Bernhard Schulz
My Dear Old Uncle Bill (1948)
(Links zu früheren Folgen und Anmerkungen zu dieser exklusiven OR-Serie am Ende des Textes)

Unsere Verwandten in Amerika, genauer gesagt: die Pakete, die sie schicken, sind heute ein beliebtes Gesprächsthema. Beliebter noch als die vielen Geschichten über die Bauern oder über die Wohnungsnot. Jene Mitbürger, die freudestrahlend mit einem Care-Paket heimwärts wandern, werden von allen beneidet. Nicht jedermann besitzt einen Onkel in Amerika. Dennoch würden die Fäden, die von hier nach drüben führen, zusammengerafft ein erstaunlich dickes Bündel ausmachen. Das beweist schon die Zahl der Geschenkpakete, die von den deutschen Zollbehörden und Postämtern ausgeliefert werden. Wenn zum Beispiel in einer Stadt wie Osnabrück die Zahl dieser Pakete monatlich zwischen 6000 und 7000 schwankt, dann ist das ein beachtlich dicker Tropfen auf den heißen Stein unserer Not.

Aus den ländlichen Bezirken unserer Heimat sind zu Anfang und um die Mitte des vorigen Jahrhunderts viele fleißige und strebsame junge Leute nach drüben ausgewandert. Diese Menschen haben, als sie sesshaft geworden waren, durch Generationen hindurch bis auf den heutigen Tag immer neue Menschen aus der alten Heimat nachgezogen. Diese Leute, die den Mut gefunden hatten, hier ein Haus abzubrechen, um jenseits des Großen Wassers einer völlig fremden Welt entgegenzutreten, haben es, an unserer Armut gemessen, durchaus zu Wohlstand gebracht. Zwar sind manche untergegangen und einige zurückgekehrt, aber die gute Substanz hat sich durchgesetzt. Es gedeihen in Amerika deutsche Familiennamen, die in den Adressbüchern unserer Tage längst gelöscht sind. Nach einer statistischen Angabe aus dem Krieg betrug die Zahl der Deutschstämmigen in den USA etwa 12 Millionen. Bisweilen geschieht es, daß aus der US-Zone unseres Vaterlandes ein amerikanischer Soldat mit einem Jeep voll Verpflegung auf so einem Bauerndorf in Niedersachsen landet, aussteigt und anklopft: „Ich sein Verwandter … Ich Kind von Onkel Bill . . . Ich euch gefunden durch altes Brief…“ Viele Deutschamerikaner ließen ihre Söhne in der alten Heimat erziehen oder schickten sie auf unsere Universitäten. Mancher Bürger drüben, der aus einem Bauernhaus im Emsland, aus einer Hütte am Hunteburger Moor oder aus einer Tischlerwerkstatt in Bersenbrück stammt, rühmt sich erlesener Söhne, die Ärzte, Professoren, Flugzeugingenieure und Molkereibesitzer geworden sind.

Und was halten die Herrn Molkereibesitzer von uns, die sich plötzlich dieser Blutsverwandschaft entsinnen? (In den meisten Fällen waren die Beziehungen drüben nämlich lauwarm entschlafen). Tscha, plötzlich sind die Anzeigenspalten der in deutscher Sprache in USA erscheinenden Zeitungen gefüllt mit „Gesucht“- Inseraten. „Gesucht wird Karl Jürgensmann, um 1896 eingewandert, zuletzt wohnhaft in Milwaukee oder- deren Verwandte. Nachricht erbeten an…“

Seien wir ehrlich: Es handelt sich um Kaffee. Es handelt sich um Tee, Kakao, Eipulver, Trockenmilch, Rosinen, Seife, Zigaretten,

Büchsenschinken, Aprikosen, Unterwäsche, Schuhe, Anzüge, Wintermäntel, Hüte, Handtaschen, Pelze, Armbanduhren, Brautkleider, Tennisbälle und so weiter. „Wir besitzen ja doch rein gar nichts mehr, lieber Onkel Charlie, wir sind ganz schrecklich arm geworden, der Krieg, die Bomben, die russische Zone, du weißt . . . Und für Dich sind das doch alles Kleinigkeiten, lieber Onkel, liebes, gutes Onkelchen. Ich weiß auch noch, wie du ganz klein warst, damals habe ich immer mit dir gespielt…“

Beschämende Schiffsladungen solcher Briefe mögen drüben angekommen sein. Sie haben uns in Amerika den Spottnamen „Gimmies“ eingebracht. Das Wort bedeutet eine Verballhornisierung des englischen „Give me!“ Die Gimmies behaupten nicht, daß Geben seliger denn Nehmen sei. Im Gegenteil, damit wollen sie nichts zu tun haben. Sie schreiben Briefe, in Deutsch, Englisch und Esperanto, damit es nur ja entziffert werden kann, und zählen auf, was ihnen fehlt und was sie gerne haben möchten. Eine amerikanische Zeitung hat sich vor kurzem den Spaß erlaubt, einige dieser „Gimmie“-Briefe im Original zu veröffentlichen. Da liest man denn, dass ein Mädchen ein Klavier geschickt haben will, weil sie doch so musikalisch sei. Ein Gärtner möchte eine Schreibmaschine haben, damit er seinen Dank besser ausdrücken kann. Ein Liebespaar will heiraten und wünscht Brautkleid und Smoking nach Maß. Ein Geschäftsmann fragt an, ob ihm ein Soldat nicht ein Fahrrad mitbringen könne. Bedarf besteht ferner an Nähmaschinen, Klubsesseln, Radiogeräten und Spielsachen.

Dass die Onkels verärgert sind, ist klar. Dass dies die Not der Deutschen in Deutschland, die – nach einem amerikanischen Ausspruch – „sich selbst diese Regierung um den Hals gehängt haben“, nicht wahrhaftiger erscheinen lässt, ist ebenso klar. „Ein Mann, der hungert, braucht was zu essen und keinen Tischtennisschläger“, schreibt die Zeitung: „wie gut muss es diesem Schmachtlappen im Klubsessel gehen!“ Im Übrigen tun unsere Verwandten drüben, was sie können, um uns unsere Lage zu erleichtern. Sie gründen caritative Vereine, veranstalten Wohltätigkeitsfeste, Basare und Lotterien, richten Versandhäuser ein, bieten genormte Lebensmittel- und Kleiderpakete zum Kauf an, drucken Plakate mit der Aufschrift: „Helft euren Landsleuten in der alten Heimat“ und bekämpfen den Deutschenhass der anderen. Aber das alles reicht nicht. Die Gimmies sind stärker, sie pflanzen ihr Unwesen fort, sie danken nicht, sie betteln . . .

Und erst kürzlich hat sich ein Deutschamerikaner, dessen Großvater aus der Wittlager Gegend eingewandert war, die Mühe gemacht, via Air Mail im nobelsten Slang zu antworten: „Du gehst mich einen Dreck an, old boy!“ Das war grob. Wenn es sich dabei um die Zusendung von Traktoren und einem neuen Dach für die Scheune gehandelt hat, kann man es verstehen.


Anmerkungen zu dieser exklusiven OR-Serie

Bernhard Schulz (1913 – 2003) dürfte ein Osnabrücker Autor sein, der nicht nur in seiner Heimatstadt wahrhaftig keinen Vergleich zu scheuen braucht: Stolze 24 Bücher und fast 2.400 (!) Kurzgeschichten sind seit 1934 erschienen. Letztere fanden sich in Zeitungsausgaben, Anthologien und Sammelbänden. Völlig zu Unrecht, das ist zumindest die Auffassung der OR-Chefredaktion, ist dieser markante Schreiber heutzutage fast in Vergessenheit geraten. Wir drucken die Geschichten im Original ab.

Eine bemerkenswerte Resonanz erfuhr in der Osnabrücker Rundschau eine Reportage von Heiko Schulze, der sich Anfang Juli dieses Jahres mit dem reichhaltigen Wirken des Osnabrücker Journalisten und Schriftstellers auseinandergesetzt hat. Dies nebenbei nicht ohne Anlass: Wie Hans Wunderlich, Josef Burgdorf oder Karl Kühling zählte Schulz anno 1946 zum Redaktionsteam der damaligen Osnabrücker Rundschau, der leider nur ein kurzes Zeitungsleben zuteil wurde.

Redakteur Bernhard Schulz mit der OR-Erstausgabe vom 1. März 1946Redakteur Bernhard Schulz mit der OR-Erstausgabe vom 1. März 1946

Ganz im Gegensatz zu Bernhard Schulz hat es sein enger Freund Fritz Wolf (1918-2001) bis heute in die Ahnengalerie von solchen Osnabrückerinnen und Osnabrückern geschafft, die über Jahrzehnte, von der NOZ bis zum Stern, erfolgreich versucht haben, den deutschen Zeitgeist textlich oder zeichnerisch zu spiegeln. Immer wieder ergeben sich bis heute aktuelle Anlässe, um an den Meister des feinen Federstrichs mit seinen stets liebevoll in Szene gesetzten Prominenten zu erinnern.

Sohn Ansgar und Bernhard SchulzSohn Ansgar und Bernhard Schulz
Bernhard Schulz und Fritz Wolf 1951Bernhard Schulz und Fritz Wolf 1951

Kurzum: Anlässe genug, fortan eine neue OR-Serie zu starten, in der ausgewählte Kurzgeschichten von Bernhard Schulz mitsamt ihrer zeichnerischen Begleitung durch Fritz Wolf vorgestellt werden. Herzlich gedankt sei an dieser Stelle Ansgar Schulz-Mittenzwei, der die neue Serie im vertrauensvollen Kontakt zur OR-Redaktion erst ermöglicht hat und der bis heute in liebevoller Weise das literarische Erbe seines Vaters verwaltet.

Alle Schulz-Geschichten sowie etliche Wolf-Zeichnungen besitzen eine einzige Quelle, die in jüngster Zeit, ebenfalls durch das entscheidende Mitwirken seines Sohnes Ansgar, erscheinen konnte. Entnommen sind sie nämlich dem Schulz-Buch „Den Löwenzahn zermalmt nicht die Kesselpauke oder Hinwendung zur Geborgenheit. 200 kurze Geschichten der Jahre 1945-1965.“ Das kompakte Werk ist im Buchhandel (beispielsweise bei Wenner), online oder direkt über die Website www.BernhardSchulz.de erhältlich.

 


Neugierigen seien überdies diese Internet-Seiten ans Herz gelegt:
http://www.BernhardSchulz.de
https://de.Wikipedia.org/wiki/Bernhard_Schulz 
http://www.Fritz-Wolf.de

Bislang in der OR erschienen:
Geschichte vom 21.11.2021
Geschichte vom 28.11.2021
Geschichte vom 05.12.2021
Geschichte vom 12.12.2021
Geschichte vom 19.12.2021
Geschichte vom 26.12.2021
Geschichte vom 02.01.2022
Geschichte vom 09.01.2022
Geschichte vom 16.01.2022
Geschichte vom 23.01.2022
Geschichte vom 30.01.2022
Geschichte vom 06.02.2022
Geschichte vom 13.02.2022
Geschichte vom 20.02.2022
Geschichte vom 27.02.2022
Geschichte vom 06.03.2022
Geschichte vom 13.03.2022
Geschichte vom 20.03.2022
Geschichte vom 27.03.2022
Geschichte vom 03.04.2022
Geschichte vom 10.04.2022
Geschichte vom 17.04.2022
Geschichte vom 24.04.2022
Geschichte vom 01.05.2022
Geschichte vom 08.05.2022
Geschichte vom 15.05.2022
Geschichte vom 22.05.2022
Geschichte vom 29.05.2022
Geschichte vom 05.06.2022

Bernhard Schulz (1913 – 2003) war ein Osnabrücker Autor, der keinen Vergleich zu scheuen braucht: 24 Bücher und fast 2.400 (!) Kurzgeschichten sind seit 1934 erschienen. Letztere fanden sich in Zeitungsausgaben, Anthologien und Sammelbänden und sind ein Stück Zeitgeschichte. Nach Auffassung der OR-Redaktion ist dieser markante Schreiber, dessen Geschichten zumeist von seinem Freund Fritz Wolf mit einer Karikatur begleitet wurden, zu Unrecht in Vergessenheit geraten.