Bernhard Schulz
Bilanz und Grünkohl (1965)
(Links zu früheren Folgen und Anmerkungen zu dieser exklusiven OR-Serie am Ende des Textes)
Wir erleben jetzt die Zeit der kleinen Bilanzen. Die Sparvereine, Kegelclubs, Vogelliebhaber, Aquarienfreunde, Kaninchenzüchter, Wettgemeinschaften und Skatspieler, sie alle schütten ihre Kasse aus und stellen einander die Frage: Wohin mit dem Geld, wie legen wir das Sümmchen an, wo steckt die beste aller Möglichkeiten? Die beste aller Möglichkeiten steckt im Grünkohl. Der Kassensturz fördert den Verzehr von Grünkohl durch den Heißhunger beitragszahlender Mitglieder. Grünkohl ist eine westfälische, niedersächsische, oldenburgische, bremische Spezialität. Die Oldenburger geben dem Grünkohl sogar den Rang einer Palme, sie essen keinen Grünkohl, sie essen Palme. Vom ersten Prost an bis in den März hinein ist Grünkohl der Schlager auf den Speisekarten. Manchenorts wird ein Grünkohlkönig gewählt, dem die Aufgabe zufällt, eine Rede über den Grünkohl zu halten und dafür zu sorgen, dass dieser Speise die gebührende Anerkennung zuteilwird. Außer Grünkohl haben wir Norddeutschen historische Rathäuser, prachtvolle Fachwerkbauten und hehre Dome, aber Grünkohl haben wir eben auch, und das wird in der Rede hervorgehoben.
Grünkohl ist ein wohlschmeckendes Essen und wert, königlich hofiert zu werden. Der geistvollste Mann unter uns ist gerade edel genug, zur Würde eines Grünkohlkönigs erhoben zu werden, obwohl dieser Würde etwas Clownisches anhaftet. Jedoch verliert sich das Clownische nach dem ersten Trinkspruch; denn eine weitere lobenswerte Eigenschaft der beliebten Speise ist der Durst, den er erzeugt. Zum Grünkohl werden Korn und Bier gereicht, und wehe dem, der kneift.
Die Rezepte zur Herstellung der Mahlzeit werden von Berufsköchen und Hausfrauen streng gehütet, handelt es sich doch um altüberlieferte, mit dem Gänsekiel auf Büttenpapier abgefasste Dokumente. Wer Grünkohl zünftig zubereiten will, muss schwer auf Löffel sein. Er muss Schwein und Rind, Wild und Geflügel, Mettwurst und Geräuchertes, Bregenwurst und Bauchspeck bereithalten, und zum Schluss kommt es auf die Zutaten an, die nicht verraten werden. Empor durch Grünkohl, heißt es in der Küche,
Der Grünkohl eine Nutzpflanze, die zur Familie der Kreuzblütler gehört, wächst auf dem Lande, wo man dem Frost Muße lässt, sich über die Nutzpflanze herzumachen. Was den übrigen Pflanzen zum Schaden ausschlägt, gerät dem Grünkohl zum Triumph. Er muss vom Reif bedeckt sein, und beim Abstrippen soll das krausgefranste Gemüse vor Härte krachen.
Grünkohl riecht beim Kochen wie Kohl eben riecht, aber dieser Geruch ist einer jener Düfte, die den Grünkohlkönig bei seiner Rede umwabern. Es ist ein Duft wie Holzfeuer, Gartenerde, Baumrinde, Karnickelstall, Pferdegeschirr, Lodenrock und Apfelbord.
Anmerkungen zu dieser exklusiven OR-Serie
Bernhard Schulz (1913 – 2003) dürfte ein Osnabrücker Autor sein, der nicht nur in seiner Heimatstadt wahrhaftig keinen Vergleich zu scheuen braucht: Stolze 24 Bücher und fast 2.400 (!) Kurzgeschichten sind seit 1934 erschienen. Letztere fanden sich in Zeitungsausgaben, Anthologien und Sammelbänden. Völlig zu Unrecht, das ist zumindest die Auffassung der OR-Chefredaktion, ist dieser markante Schreiber heutzutage fast in Vergessenheit geraten.
Eine bemerkenswerte Resonanz erfuhr in der Osnabrücker Rundschau eine Reportage von Heiko Schulze, der sich Anfang Juli dieses Jahres mit dem reichhaltigen Wirken des Osnabrücker Journalisten und Schriftstellers auseinandergesetzt hat. Dies nebenbei nicht ohne Anlass: Wie Hans Wunderlich, Josef Burgdorf oder Karl Kühling zählte Schulz anno 1946 zum Redaktionsteam der damaligen Osnabrücker Rundschau, der leider nur ein kurzes Zeitungsleben zuteil wurde.

Ganz im Gegensatz zu Bernhard Schulz hat es sein enger Freund Fritz Wolf (1918-2001) bis heute in die Ahnengalerie von solchen Osnabrückerinnen und Osnabrückern geschafft, die über Jahrzehnte, von der NOZ bis zum Stern, erfolgreich versucht haben, den deutschen Zeitgeist textlich oder zeichnerisch zu spiegeln. Immer wieder ergeben sich bis heute aktuelle Anlässe, um an den Meister des feinen Federstrichs mit seinen stets liebevoll in Szene gesetzten Prominenten zu erinnern.

Kurzum: Anlässe genug, fortan eine neue OR-Serie zu starten, in der ausgewählte Kurzgeschichten von Bernhard Schulz mitsamt ihrer zeichnerischen Begleitung durch Fritz Wolf vorgestellt werden. Herzlich gedankt sei an dieser Stelle Ansgar Schulz-Mittenzwei, der die neue Serie im vertrauensvollen Kontakt zur OR-Redaktion erst ermöglicht hat und der bis heute in liebevoller Weise das literarische Erbe seines Vaters verwaltet.

Alle Schulz-Geschichten sowie etliche Wolf-Zeichnungen besitzen eine einzige Quelle, die in jüngster Zeit, ebenfalls durch das entscheidende Mitwirken seines Sohnes Ansgar, erscheinen konnte. Entnommen sind sie nämlich dem Schulz-Buch „Den Löwenzahn zermalmt nicht die Kesselpauke oder Hinwendung zur Geborgenheit. 200 kurze Geschichten der Jahre 1945-1965.“ Das kompakte Werk ist im Buchhandel (beispielsweise bei Wenner), online oder direkt über die Website www.BernhardSchulz.de erhältlich.
Neugierigen seien überdies diese Internet-Seiten ans Herz gelegt:
http://www.BernhardSchulz.de
https://de.Wikipedia.org/wiki/Bernhard_Schulz
http://www.Fritz-Wolf.de
Bislang in der OR erschienen:
Geschichte vom 21.11.2021
Geschichte vom 28.11.2021
Geschichte vom 05.12.2021
Geschichte vom 12.12.2021
Geschichte vom 19.12.2021
Geschichte vom 26.12.2021
Geschichte vom 02.01.2022