Donnerstag, 28. März 2024

Sonntag, 12.00 Uhr: Bernhard Schulz mit Fritz Wolf – „Das gute Leben“ 1965

Bernhard Schulz (1913 – 2003) war ein Osnabrücker Autor, der keinen Vergleich zu scheuen braucht: 24 Bücher und fast 2.400 (!) Kurzgeschichten sind seit 1934 erschienen. Letztere fanden sich in Zeitungsausgaben, Anthologien und Sammelbänden und sind ein Stück Zeitgeschichte. Nach Auffassung der OR-Redaktion ist dieser markante Schreiber zu Unrecht in Vergessenheit geraten, dessen Geschichten häufig von seinem Freund Fritz Wolf mit einer Karikatur begleitet wurden. Die Ergebnisse sind auch ein Spiegelbild des damaligen, heute oft äußerst befremdlich wirkenden Zeitgeistes.

Bernhard Schulz
„Das gute Leben“ 1965
(Ein Link zu früheren Folgen und Anmerkungen zu dieser exklusiven OR-Serie am Ende des Textes)

Er sieht aus wie jemand, der morgens im Milchladen den Nachbarn erzählt, dass er zufrieden sei und dass er drei Mark beim Skatspielen gewonnen habe. Ich sehe solche Männer nicht jeden Tag. Und deshalb beschäftige ich mich mit Ihnen. Ich betrachte sie unauffällig, mache mir Gedanken über sie, beneide sie um ihre Ruhe und um den stillen Glanz in ihren Augen. Um die drei Mark geht es mir nicht, ich bin kein Räuber.    Ich sehe auch sofort, dass sie vom Lande kommen. Ja, ich weiß, dass sie irgendwo da draußen wohnen, wo die Autos aufgehört haben zu lärmen, sagen wir mal, in einem Häuschen, das von Apfelbäumen und Stachelbeersträuchern umgeben ist, und aus dem Fenster im Dachzimmer, wo sie ihre alten Schuhe und den gusseisernen Ständer für den Christbaum aufbewahren, können sie den Wald sehen. Im Wald gehen sie nach dem Mittagessen spazieren.

„Fräulein“, ruft er, „zahlen!“ Rechnen wir mal zusammen: zwei Tassen Kaffee, drei Weinbrand, ein Brot mit Käse, eine schwarze Zigarre. „Das ist für Sie“, sagt er, indem er dem Fräulein das Geld zurückgibt. Er kann es sich leisten, großzügig zu sein. Er gewinnt beim Skatspielen. Drei Mark und mehr. Du bist fünfundsechzig Jahre alt, denke ich.

Er geht. Verlässt seinen Tisch. Grüßt das Fräulein hinter dem Kuchenbüfett. Dann fällt ihm ein, dass er ein Paket neben seinem Stuhl vergessen hat. Er kehrt zurück und macht eine Bemerkung über den Umstand, dass man im Alter vergesslich wird.

„Sie übertreiben“, sage ich, „Sie wollen doch nicht behaupten, dass Sie alt sind“, und damit habe ich nun eine Schleuse geöffnet.

„Achtzig“, sagt er „ich bin gestern achtzig geworden, da lässt man gelegentlich schon etwas stehen, dies zum Beispiel: Bücher. Ich habe sie für meine Enkelkinder gekauft. Meine Tochter lebt hier in der Stadt. Der Schwiegersohn ist Kraftfahrer. Trinkt nie einen Tropfen Alkohol, jedenfalls nicht im Dienst. Strebsame Leute. Gestern haben sie eine Waschmaschine angeschafft. Darf ich mich setzen? Ich werde nämlich erst um drei Uhr erwartet. Ich wohne auf dem Lande, und ich sage immer: Großstadt ist gut und schön, aber in der Großstadt – wo finde ich da Ruhe?“

Er setzt sich hin, sitzt jetzt an meinem Tisch, und das Fräulein bringt seinen Mantel und Hut zurück in die Garderobe. Pfeffer-und-Salz-Anzug, weißes Ausgehhemd, altmodisch gebundene Krawatte, zwei Ringe am Finger, also Witwer. Fährt in die Großstadt, um Einsamkeit loszuwerden, um für die Enkelkinder Bücher einzukaufen, um mit dem Schwiegersohn über Transportprobleme zu reden: Straße und Schiene und so weiter. Der Schwiegersohn fährt einen Fernlastzug. Täglich Berlin oder Südbaden oder Rotterdam. Manchmal wechselt der Chef die Tour. Er selbst, der Achtzigjährige, der Witwer, der Pfeffer-und-Salz-Mann, ist Eisenbahner gewesen. Er war Vorsteher eines kleinen ländlichen Bahnhofs. Schlimm war der Krieg; da hatte er es mit Bomben und Tieffliegern und Dieben zu tun. Sonst ist Bahnhofsvorsteher nicht schlecht.

Thema Krieg; da gibt es eine Menge zu sagen. „Die jungen Leute wollen keinen Krieg“, behauptet er, „mit denen können sie das nicht machen, was sie mit uns gemacht haben. Soll ich Ihnen mal was erzählen? Mein Vater war im ersten Weltkrieg in Russland. Dort sind ihm die Beine abgefroren, im Lazarett haben sie ihm die Füße amputiert, erst bis zum Knie, dann über dem Knie, dann immer höher, und zuletzt lag er in einem Karren, den sie speziell für ihn gebaut hatten, und er konnte nichts mehr. Hatte mein Vater den Krieg angefangen, war er derjenige, dem das gute Leben bis obenhin stand? Hatte meine Mutter ihm zugeredet, mit dem Gewehr auf alles loszugehen? Nein, sage ich. Aber meine Jugend und meine Jungmännerjahre habe ich damit verbracht, meinen Vater in dem Karren, den sie speziell für ihn gebaut hatten, vor mir herzuschieben. Er wollte immer so gern in den Wald, und der Wald war auch nicht weit entfernt, und er konnte stundenlang dort aushalten und die Tiere beobachten und auf den Wind lauschen und die Bäume anschauen. Ihm machte auch der Regen nichts aus, und er sagte immer, Junge, sagte er, das wird Dir der liebe Gott hoch anrechnen, dass Du bei Deinem Vater bleibst und nicht mit den Mädchen gehst und niemals ungeduldig bist.“

„Und“, fragte ich, „hat er es Ihnen angerechnet, was meinen Sie?“ „Ja, ich weiß es“, antwortete er, „ich bin gesund und zufrieden. An mir verdienen die Ärzte und Apotheker keinen Pfennig, und solange ich in den Wald gehen kann, bin ich glücklich. Ich fürchte mich nicht vor dem Sterben, wenn es das ist, was sie meinen.“

Fühlt sich gesund, ist glücklich, hockt nicht in Wartezimmern herum, isst und trinkt und fürchtet sich nicht vor dem Sterben. Dieser alte Mann, dieser Bahnhofsvorsteher in Ruhe, dieser Pfeffer-und-Salz-Opa, und das erfährt man an einem beliebigen Tag in einem beliebigen Café mit beliebigen Menschen – und was in dieser Welt noch beliebig ist. Ende.

 




Redakteur Bernhard Schulz mit der OR-Erstausgabe vom 1. März 1946Redakteur Bernhard Schulz mit der OR-Erstausgabe vom 1. März 1946

Ganz im Gegensatz zu Bernhard Schulz hat es sein enger Freund Fritz Wolf (1918-2001) bis heute in die Ahnengalerie von solchen Osnabrückerinnen und Osnabrückern geschafft, die über Jahrzehnte, von der NOZ bis zum Stern, erfolgreich versucht haben, den deutschen Zeitgeist textlich oder zeichnerisch zu spiegeln. Immer wieder ergeben sich bis heute aktuelle Anlässe, um an den Meister des feinen Federstrichs mit seinen stets liebevoll in Szene gesetzten Prominenten zu erinnern.

Sohn Ansgar und Bernhard SchulzSohn Ansgar und Bernhard Schulz

Kurzum: Anlässe genug, fortan eine neue OR-Serie zu starten, in der ausgewählte Kurzgeschichten von Bernhard Schulz mitsamt ihrer zeichnerischen Begleitung durch Fritz Wolf vorgestellt werden. Herzlich gedankt sei an dieser Stelle Ansgar Schulz-Mittenzwei, der die neue Serie im vertrauensvollen Kontakt zur OR-Redaktion erst ermöglicht hat und der bis heute in liebevoller Weise das literarische Erbe seines Vaters verwaltet.

 

Bernhard Schulz und Fritz Wolf 1951Bernhard Schulz und Fritz Wolf 1951

Alle Schulz-Geschichten sowie etliche Wolf-Zeichnungen besitzen eine einzige Quelle, die in jüngster Zeit, ebenfalls durch das entscheidende Mitwirken seines Sohnes Ansgar, erscheinen konnte. Entnommen sind sie nämlich dem Schulz-Buch „Den Löwenzahn zermalmt nicht die Kesselpauke oder Hinwendung zur Geborgenheit. 200 kurze Geschichten der Jahre 1945-1965.“ Das kompakte Werk ist im Buchhandel (beispielsweise bei Wenner), online oder direkt über die Website www.BernhardSchulz.de erhältlich.


Alle bislang in der OR erschienenen Geschichten gibt es hier

Neugierigen seien darüber hinaus diese Internetseiten ans Herz gelegt:
Webseite von Bernhard Schulz
Wikipedia über Bernhard_Schulz 
Webseite Fritz Wolf

Interview mit Ansgar Schulz Mittenzwei, dem Sohn von B. Schulz

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