Bernhard Schulz (1913 – 2003) war ein Osnabrücker Autor, der keinen Vergleich zu scheuen braucht: 24 Bücher und fast 2.400 (!) Kurzgeschichten sind seit 1934 erschienen. Letztere fanden sich in Zeitungsausgaben, Anthologien und Sammelbänden und sind ein Stück Zeitgeschichte. Nach Auffassung der OR-Redaktion ist dieser markante Schreiber zu Unrecht in Vergessenheit geraten, dessen Geschichten hin und wieder von seinem Freund Fritz Wolf mit einer Karikatur begleitet wurden. Die Ergebnisse sind auch ein Spiegelbild des damaligen, heute oft äußerst befremdlich wirkenden Zeitgeistes. Ein Link zu früheren Folgen und Anmerkungen zu dieser exklusiven OR-Serie am Ende des Textes.
„Helga und die taufrische Liebe im Kleinformat“ 1968
Er ist umgezogen und erfreut sich jetzt einer anderen Hausnummer. Die Fußböden in der neuen Wohnung stehen voller Kartons, in die er Wäsche, Geschirr und Bücher hineingestopft hat. Auf dem Boden einer dieser Kartons, die der Spediteur zur Verfügung gestellt hat, findet er die Fotografie eines Mädchens, das vielleicht sechzehn oder siebzehn ist, eines jener billigen braungelben Bildchen, die man im Warenhaus oder im Hauptbahnhof aus dem Automaten zieht. Kleinformat.
Es ist das Gesicht einer Schülerin, die heute Morgen einer Ballade wegen, die sie fehlerfrei aufgesagt hat, vom Deutschlehrer gelobt worden ist. Er weiß nicht, wie er darauf kommt, dass es eine Ballade gewesen sein soll. Balladen, denkt er, bringen etwas Tragisch-Pathetisches auf. Er betrachtet das Bildchen, den Kopf einer Sechzehnjährigen, die heiter und unbekümmert ins Dasein blickt.
Das Foto lag auf dem Boden einer dieser Kartons. Sicher ist es bei einem Umzug, der vorher stattgefunden hat, aus dem Trödelkram eines Jungen herausgerutscht. Auf der Rückseite des Fotos ist in einer Handschrift, die sich des Schönschreibens befleißigt, vermerkt: „Für Wolfgang von seiner Helga“. Das Datum liegt drei Wochen zurück. Ach, eine Jugendliebe, ganz und gar taufrische Liebe, eine Liebe im Kleinformat. Und nun hat Wolfgang Bild und Widmung verloren. Sie sind in fremde Hände geraten, in den Bereich von Menschen, die sich vielleicht empört über die Herzensangelegenheit zweier junger Menschen äußern werden: „So jung und schon auf Freiers Füßen, es ist nicht zu fassen.“
„Von seiner Helga“, steht da. Wer ist Helga und wer ist Wolfgang, sind es Kinder der Stadt, in der auch der Finder lebt? Fragen über Fragen, und wie verhält man sich nun. Der Mann ist kein Grobian, kein Rohling, kein Snob, der sich um Liebe nicht kümmert. Er stellt sich unter Wolfgang einen Knaben vor, der verzweifelt seine kleinen Verstecke nach dem Bildchen absucht. Der Mann weiß, dass ein Foto mit Widmung wertvoller sein kann als eine Aktie. Der Verlust einer Liebesbotschaft kann tiefer schmerzen als Betrug. Er, der Finder, der Mann der umgezogen ist, hat Ähnliches erlebt. Mitschüler hatten ihm den Liebesbrief eines Mädchens entrissen und ihn dem Spott der Klasse ausgesetzt.
Da liegt das Bildchen aus dem Automaten im Hauptbahnhof. Sein materieller Wert lohnt nicht die Mühe, eine Aktion daraus zu machen. Soll er es der Firma, die den Umzug durchgeführt hat, zurückschicken? Eine Kleinanzeige aufgeben? Zum Fundbüro gehen?
Gerne würde der Mann das Bildchen in Wolfgangs Tasche zurück zaubern. Aber wer unter den Hunderten von Schülern, die aus den Klassenzimmern stürmen, ist dieser Wolfgang, der von einer Sechzehnjährigen geliebt wird? Wie sieht er aus? Ringe in den Ohren und ein Rattenschwänzchen im Genick? Sieht man ihm die Angst an, dass Helga fragen wird: „Bedeutet dir meine Liebe so wenig?“ Oder hat Helga diesen Satz bereits hingeschmettert, und ist daran die Liebe zerbrochen?
Der Kehricht eines Umzugs, und so viel Aufhebens um ein Stückchen Pappe aus dem Automaten. Der Mann zündet eine Kerze an. Es ist eine Kerze aus Honigwachs, die er aus Griechenland mitgebracht hat.
Er lässt das Bildchen langsam an der Flamme zergehen. Süßer Duft belohnt den Entschluss zur Einäscherung, und laut denkt er in den Raum hinein, in dem seine Bücher auf Regale warten, er denkt: Letzten Endes geht doch alles in Rauch auf.

Ganz im Gegensatz zu Bernhard Schulz hat es sein enger Freund Fritz Wolf (1918-2001) bis heute in die Ahnengalerie von solchen Osnabrückerinnen und Osnabrückern geschafft, die über Jahrzehnte, von der NOZ bis zum Stern, erfolgreich versucht haben, den deutschen Zeitgeist textlich oder zeichnerisch zu spiegeln. Immer wieder ergeben sich bis heute aktuelle Anlässe, um an den Meister des feinen Federstrichs mit seinen stets liebevoll in Szene gesetzten Prominenten zu erinnern.

Kurzum: Anlässe genug, fortan eine neue OR-Serie zu starten, in der ausgewählte Kurzgeschichten von Bernhard Schulz mitsamt ihrer zeichnerischen Begleitung durch Fritz Wolf vorgestellt werden. Herzlich gedankt sei an dieser Stelle Ansgar Schulz-Mittenzwei, der die neue Serie im vertrauensvollen Kontakt zur OR-Redaktion erst ermöglicht hat und der bis heute in liebevoller Weise das literarische Erbe seines Vaters verwaltet.

Alle Schulz-Geschichten sowie etliche Wolf-Zeichnungen besitzen eine einzige Quelle, die in jüngster Zeit, ebenfalls durch das entscheidende Mitwirken seines Sohnes Ansgar, erscheinen konnte. Entnommen sind sie nämlich dem Schulz-Buch „Den Löwenzahn zermalmt nicht die Kesselpauke oder Hinwendung zur Geborgenheit. 200 kurze Geschichten der Jahre 1945-1965.“ Das kompakte Werk ist im Buchhandel (beispielsweise bei Wenner), online oder direkt über die Website www.BernhardSchulz.de erhältlich.
Alle bislang in der OR erschienenen Geschichten gibt es hier
Neugierigen seien darüber hinaus diese Internetseiten ans Herz gelegt:
Webseite von Bernhard Schulz
Wikipedia über Bernhard_Schulz
Webseite Fritz Wolf
Interview mit Ansgar Schulz Mittenzwei, dem Sohn von B. Schulz