Bernhard Schulz
„In Gips gelagert“ (1955)
(Links zu früheren Folgen und Anmerkungen zu dieser exklusiven OR-Serie am Ende des Textes)

Otto ist mit dem Auto gegen einen Baum gefahren. Otto ist mein Freund, wir sind vor zwanzig Jahren zusammen zur Schule gegangen. Der Baum stand in einer Kurve und war eine Rosskastanie.

Das Unglück geschah bei Regenwetter. Die Straße war glatt, und wenn wir Otto glauben dürfen, dann mag es wahr sein, dass den Unfall ein simpler Ölfleck verursacht hat.

Mein Freund hatte es sehr eilig. Wenn es jemanden gab, dessen Zeit außergewöhnlich kostbar war, dann hieß der Mann Otto Sowieso. Die übergroße Geschwindigkeit seines Wagens schleuderte ihn gegen einen mächtigen Baum, dem das bisschen Blech nichts ausmachte. Rosskastanien sind eben widerstandsfähiger als Stoßstangen…

Jetzt liegt Otto mit vier gebrochenen Rippen im Krankenhaus, Eingang rechts, III. Stock, Zimmer 278. Besuchszeit nachmittags von 15 bis 16 Uhr. Die Stationsschwester heißt Modesta und ist siebenundfünfzig Jahre alt. Eine energische Dame. Otto hat nichts zu lachen.

Die vier gebrochenen Rippen sind nicht alles, der rechte Fuß ist eingegipst, die Zunge musste genäht werden, elf Zahnstümpfe mussten heraus, und die linke Augenbraue hat einen gemeinen Riss. Otto ist die längste Zeit seines Lebens ein schöner Mann gewesen.

Vorläufig kann er nicht einmal sprechen. Er muss seine Wünsche mit dem Griffel auf eine Schiefertafel schreiben. „Wann aufstehen?“ kritzelt Otto und zeigt die Tafel dem Doktor.

„Machen Sie sich bitte keine Sorgen“, antwortet der Doktor lakonisch.

Otto liegt also da und hat Zeit. Er hat plötzlich ganz schrecklich viel Zeit. Er kann sich nicht erinnern, jemals in seinem Leben Zeit gehabt zu haben. Er darf weder aufstehen, noch kann er sich überhaupt auf die Seite legen. Er kann nicht kauen. Er kann nicht schlucken.

Er kann nichts, er darf nichts, und er muss lernen mit dem Bauch zu atmen, damit die Rippen heilen können. Otto atmet mit dem Bauch, das ist alles, was er zu tun hat.

Schwester Modesta hat ihm jede Aufregung untersagt. Deshalb baut Otto auf der Bettdecke Häuschen aus Spielkarten auf, die zusammenbrechen, sobald er die geringste Bewegung macht. Es ist eine Art Geduldspiel.

Dann liest er fromme Bücher, zum Beispiel: „Das gute Samenkorn“ und die „Christliche Hauspostille“. Wenn er genügend fromme Schriften gelesen hat, veranstaltet er Schönschreibübungen auf der Schiefertafel.

„Wie geht es Ihrem Herrn Vater?“ schreibt Otto für Schwester Modesta auf, „er muss ein edler Charakter sein.“

Aus dieser Anfrage geht hervor, dass Otto ein ruhiger und besonnener Mensch geworden ist. Früher wäre es ihm jedenfalls nicht in den Sinn gekommen, irgendjemanden nach dem Befinden seines Vaters zu fragen.

Alle diese Dinge, Spielkartenhäuschen, gute Samenkörner, Missionskalender, Väter von Krankenschwestern und die Christliche Hauspostille existierten für ihn einfach nicht. Was existierte, hieß Geschäft und Geld. Und dabei war Otto wirklich ein lieber und vernünftiger Mann, dem man nichts Trübes nachsagen konnte. Nur hatte er niemals Zeit.

Umso erstaunlicher ist es, dass die Welt sich jetzt ohne Otto dreht. Nichts hat sich seit dem Unfall verändert. Nichts ist schlimmer oder besser geworden. Es hat sich herausgestellt, dass selbst ein Mann wie Otto zu ersetzen ist. Das Leben weiß sich sofort zu helfen, wenn irgendjemand in Gips gelegt wird.

Ja, es soll sogar Bekannte geben, die nicht einmal bemerkt haben, dass Otto schon seit vier Wochen dem Getriebe der Welt mangelt. Otto wird nicht mehr verlangt, so ist es.

Gestern schrieb Otto folgendes auf seine Tafel: „Mit weniger Eile kommt man schneller ans Ziel.“

Er hat sich vorgenommen, diesen Satz tausendmal zu schreiben. Er denkt, dass sich Erkenntnisse auf diese Weise leichter einprägen.


Anmerkungen zu dieser exklusiven OR-Serie

Bernhard Schulz (1913 – 2003) dürfte ein Osnabrücker Autor sein, der nicht nur in seiner Heimatstadt wahrhaftig keinen Vergleich zu scheuen braucht: Stolze 24 Bücher und fast 2.400 (!) Kurzgeschichten sind seit 1934 erschienen. Letztere fanden sich in Zeitungsausgaben, Anthologien und Sammelbänden. Völlig zu Unrecht, das ist zumindest die Auffassung der OR-Chefredaktion, ist dieser markante Schreiber heutzutage fast in Vergessenheit geraten.

Eine bemerkenswerte Resonanz erfuhr in der Osnabrücker Rundschau eine Reportage von Heiko Schulze, der sich Anfang Juli dieses Jahres mit dem reichhaltigen Wirken des Osnabrücker Journalisten und Schriftstellers auseinandergesetzt hat. Dies nebenbei nicht ohne Anlass: Wie Hans Wunderlich, Josef Burgdorf oder Karl Kühling zählte Schulz anno 1946 zum Redaktionsteam der damaligen Osnabrücker Rundschau, der leider nur ein kurzes Zeitungsleben zuteil wurde.

Redakteur Bernhard Schulz mit der OR-Erstausgabe vom 1. März 1946Redakteur Bernhard Schulz mit der OR-Erstausgabe vom 1. März 1946

Ganz im Gegensatz zu Bernhard Schulz hat es sein enger Freund Fritz Wolf (1918-2001) bis heute in die Ahnengalerie von solchen Osnabrückerinnen und Osnabrückern geschafft, die über Jahrzehnte, von der NOZ bis zum Stern, erfolgreich versucht haben, den deutschen Zeitgeist textlich oder zeichnerisch zu spiegeln. Immer wieder ergeben sich bis heute aktuelle Anlässe, um an den Meister des feinen Federstrichs mit seinen stets liebevoll in Szene gesetzten Prominenten zu erinnern.

Sohn Ansgar und Bernhard SchulzSohn Ansgar und Bernhard Schulz
Bernhard Schulz und Fritz Wolf 1951Bernhard Schulz und Fritz Wolf 1951

Kurzum: Anlässe genug, fortan eine neue OR-Serie zu starten, in der ausgewählte Kurzgeschichten von Bernhard Schulz mitsamt ihrer zeichnerischen Begleitung durch Fritz Wolf vorgestellt werden. Herzlich gedankt sei an dieser Stelle Ansgar Schulz-Mittenzwei, der die neue Serie im vertrauensvollen Kontakt zur OR-Redaktion erst ermöglicht hat und der bis heute in liebevoller Weise das literarische Erbe seines Vaters verwaltet.

Alle Schulz-Geschichten sowie etliche Wolf-Zeichnungen besitzen eine einzige Quelle, die in jüngster Zeit, ebenfalls durch das entscheidende Mitwirken seines Sohnes Ansgar, erscheinen konnte. Entnommen sind sie nämlich dem Schulz-Buch „Den Löwenzahn zermalmt nicht die Kesselpauke oder Hinwendung zur Geborgenheit. 200 kurze Geschichten der Jahre 1945-1965.“ Das kompakte Werk ist im Buchhandel (beispielsweise bei Wenner), online oder direkt über die Website www.BernhardSchulz.de erhältlich.

 


Neugierigen seien überdies diese Internet-Seiten ans Herz gelegt:
http://www.BernhardSchulz.de
https://de.Wikipedia.org/wiki/Bernhard_Schulz 
http://www.Fritz-Wolf.de

Bislang in der OR erschienen:
Geschichte vom 21.11.2021
Geschichte vom 28.11.2021
Geschichte vom 05.12.2021
Geschichte vom 12.12.2021
Geschichte vom 19.12.2021
Geschichte vom 26.12.2021
Geschichte vom 02.01.2022
Geschichte vom 09.01.2022
Geschichte vom 16.01.2022
Geschichte vom 23.01.2022
Geschichte vom 30.01.2022
Geschichte vom 06.02.2022
Geschichte vom 13.02.2022

Bernhard Schulz (1913 – 2003) war ein Osnabrücker Autor, der keinen Vergleich zu scheuen braucht: 24 Bücher und fast 2.400 (!) Kurzgeschichten sind seit 1934 erschienen. Letztere fanden sich in Zeitungsausgaben, Anthologien und Sammelbänden und sind ein Stück Zeitgeschichte. Nach Auffassung der OR-Redaktion ist dieser markante Schreiber, dessen Geschichten zumeist von seinem Freund Fritz Wolf mit einer Karikatur begleitet wurden, zu Unrecht in Vergessenheit geraten.