Bernhard Schulz (1913 – 2003) war ein Osnabrücker Autor, der keinen Vergleich zu scheuen braucht: 24 Bücher und fast 2.400 (!) Kurzgeschichten sind seit 1934 erschienen. Letztere fanden sich in Zeitungsausgaben, Anthologien und Sammelbänden und sind ein Stück Zeitgeschichte. Nach Auffassung der OR-Redaktion ist dieser markante Schreiber zu Unrecht in Vergessenheit geraten, dessen Geschichten häufig von seinem Freund Fritz Wolf mit einer Karikatur begleitet wurden. Die Ergebnisse sind auch ein Spiegelbild des damaligen, heute oft äußerst befremdlich wirkenden Zeitgeistes.
Bernhard Schulz
„Eines Mannes Weg“ 1973
(Ein Link zu früheren Folgen und Anmerkungen zu dieser exklusiven OR-Serie am Ende des Textes)
Wenn Mariechen einen freien Tag hatte, nahm sie mich mit in ihr Elternhaus. Es lag eine Stunde vom Dorf entfernt zwischen Kuhweiden und Kartoffeläckern, und hinter den sieben Häusern begann der Wald mit seinen Beeren, Pilzen und Rehen.
Mariechens Vater arbeitete in einem Steinbruch als Schmied. Er musste das Handwerkszeug und die Kipploren und die Schienen in Ordnung halten. Er war ausgebildet in Erster Hilfe bei Unfällen, die bei Sprengungen eintreten konnten, und er musste zur Mittagszeit die Essnäpfe einsammeln und in ein Wasserbad stellen. Mariechens Vater war im Steinbruch der Mann, der »den Kram zusammenhielt«, so nannten sie es. Er heilte und flickte, indes die anderen den Berg mit Stemmeisen und Pulver auseinanderbrachen. In der Hauptsache stellten sie Pflastersteine und Bordsteine und Treppenstufen her. Und einer war unter ihnen, der die Grabsteine meißelte und die Namen der Verstorbenen hineinschrieb: Geboren und Gestorben und Ruht in Gott. Ich habe, wenn ich mit Mariechen in dem kleinen weißgekälkten Fachwerkhaus übernachten durfte, am Leben dieses Mannes teilgenommen, der im Steinbruch »den Kram zusammenhielt«. Er war ein Hüne von Mann, der kaum den Mund auftat und anspruchslos dahinlebte.
Die Arbeit im Steinbruch lag nur in den harten Wintermonaten still, wenn Eis und Schnee den Berg bedeckten. An allen anderen Tagen stand Mariechens Vater um drei Uhr in der Nacht auf, schnitt Gras für die Kuh, fütterte das Schwein, sperrte die Hühner aus, schleppte Holz für den Küchenherd ins Haus, bewässerte die Pflanzen im Garten, schnitt Brot, goß Kaffee auf, aß bedächtig und machte sich auf den Weg in den Steinbruch.
Er musste länger als eine Stunde durch den Wald gehen, und der Pfad war schmal und steinig. Er sagte nichts. Er sagte dreißig oder vierzig oder fünfzig Jahre lang gar nichts. Ich bin nicht einmal sicher, dass er die Zeitung oder den Bauernkalender oder überhaupt ein Buch lesen wollte. Gedrucktes war Papperlapapp.
Aber er besaß – ein gutes Gedächtnis für alles, was sie ihm in der Schule beigebracht hatten. Elementares. Grundsätzliches. Unumstößliches. Unwiderrufliches. Die Richtung. Das Ziel. Die Lösung. Die Erlösung. Das, worauf es ankommt. Das, was sich ohne Gerede und Papperlapapp versteht. Was jeder verstehen kann. Das Einmaleins. Die Buchstaben von A bis Z. Das Vaterunser. Die Zehn Gebote. Die Geduld mit dem Wetter. Das Mitleid mit den Armem, das Dengeln der Sense. Das Aussäen des Korns. Das Aussäen der Rüben, der Kartoffeln, der Kinder, der Grabsteine, des Grases, der Blumen, der Gebete.
Sonntags legte er die schwarzen Kleider an, die er zur Hochzeit angeschafft hatte, und zog mit den Nachbarn zur Kirche, und auf dem Weg ins Dorf betete er mit ihnen den Kreuzweg: Jesus wird unschuldig zum Tode verurteilt!
Er, Mariechens Vater, ein Hüne von Mann in schwarzen Kleidern und mit kahlgeschorenem Kopf, dieser Sensen Dengler und Holzspalter, dieser Rübenzieher und Kleintierhalter, dieser Schienenflicker und Eßnapfwarmmacher, er und kein anderer hatte jetzt das Wort. Er, der dreißig oder vierzig oder fünfzig Jahre lang schweigen wollte, erhob sich hier zum Vorbeter. Er, dessen Zunge wie Holz so unberedt war, schrie fast: »Fürwahr, er trägt unsere Krankheiten .. .« ».. . und ladet auf sich unsere Schmerzen«, antworteten sie.
Ich bin an seiner Seite ins Dorf zurückgekehrt, im Rücken dieser schwarzgekleideten Männer und Frauen, wir Kinder dazwischen, stolpernd und ängstlich, umschwirrt von Fliegen und Stechmücken, Worte wie Golgatha und Pontius Pilatus und Simon von Cyrene im Ohr, und wir wussten noch nicht, was es bedeutete: ein Kreuz zu tragen.
Mariechens Vater ist eines Morgens, als er zur Schmiede ging, vom Schlag getroffen worden. Er war über siebzig, ein gesegnetes Alter, wie sie sagten, aber er war versessen darauf gewesen, im Steinbruch den Kram zusammenzuhalten.
Sie trugen ihn auf jener Bahre heim, die in der Schmiede stand und die er selbst so oft im Laufschritt geholt hatte, um verletzte und vom Stein erschlagene Kameraden ins Haus zu bringen.

Ganz im Gegensatz zu Bernhard Schulz hat es sein enger Freund Fritz Wolf (1918-2001) bis heute in die Ahnengalerie von solchen Osnabrückerinnen und Osnabrückern geschafft, die über Jahrzehnte, von der NOZ bis zum Stern, erfolgreich versucht haben, den deutschen Zeitgeist textlich oder zeichnerisch zu spiegeln. Immer wieder ergeben sich bis heute aktuelle Anlässe, um an den Meister des feinen Federstrichs mit seinen stets liebevoll in Szene gesetzten Prominenten zu erinnern.

Kurzum: Anlässe genug, fortan eine neue OR-Serie zu starten, in der ausgewählte Kurzgeschichten von Bernhard Schulz mitsamt ihrer zeichnerischen Begleitung durch Fritz Wolf vorgestellt werden. Herzlich gedankt sei an dieser Stelle Ansgar Schulz-Mittenzwei, der die neue Serie im vertrauensvollen Kontakt zur OR-Redaktion erst ermöglicht hat und der bis heute in liebevoller Weise das literarische Erbe seines Vaters verwaltet.

Alle Schulz-Geschichten sowie etliche Wolf-Zeichnungen besitzen eine einzige Quelle, die in jüngster Zeit, ebenfalls durch das entscheidende Mitwirken seines Sohnes Ansgar, erscheinen konnte. Entnommen sind sie nämlich dem Schulz-Buch „Den Löwenzahn zermalmt nicht die Kesselpauke oder Hinwendung zur Geborgenheit. 200 kurze Geschichten der Jahre 1945-1965.“ Das kompakte Werk ist im Buchhandel (beispielsweise bei Wenner), online oder direkt über die Website www.BernhardSchulz.de erhältlich.
Alle bislang in der OR erschienenen Geschichten gibt es hier
Neugierigen seien darüber hinaus diese Internetseiten ans Herz gelegt:
Webseite von Bernhard Schulz
Wikipedia über Bernhard_Schulz
Webseite Fritz Wolf
Interview mit Ansgar Schulz Mittenzwei, dem Sohn von B. Schulz