Bernhard Schulz (1913 – 2003) war ein Osnabrücker Autor, der keinen Vergleich zu scheuen braucht: 24 Bücher und fast 2.400 (!) Kurzgeschichten sind seit 1934 erschienen. Letztere fanden sich in Zeitungsausgaben, Anthologien und Sammelbänden und sind ein Stück Zeitgeschichte. Nach Auffassung der OR-Redaktion ist dieser markante Schreiber zu Unrecht in Vergessenheit geraten, dessen Geschichten hin und wieder von seinem Freund Fritz Wolf mit einer Karikatur begleitet wurden. Die Ergebnisse sind auch ein Spiegelbild des damaligen, heute oft äußerst befremdlich wirkenden Zeitgeistes. Ein Link zu früheren Folgen und Anmerkungen zu dieser exklusiven OR-Serie am Ende des Textes.
Bernhard Schulz
„Meine Strafe hieß Selma“ 1973
Immer, wenn meine Mutter Schweine sah, sei es vom Auto aus oder durch die Fenster eines Wagens der Eisenbahn, Schweine, die in der Nähe eines Bauernhofs die Erde aufwühlten und in der Sonne lagen, dann fiel ihr eine Geschichte ein.
»Eines Tages«, so begann ihre Lieblingsgeschichte, »war der kleine Otto von Bismarck verschwunden. Die Mutter hatte ihn den ganzen Tag über gesucht, aber sie hatte ihn nirgends gefunden. Endlich, nachdem bereits die Gendarmerie alarmiert war, wurde er von einer Bäuerin aus dem Dorf abgegeben. Als die Mutter den kleinen Otto erblickte, der über und über mit Unrat bedeckt war und übel roch, rief sie entsetzt: Wo hast du gesteckt? Und der kleine Otto antwortete: Bi Puttfarken sien lütt Swien!«
Meiner Mutter gefiel es, dass jemand, der im späteren Leben als Fürst und Reichsbegründer und Verfasser eines Memoirenwerkes hervortrat, sich als Kind mit einem lütt Swien gemein gemacht hatte. Außerdem mochte sie den Namen Puttfarken, und sie sagte, dass sie eine Frau gekannt habe, die Amalie Puttfarken hieß und deren Großmutter möglicherweise jene Bäuerin gewesen sei, die den kleinen Otto aus der Suhle gezogen und im Schloss abgegeben hatte.
Wie dem auch gewesen sein mag, ich finde den anekdotischen Gehalt ihrer Geschichte bemerkenswert, und er erinnert mich an meine eigene Kindheit. Ich bin nie so weit gegangen, mich mit einem lütt Swien einzulassen, aber ich habe in meinem achten Lebensjahr eine Kuh gehütet, und das ist doch schließlich auch etwas. Ich habe die Kuh mittags abgeholt und abends heimgebracht. Ich habe ihr gut zugeredet und sie am Schwanz aus dem Rübenacker anderer Leute herausgezerrt. Ich habe ihr die Wampe getätschelt und heimlich sogar Milch in eine Konservendose gemolken.
Und bei all diesen Verrichtungen bin ich ebenfalls schmutzig geworden und roch schlecht, so dass meine Mutter mich nicht wiedererkannte und für den kleinen Otto von Bismarck hielt, obwohl ich niemals Hoffnung nährte, dass ich im späteren Leben ein Reich gründen würde. Ich habe auch keins gegründet, ehrlich, aber es kann sein, dass ich einfach nicht dazu gekommen bin.
Die Kuh, die ich hütete, hieß Selma und war das Eigentum der Witwe Müller, die selbst keine Zeit hatte, die Kuh am Straßenrand entlangzutreiben, weil sie Hemden und Umlegekragen bügeln musste. Alle Männer im Dorf trugen Umlegekragen, die von der Witwe Müller gestärkt und gebügelt worden waren. Es war ihr Verdienst, dass die Männer an Sonntagen, wenn sie mit ihren Familien zur Messe gingen, ordentlich aussahen. An den Auftrag, die Kuh der Witwe Müller Berta allhier zu hüten, war ich über den Ortspolizisten geraten, der mir ein karitatives Werk als Strafe auferlegte, weil ich versucht hatte, ein Kälbchen, das geschlachtet werden sollte, zu befreien. Bei dem Befreiungsakt hatte ich dem Schlachter Markmann Leo in die Wade oder in die Hand oder in den Hintern gebissen, so dass derselbe Anzeige wegen Körperverletzung erstattete.
So kam ich also mit Selma zusammen, mit der Kuh der Witwe Müller, die ihr Futter an den Rändern der Straßen und auf den abgeernteten Wiesen der Bauern fand. Erst sollte die Strafe eine Woche dauern. Aber dann hütete ich aus Trotz freiwillig weiter, und mit der Zeit führte ich das abenteuerliche Leben eines vorbestraften Knaben, der in der Asche eines Holzfeuerchens Kartoffeln brät, Selmas warme Milch trinkt und in der milden Herbstsonne dasitzt und an die Zukunft denkt.
Wenn der Schlachter mit einem Kalb vorbeikam, das geschlachtet werden sollte, damit die Männer mit ihren gestärkten Kragen sonntags einen Braten auf dem Tisch hätten, wandte ich mich ab, als ob nichts geschehen wäre. Ich sagte mir, dass dies der Lauf der Welt sei, und er war es auch.

Ganz im Gegensatz zu Bernhard Schulz hat es sein enger Freund Fritz Wolf (1918-2001) bis heute in die Ahnengalerie von solchen Osnabrückerinnen und Osnabrückern geschafft, die über Jahrzehnte, von der NOZ bis zum Stern, erfolgreich versucht haben, den deutschen Zeitgeist textlich oder zeichnerisch zu spiegeln. Immer wieder ergeben sich bis heute aktuelle Anlässe, um an den Meister des feinen Federstrichs mit seinen stets liebevoll in Szene gesetzten Prominenten zu erinnern.

Kurzum: Anlässe genug, fortan eine neue OR-Serie zu starten, in der ausgewählte Kurzgeschichten von Bernhard Schulz mitsamt ihrer zeichnerischen Begleitung durch Fritz Wolf vorgestellt werden. Herzlich gedankt sei an dieser Stelle Ansgar Schulz-Mittenzwei, der die neue Serie im vertrauensvollen Kontakt zur OR-Redaktion erst ermöglicht hat und der bis heute in liebevoller Weise das literarische Erbe seines Vaters verwaltet.

Alle Schulz-Geschichten sowie etliche Wolf-Zeichnungen besitzen eine einzige Quelle, die in jüngster Zeit, ebenfalls durch das entscheidende Mitwirken seines Sohnes Ansgar, erscheinen konnte. Entnommen sind sie nämlich dem Schulz-Buch „Den Löwenzahn zermalmt nicht die Kesselpauke oder Hinwendung zur Geborgenheit. 200 kurze Geschichten der Jahre 1945-1965.“ Das kompakte Werk ist im Buchhandel (beispielsweise bei Wenner), online oder direkt über die Website www.BernhardSchulz.de erhältlich.
Alle bislang in der OR erschienenen Geschichten gibt es hier
Neugierigen seien darüber hinaus diese Internetseiten ans Herz gelegt:
Webseite von Bernhard Schulz
Wikipedia über Bernhard_Schulz
Webseite Fritz Wolf
Interview mit Ansgar Schulz Mittenzwei, dem Sohn von B. Schulz