Bernhard Schulz (1913 – 2003) war ein Osnabrücker Autor, der keinen Vergleich zu scheuen braucht: 24 Bücher und fast 2.400 (!) Kurzgeschichten sind seit 1934 erschienen. Letztere fanden sich in Zeitungsausgaben, Anthologien und Sammelbänden und sind ein Stück Zeitgeschichte. Nach Auffassung der OR-Redaktion ist dieser markante Schreiber, dessen Geschichten zumeist von seinem Freund Fritz Wolf mit einer Karikatur begleitet wurden, zu Unrecht in Vergessenheit geraten.
Bernhard Schulz
„Der kleine Mann“ – 1965
(Links zu früheren Folgen und Anmerkungen zu dieser exklusiven OR-Serie am Ende des Textes)
Er ging am Stock. Ich habe ihn nie ohne diesen Stock das Haus verlassen gesehen. Er ging oft aus dem Hause. Ich glaube, dass er zum Skatspielen ging, oder in seinen Briefmarkensammlerverein, oder einfach nur, um an der Theke zu stehen und mit dem Wirt ein Gespräch über Gartenschädlinge zu führen und über das Thema, ob man den Maulwurf fangen und das bisschen Fell gerben lassen soll. Er wollte sich einen Mantel innen mit Maulwurfsfell füttern lassen.
„Wie’n Baron, was?“
„Kennst du einen?“
„Nein“, sagte der Wirt.
Er ist nie dazu gekommen, sich diesen Mantel anfertigen zu lassen. Er trug, wenn er überhaupt einen Mantel benötigte, einen grauen Paletot mit einem Kragen aus Plüsch. Und beim Gehen setzte er die Stockspitze klirrend aufs Pflaster, so dass sie ihn in der Kneipe schon von Weitem hören konnten.
Er war ein kleiner Mann. Kein Gardemaß. Ganz und gar kein Baron und er hatte auch nicht die geringste Chance, jemals einer zu werden. Angestellter, weiter nichts. Er trug Zahlen ein und addierte kleine Summen. Er las Bücher und einmal hatte er sogar ein Theater besucht, um sich eine Operette anzusehen. Er kannte drei Melodien, die er an jenem Abend gehört hatte. Es war auf einer Verbandstagung der Sparkassenangestellten gewesen. Nach der Vorstellung hatte er in einem Hotel geschlafen, zum ersten Mal in seinem Leben, auf Spesen und er hatte ich vom Hausdiener die Stiefel putzen lassen.
Er wohnte mit seiner Frau zur Miete. Zur Wohnung rechnete ein Garten mit drei Apfelbäumen und einem Kirschbaum. Ihm selbst gehörte nichts. Er war nie so weit gekommen, sich etwas anschaffen zu können. Als er achtzehn wurde, hatten sie ihn gemustert und eingezogen. Für Gott, Kaiser und Vaterland. Er hatte es im Laufe der Kriegsjahre in der Bedienungsmannschaft eines Maschinengewehrs vom Schützen Drei, der die Munition schleppen musste, bis zum Schützen Eins gebracht, der den Feind aufs Visier nahm.
Sie gaben ihm einen Orden dafür, den er in einer Zigarrenkiste aufbewahrte, zusammen mit einer Tabakspfeife aus Meerschaum, die ihm ein Vetter geschickt hatte, der nach Brasilien ausgewandert war. Die Pfeife war zerbrochen angekommen und er hatte nie versucht, sie reparieren zu lassen.
Kein Haus, kein Geschäft, kein Grundstück, kein Vermögen, keine Aktie, kein Wertpapier, kein Ölgemälde, keine Jagd, keinen Fischgrund, kein Pferd, keine Kuh, kein Auto.
Er besaß nichts, außer diesem Orden und der zerbrochenen Meerschaumpfeife.
Er sehnte sich nach Freunden. Er stand in den Wirtshäusern herum und sagte, dass er bei Verdun gelegen habe und irgendwo in Galizien. Er stand vor den Theken und redete von einem großartigen Wintermantel, der innen mit Maulwurfsfell gefüttert sein sollte.
„Wie’n Baron?“
„Wie’n Baron“, wiederholte er arglos.
Einmal lachten sie über ihn und vielleicht lachten sie deshalb, weil ein Baron ja niemals ein kleiner Mann ist. Aber jemand sagte jetzt: „Er hat einem Menschen das Leben gerettet.“
„Na, und?“ fragten sie, „Kommt es darauf an? Kommt es auf einen einzigen Menschen an?“
„Er ist aus dem Graben gestiegen“, erzählte der Mann unbeirrt weiter, „und hat seinen Kompaniechef geholt. Er hat einen Schwerverwundeten aus dem Feuer getragen. Huckepack. Dabei hat er den linken Fuß verloren.“
„Deshalb der Stock?“
„Deshalb der Stock“, antwortete der Mann, „er braucht eine Stütze beim Gehen.“
„Und was ist aus dem Kompaniechef geworden? Lebt er noch?“
„Na klar“, sagte der Mann, „ohne ihn wäre ich verblutet.“
Anmerkungen zu dieser exklusiven OR-Serie
Bernhard Schulz (1913 – 2003) dürfte ein Osnabrücker Autor sein, der nicht nur in seiner Heimatstadt wahrhaftig keinen Vergleich zu scheuen braucht: Stolze 24 Bücher und fast 2.400 (!) Kurzgeschichten sind seit 1934 erschienen. Letztere fanden sich in Zeitungsausgaben, Anthologien und Sammelbänden. Völlig zu Unrecht, das ist zumindest die Auffassung der OR-Chefredaktion, ist dieser markante Schreiber heutzutage fast in Vergessenheit geraten. Wir drucken die Geschichten im Original ab.
Eine bemerkenswerte Resonanz erfuhr in der Osnabrücker Rundschau eine Reportage von Heiko Schulze, der sich Anfang Juli dieses Jahres mit dem reichhaltigen Wirken des Osnabrücker Journalisten und Schriftstellers auseinandergesetzt hat. Dies nebenbei nicht ohne Anlass: Wie Hans Wunderlich, Josef Burgdorf oder Karl Kühling zählte Schulz anno 1946 zum Redaktionsteam der damaligen Osnabrücker Rundschau, der leider nur ein kurzes Zeitungsleben zuteil wurde.

Ganz im Gegensatz zu Bernhard Schulz hat es sein enger Freund Fritz Wolf (1918-2001) bis heute in die Ahnengalerie von solchen Osnabrückerinnen und Osnabrückern geschafft, die über Jahrzehnte, von der NOZ bis zum Stern, erfolgreich versucht haben, den deutschen Zeitgeist textlich oder zeichnerisch zu spiegeln. Immer wieder ergeben sich bis heute aktuelle Anlässe, um an den Meister des feinen Federstrichs mit seinen stets liebevoll in Szene gesetzten Prominenten zu erinnern.

Kurzum: Anlässe genug, fortan eine neue OR-Serie zu starten, in der ausgewählte Kurzgeschichten von Bernhard Schulz mitsamt ihrer zeichnerischen Begleitung durch Fritz Wolf vorgestellt werden. Herzlich gedankt sei an dieser Stelle Ansgar Schulz-Mittenzwei, der die neue Serie im vertrauensvollen Kontakt zur OR-Redaktion erst ermöglicht hat und der bis heute in liebevoller Weise das literarische Erbe seines Vaters verwaltet.

Alle Schulz-Geschichten sowie etliche Wolf-Zeichnungen besitzen eine einzige Quelle, die in jüngster Zeit, ebenfalls durch das entscheidende Mitwirken seines Sohnes Ansgar, erscheinen konnte. Entnommen sind sie nämlich dem Schulz-Buch „Den Löwenzahn zermalmt nicht die Kesselpauke oder Hinwendung zur Geborgenheit. 200 kurze Geschichten der Jahre 1945-1965.“ Das kompakte Werk ist im Buchhandel (beispielsweise bei Wenner), online oder direkt über die Website www.BernhardSchulz.de erhältlich.
Alle bislang in der OR erschienenen Geschichten gibt es hier
Neugierigen seien darüber hinaus diese Internetseiten ans Herz gelegt:
Webseite von Bernhard Schulz
Wikipedia über Bernhard_Schulz
Webseite Fritz Wolf
Interview mit Ansgar Schulz Mittenzwei, dem Sohn von B. Schulz