon den scheußlichsten Sonntagnachmittag meiner Knabenzeit.
Nun aber ran, ihr Kerls . . .
Mein weißer Kragen war durchgeschwitzt, meine Knie bluteten, mein Kopf trug Beulen, meine Zunge war vor Durst dick geschwollen, mein Magen knurrte vor Hunger, mein Anzug war schmutzig. Mein körperlicher und seelischer Zustand war der eines Muttersöhnchens, dem man gezeigt hat, wie unbarmherzig das Leben ist.
Als ich nach der vereinbarten Dreistundenschicht neben Herrn Hansens Kasse erschien, wurden mir von einem bulligen Angestellten zehn Freikarten in die schrundige Hand gezählt. »Gut gemacht, mein Sohn«, lobte mich der Herr der Schwebenden Weltkugel.
Ich kletterte zum Karussell empor und lehnte mich aufatmend an die Brüstung. Jetzt wollte ich dazu übergehen, das Leben zu genießen. Jetzt sollten mich die anderen ziehen, jetzt sollte Herr Hansen mich in Stimmung bringen.
Heißa, die Kugel, heißa …
Inzwischen war es Abend geworden. Die Schützen zogen mit Fackeln und Blasmusik vorbei, um das Königspaar zum Krönungsball abzuholen. Es duftete nach Frühling und Schmalzgebäck. Und was erblickte ich da? Ich erblickte ein Mädchen, das ich heimlich verehrte. Friedelind, so hieß die Schöne, ahnte nichts von meiner Zuneigung, und das konnte sie auch nicht, da ich nie ein Wort mit ihr gesprochen hatte. Ein weißer Kragen allein reichte bei Friedelind nicht aus, um anzukommen.
Aber an diesem Abend sah ich eine Chance nahen. Ich hatte etwas geleistet, das belohnt worden war. Ich war in Hansens vorchristlichem Unterdeck gewesen und hatte nicht aufgegeben. Ich hatte Charakter gezeigt. War ich mit weißem Kragen jetzt nicht ebenso viel wert wie einer meiner gerissenen Brüder?
Ich wartete die Pause ab, in der die Gäste die Plüschbänke verließen und neu belegten, näherte mich der schönen Friedelind und drückte ihr meine zehn Freikarten in den Schoß.
Glocke, Marsch und Heißa, die Kugel! Nun aber ran, ihr Kerls! Das Karussell fing wieder an zu schweben und zu kreiseln. Immer, wenn Friedelind vorüberflog, beobachtete ich sie. Sie drehte die weißen Kärtchen her und hin, musterte mich neugierig und ließ jedes Mal, wenn sie über mir schwebte, sorgfältig zerfetzte Freikarten auf mich herabrieseln.
»Da hast du deine Frei. .. Frei. . . Freikarten«, rief sie, indem sie meine Schwäche nun auch noch verhöhnte.

Ganz im Gegensatz zu Bernhard Schulz hat es sein enger Freund Fritz Wolf (1918-2001) bis heute in die Ahnengalerie von solchen Osnabrückerinnen und Osnabrückern geschafft, die über Jahrzehnte, von der NOZ bis zum Stern, erfolgreich versucht haben, den deutschen Zeitgeist textlich oder zeichnerisch zu spiegeln. Immer wieder ergeben sich bis heute aktuelle Anlässe, um an den Meister des feinen Federstrichs mit seinen stets liebevoll in Szene gesetzten Prominenten zu erinnern.

Kurzum: Anlässe genug, fortan eine neue OR-Serie zu starten, in der ausgewählte Kurzgeschichten von Bernhard Schulz mitsamt ihrer zeichnerischen Begleitung durch Fritz Wolf vorgestellt werden. Herzlich gedankt sei an dieser Stelle Ansgar Schulz-Mittenzwei, der die neue Serie im vertrauensvollen Kontakt zur OR-Redaktion erst ermöglicht hat und der bis heute in liebevoller Weise das literarische Erbe seines Vaters verwaltet.

Alle Schulz-Geschichten sowie etliche Wolf-Zeichnungen besitzen eine einzige Quelle, die in jüngster Zeit, ebenfalls durch das entscheidende Mitwirken seines Sohnes Ansgar, erscheinen konnte. Entnommen sind sie nämlich dem Schulz-Buch „Den Löwenzahn zermalmt nicht die Kesselpauke oder Hinwendung zur Geborgenheit. 200 kurze Geschichten der Jahre 1945-1965.“ Das kompakte Werk ist im Buchhandel (beispielsweise bei Wenner), online oder direkt über die Website www.BernhardSchulz.de erhältlich.
Alle bislang in der OR erschienenen Geschichten gibt es hier
Neugierigen seien darüber hinaus diese Internetseiten ans Herz gelegt:
Webseite von Bernhard Schulz
Wikipedia über Bernhard_Schulz
Webseite Fritz Wolf
Interview mit Ansgar Schulz Mittenzwei, dem Sohn von B. Schulz