Sonntag, 12.00 Uhr: Bernhard Schulz mit Fritz Wolf – „Heimat“ (1967)

Bernhard Schulz
Heimat (1967)
(Links zu früheren Folgen und Anmerkungen zu dieser exklusiven OR-Serie am Ende des Textes)

Es ist wahr, dass wir uns in eine Stadt verlieben können wie in eine Melodie oder in ein Buch oder in das Gesicht eines Menschen, mit dem wir zusammenleben. Müssen wir über diese Liebe Rechenschaft ablegen? Müssen wir sagen, warum wir von dieser Leidenschaft erfasst sind? Wen kümmert es, dass wir so beharrlich auch das Ungute, das Armselige, sogar das Hässliche verteidigen?

Das Wort Vaterland ist uns zur Enttäuschung geraten, aber das Wort Heimat hat immer noch seinen guten, alten, festen Klang. Meine Eltern waren Bauernkinder aus der Umgebung von Bersenbrück; an ihren Dörfern vorbei floss die Hase. Als ich Kind war und in einer fremden Stadt am Rhein aufwuchs, erzählte mir die Mutter von Kutschwagenfahrten nach Osnabrück. Man ging dort ins Theater, das damals in der Straße Große Gildewart lag, und kaufte Schmuck und Kleider ein. Ich erinnere mich an ein mit weißer Seide ausgeschlagenes Etui, das den Namen des Osnabrücker Juweliers trug, der auch heute noch Brillantnadeln verkauft. Ich kannte bereits den Dom und das Rathaus und das Agnes-Schoeller-Haus, als ich die Stadt noch nicht betreten hatte.

Osnabrück und das Land ringsum mit seinen Kuhweiden, Äckern, Wäldern, Wasserburgen, Fachwerkhäusern, Kirchen und – seltsamerweise auch den Kaffeewirtschaften, an deren Tischen sich sonntags die jungen Leute kennenlernten – waren tief in meine Kinderwelt eingeschlossen. Als ich getauft wurde, soll ein Onkel aus Ostercappeln mit einem Laib Pumpernickel angetreten sein, und eine Tante aus Hunteburg schenkte geräucherte Aale.

Worauf ich hinaus will, ist dies: Den Verwandten aus Osnabrück lag daran, am Leben zu sein, und sie wollten auch mich leben lassen. Sie brachten mir statt des Gesang- und Gebetbuches, das üblich war, kräftige Nahrung mit. Sie gaben mir das Brot der Bauern und Handwerker und aus dem Dümmer den Anteil des Fischers. Das Wort Pumpernickel schmeckt mir nach Heu, Pfingstrosen, Schützenfest, Hochzeit, Kindtaufe und ich weiß nicht, wonach noch.

Die Sehnsucht nach dieser Stadt und nach der Landschaft, in die sie eingebettet lag, in eine Mulde zwischen Teutoburger Wald und Wiehengebirge, in ein grünes altes geschichtsträchtiges Bauernland, in ein Land der Kirchen, Burgen und Kaffeewirtschaften, dieses Verlangen war so groß, dass ich dort hinzog, als der Krieg vorüber war. Ich suchte die Heimat.

Nun, das Theater meiner Mutter war nicht mehr das Haus in der Großen Gildewart und das vielgerühmte Agnes-Schoeller-Haus stand auch nicht mehr. Aber es gab noch den Willmannschen Giebel und den Gasthof Walhalla, in dem Lortzing gebechert hat, und es standen noch die Stadtwaage und das Rathaus und die schönen alten Kirchen, in deren Stille die Erschöpften Trost fanden.

Osnabrück ist nicht allein die Stadt der Bürger, die dort geboren sind und seit Generationen ihre Wurzeln haben. Jahr um Jahr ziehen junge Leute in neuerbaute Häuser ein, tolopen Volk, wie man hier sagt, das aus Tecklenburg, Schledehausen, Bramsche, Recke, Iburg, Melle, Wittlage, Rothenfelde, Oesede, Wallenhorst, Ankum, aus Hunderten von Bauernschaften, Kirchdörfern und Kleinstädten stammt.

Sie alle bringen den Reichtum ihrer Gesundheit mit, den Geruch der Eichenwälder von daheim, den Duft der Heuwiesen, die Würze der Bauerngärten, den Anhauch der Ställe, die Erfahrung derber und unverzagter Lebenshaltung, den Mut zum Durchhalten, die Tapferkeit zum Weiterkommen, den Sinn für Essen und Trinken, den Glauben an Erfolg, die Hoffnung auf Frieden, die Liebe zur Familie und zur Nachbarschaft.

Spötter bezeichnen Osnabrück als Stadt der groben Mittelmäßigkeit. Ich habe dieses Wort stets als Lob gewertet und es ist auch ein Lob. Ich will gerne mittelmäßig sein, wenn ich nur hier leben darf – und was heißt grob? Grob gesagt ist ehrlich gesagt. Osnabrück ist eine ehrliche Stadt. Osnabrück hat kein Pflaster für Snobs und Leisetreter, keinen Raum für Avantgardisten und Experimentierer, keine Antenne für Witzeleien und Korrekturen durch Gespött. Bewundert wird der Mann, der Acht ums Vordereck wirft. Beneidet wird, wer im Schützenzug die Fahne trägt. Anerkannt wird, wer im Vereinsleben die Rede hält.

Gesungen wird an Sommerabenden bei offenem Fenster, der Kunst und des Durstes wegen, und im Winter knöchelt man den Skat auf den Küchentisch. Die Arbeit im Kleingarten ist die wahre Lust, und Glück genießt man erst, wenn die Börde im Keller gefüllt sind mit Gläsern voller Brechbohnen, Stachelbeeren, Apfelmus, Sauerkirschen, Birnen, Pfirsichen und Perlzwiebeln.

Am liebsten würde man hinter dem Hause Hühner halten und auf dem Balkon Kaninchen. Aber damit ist es vorbei. Langsam vergeht der jahrtausendealte Drang zur Selbstversorgung und zum Alles-alleine-machen, für den die alten Häuser mit Kuhställen und Schweinekoben und den Einfahrten für Pferdewagen noch Zeugnis ablegen. Vergangen sind die Tage der Steinwerke, in die sich Frauen und Kinder verkrochen, wenn der Feind nahte und die Männer auf den Wällen standen. Heute sind die Wälle grün und mit Linden bestanden. Hier gehen wir spazieren.

Osnabrück ist Großstadt. Diesen Umstand verdankt die Stadt der wachsenden Zahl seiner Einwohner. Aber in Wirklichkeit haftet ihr immer noch etwas Kleinstädtisches, Ländliches, ja geradezu Bescheidenes an. Vielleicht rührt es daher, dass man überall an das Vergangene erinnert wird. Karl der Große und Herzog Wittekind und die erlauchte Schar der Bischöfe, Superintendenten und Bürgermeister raunen und wispern mit, von Justus Möser nicht zu reden, dessen Geburtshaus bei Stadtbesichtigungen gezeigt wird.

Neben hochgeschossigen modernen Bauten, in denen Behörden und Schulen untergebracht sind, neben Geschäftshäusern und Banken, in den Hinterhöfen von Hotels und Lichtspieltheatern, überall behauptet sich Gemäuer, das schon vor dem Dreißigjährigen Krieg morsch war. Und auf diesem morschen Stein wuchern Zwergbirke, Minze und Löwenzahn. Nachtigallen nisten im Holunderstrauch, mitten in der Stadt, mitten in der Großstadt, und auf den Fenstersimsen verchromter Klinken gurren Tauben.

Es kann vorkommen, dass aus Küchenfenstern Dienstmädchenlieder tönen, und im Keller übt ein Gymnasiast Trompete. Ein Hahn in der Frühe ist nichts Ungewöhnliches, sein Ruf mischt sich in das erzene Gedröhn der Glocke, die zum Gottesdienst einlädt. Frömmigkeit ist immer mit im Spiel der tickenden Uhren und knarrenden Windfahnen.

Und viel Grün ist da. Alte Bäume schmeicheln ihren Schatten in Rasenteppiche und Blumenrondelle. Wasserspiele plätschern zum Geknarr der Kinderwagen auf den gekiesten Wegen im Schlossgarten. Ein steinerner Herkules stützt sich auf seine Keule. Elektrisches Geklingel kündet den Beginn einer Unterrichtsstunde im Gymnasium an. Lateinisches weht dahin. Die Strophe eines Gedichtes. Eine Formel aus dem Algebrabuch.

Ich frage mich, ob dies Bilder sind aus jeder Stadt, die an irgendeinem Fluss und zwischen irgendwelchen Bergen liegt. Geht es überall so poetisch, so versponnen, so rasengrün und nachtigallenlustig zu? Und mischt sich überall die Vergangenheit so liebenswürdig mit der Gegenwart? Mit dieser Gegenwart der Rechenmaschinen, Autos und Bildschirme?                                                                                       Bernhard Schulz

 


Anmerkungen zu dieser exklusiven OR-Serie

Bernhard Schulz (1913 – 2003) dürfte ein Osnabrücker Autor sein, der nicht nur in seiner Heimatstadt wahrhaftig keinen Vergleich zu scheuen braucht: Stolze 24 Bücher und fast 2.400 (!) Kurzgeschichten sind seit 1934 erschienen. Letztere fanden sich in Zeitungsausgaben, Anthologien und Sammelbänden. Völlig zu Unrecht, das ist zumindest die Auffassung der OR-Chefredaktion, ist dieser markante Schreiber heutzutage fast in Vergessenheit geraten.

Eine bemerkenswerte Resonanz erfuhr in der Osnabrücker Rundschau eine Reportage von Heiko Schulze, der sich Anfang Juli dieses Jahres mit dem reichhaltigen Wirken des Osnabrücker Journalisten und Schriftstellers auseinandergesetzt hat. Dies nebenbei nicht ohne Anlass: Wie Hans Wunderlich, Josef Burgdorf oder Karl Kühling zählte Schulz anno 1946 zum Redaktionsteam der damaligen Osnabrücker Rundschau, der leider nur ein kurzes Zeitungsleben zuteil wurde.

Redakteur Bernhard Schulz mit der OR-Erstausgabe vom 1. März 1946

Ganz im Gegensatz zu Bernhard Schulz hat es sein enger Freund Fritz Wolf (1918-2001) bis heute in die Ahnengalerie von solchen Osnabrückerinnen und Osnabrückern geschafft, die über Jahrzehnte, von der NOZ bis zum Stern, erfolgreich versucht haben, den deutschen Zeitgeist textlich oder zeichnerisch zu spiegeln. Immer wieder ergeben sich bis heute aktuelle Anlässe, um an den Meister des feinen Federstrichs mit seinen stets liebevoll in Szene gesetzten Prominenten zu erinnern.

Sohn Ansgar und Bernhard Schulz

Kurzum: Anlässe genug, fortan eine neue OR-Serie zu starten, in der ausgewählte Kurzgeschichten von Bernhard Schulz mitsamt ihrer zeichnerischen Begleitung durch Fritz Wolf vorgestellt werden. Herzlich gedankt sei an dieser Stelle Ansgar Schulz-Mittenzwei, der die neue Serie im vertrauensvollen Kontakt zur OR-Redaktion erst ermöglicht hat und der bis heute in liebevoller Weise das literarische Erbe seines Vaters verwaltet.

Bernhard Schulz und Fritz Wolf 1951

Alle Schulz-Geschichten sowie etliche Wolf-Zeichnungen besitzen eine einzige Quelle, die in jüngster Zeit, ebenfalls durch das entscheidende Mitwirken seines Sohnes Ansgar, erscheinen konnte. Entnommen sind sie nämlich dem Schulz-Buch „Den Löwenzahn zermalmt nicht die Kesselpauke oder Hinwendung zur Geborgenheit. 200 kurze Geschichten der Jahre 1945-1965.“ Das kompakte Werk ist im Buchhandel (beispielsweise bei Wenner), online oder direkt über die Website www.BernhardSchulz.de erhältlich.

 

 


Neugierigen seien überdies diese Internet-Seiten ans Herz gelegt:
http://www.BernhardSchulz.de
https://de.Wikipedia.org/wiki/Bernhard_Schulz 
http://www.Fritz-Wolf.de

Bislang in der OR erschienen:
Geschichte vom 21.11.2021
Geschichte vom 28.11.2021
Geschichte vom 05.12.2021
Geschichte vom 12.12.2021
Geschichte vom 19.12.2021
Geschichte vom 26.12.2021

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