Bernhard Schulz (1913 – 2003) war ein Osnabrücker Autor, der keinen Vergleich zu scheuen braucht: 24 Bücher und fast 2.400 (!) Kurzgeschichten sind seit 1934 erschienen. Letztere fanden sich in Zeitungsausgaben, Anthologien und Sammelbänden und sind ein Stück Zeitgeschichte. Nach Auffassung der OR-Redaktion ist dieser markante Schreiber, dessen Geschichten zumeist von seinem Freund Fritz Wolf mit einer Karikatur begleitet wurden, zu Unrecht in Vergessenheit geraten.

Bernhard Schulz
„Huldigung für eine Seejungfer“ – 1954
(Ein Link zu früheren Folgen und Anmerkungen zu dieser exklusiven OR-Serie am Ende des Textes)

In einer Mittagsstunde, die von Sonne und Vogelstimmen erfüllt war, entdeckten Kinder an einer Hecke ein Insekt. „Da ist ein wildes Tier“, riefen sie. Die Kinder hatten noch nie eine Libelle gesehen, und sie wussten überhaupt nicht, dass es Libellen gibt.

Eine Dame, die Lehrerin gewesen war und heute im Seniorenheim lebt, erklärte den Kindern, dass es eine Gemeine Seejungfer sei, ihr wissenschaftlicher Name sei Calopteryx Virgo und sie könne wie ein Hubschrauber in der Luft stehenbleiben und vorwärts und rückwärts fliegen. “Die Forscher“, sagte die Lehrerin, „kennen dreitausendfünfhundert Arten von Libellen und jede hat einen lateinischen Namen.“

Da stand die Lehrerin mit der Brille auf der Nase und dem Dutt im Nacken und sang den Kindern mit ihrer piepsigen Altfrauenstimme ein Liedchen vor, das sie früher mit den Schulkindern gesungen hatte: „Froh wie die Libell am Teich…“ Und die Kinder sangen mit. Es war wie eine Huldigung.

Die blau schimmernde Gemeine Seejungfer klammerte sich an ein Zweiglein in der Hecke und zitterte mit den hauchzarten Flügeln, und sie wusste offenbar nicht, wohin sie rückwärts fliegen sollte. „Der Wind hat sie verweht“, sagte die Lehrerin.

Zwei Autos hielten an und die Leute stiegen aus, um zu fragen, was hier los sei. „Eine Libelle? Eine Seejungfer? Eine was …“
„Eine Calopteryx Virgo“, antwortete die Lehrerin, der es Spaß machte, über Libellen Bescheid zu wissen. „Die Libelle gehört zu den Odonaten“, fügte sie hinzu.

Ringsum breitete sich Stille aus. Die Menschen spürten, dass es jenseits ihrer Autos und Fernseher anderes gibt, zum Beispiel etwas so Kostbares wie diese Libelle, die den morgigen Tag kaum erleben würde.

Ein Mädchen lief davon, um den Eltern zu sagen, dass es eine Seejungfer zu sehen gäbe, und Fräulein Nußbaumer, die Lehrerin mit der Brille auf der Nase und dem Dutt im Nacken, hätte gesagt, es gäbe auf der Welt dreitausendfünfhundert Arten von Libellen, und alle hätten einen lateinischen Namen. „Etwas wie Virgo“ sagte das kleine Mädchen.

Und abends im Seniorenheim erzählt die Lehrerin ihren Mitbewohnern: „Die Kinder haben sich sehr für die Libelle interessiert. Sie wollten irgendetwas tun, um sie zu retten. Aber dann starb sie wohl, die kleine Seejungfer. Niemand konnte es verhindern. Die Kinder waren traurig, und die Erwachsenen zeigten sich bedrückt, als hätte Gott ihnen eine Lehre erteilt, und das hat er ja wohl auch.“

 


Anmerkungen zu dieser exklusiven OR-Serie

Bernhard Schulz (1913 – 2003) dürfte ein Osnabrücker Autor sein, der nicht nur in seiner Heimatstadt wahrhaftig keinen Vergleich zu scheuen braucht: Stolze 24 Bücher und fast 2.400 (!) Kurzgeschichten sind seit 1934 erschienen. Letztere fanden sich in Zeitungsausgaben, Anthologien und Sammelbänden. Völlig zu Unrecht, das ist zumindest die Auffassung der OR-Chefredaktion, ist dieser markante Schreiber heutzutage fast in Vergessenheit geraten. Wir drucken die Geschichten im Original ab.

Eine bemerkenswerte Resonanz erfuhr in der Osnabrücker Rundschau eine Reportage von Heiko Schulze, der sich Anfang Juli dieses Jahres mit dem reichhaltigen Wirken des Osnabrücker Journalisten und Schriftstellers auseinandergesetzt hat. Dies nebenbei nicht ohne Anlass: Wie Hans Wunderlich, Josef Burgdorf oder Karl Kühling zählte Schulz anno 1946 zum Redaktionsteam der damaligen Osnabrücker Rundschau, der leider nur ein kurzes Zeitungsleben zuteil wurde.

Redakteur Bernhard Schulz mit der OR-Erstausgabe vom 1. März 1946 Redakteur Bernhard Schulz mit der OR-Erstausgabe vom 1. März 1946

Ganz im Gegensatz zu Bernhard Schulz hat es sein enger Freund Fritz Wolf (1918-2001) bis heute in die Ahnengalerie von solchen Osnabrückerinnen und Osnabrückern geschafft, die über Jahrzehnte, von der NOZ bis zum Stern, erfolgreich versucht haben, den deutschen Zeitgeist textlich oder zeichnerisch zu spiegeln. Immer wieder ergeben sich bis heute aktuelle Anlässe, um an den Meister des feinen Federstrichs mit seinen stets liebevoll in Szene gesetzten Prominenten zu erinnern.

Sohn Ansgar und Bernhard Schulz Sohn Ansgar und Bernhard Schulz

Kurzum: Anlässe genug, fortan eine neue OR-Serie zu starten, in der ausgewählte Kurzgeschichten von Bernhard Schulz mitsamt ihrer zeichnerischen Begleitung durch Fritz Wolf vorgestellt werden. Herzlich gedankt sei an dieser Stelle Ansgar Schulz-Mittenzwei, der die neue Serie im vertrauensvollen Kontakt zur OR-Redaktion erst ermöglicht hat und der bis heute in liebevoller Weise das literarische Erbe seines Vaters verwaltet.

 

Bernhard Schulz und Fritz Wolf 1951 Bernhard Schulz und Fritz Wolf 1951

Alle Schulz-Geschichten sowie etliche Wolf-Zeichnungen besitzen eine einzige Quelle, die in jüngster Zeit, ebenfalls durch das entscheidende Mitwirken seines Sohnes Ansgar, erscheinen konnte. Entnommen sind sie nämlich dem Schulz-Buch „Den Löwenzahn zermalmt nicht die Kesselpauke oder Hinwendung zur Geborgenheit. 200 kurze Geschichten der Jahre 1945-1965.“ Das kompakte Werk ist im Buchhandel (beispielsweise bei Wenner), online oder direkt über die Website www.BernhardSchulz.de erhältlich.


Alle bislang in der OR erschienenen Geschichten gibt es hier

Neugierigen seien darüber hinaus diese Internetseiten ans Herz gelegt:
Webseite von Bernhard Schulz
Wikipedia über Bernhard_Schulz 
Webseite Fritz Wolf
Interview mit Ansgar Schulz Mittenzwei, dem Sohn von B. Schulz