Bernhard Schulz (1913 – 2003) war ein Osnabrücker Autor, der keinen Vergleich zu scheuen braucht: 24 Bücher und fast 2.400 (!) Kurzgeschichten sind seit 1934 erschienen. Letztere fanden sich in Zeitungsausgaben, Anthologien und Sammelbänden und sind ein Stück Zeitgeschichte. Nach Auffassung der OR-Redaktion ist dieser markante Schreiber zu Unrecht in Vergessenheit geraten, dessen Geschichten häufig von seinem Freund Fritz Wolf mit einer Karikatur begleitet wurden. Die Ergebnisse sind auch ein Spiegelbild des damaligen, heute oft befremdlich wirkenden Zeitgeistes.

Bernhard Schulz
„Sensationen, etwas abgegriffen“ 1959
(Ein Link zu früheren Folgen und Anmerkungen zu dieser exklusiven OR-Serie am Ende des Textes)

Der Mann, der die Lesemappen verteilt, unsere wöchentliche Ration an Lesekraftfutter, ist in den Straßen unserer Stadt so regelmäßig zu sehen wie der Postbote und der Müllkutscher. Es ist sein Beruf geworden, Lesemappen auszutragen.

Wir alle haben erlebt, wie stürmisch die Lesezirkelentwicklung vonstatten- ging. Anfangs reichte dem Mann ein Leinenbeutel fürs Geschäft. Heute ist unser Freund motorisiert Er hat sich ein Motorrad angeschafft, und daran hängt ein Wägelchen, das auf nicht unerhebliche Weise Reklame für das Lesen von Zeitschriften macht.

Die Kundschaft ist in Klassen eingeteilt Die Klasse richtet sich nach der Zahlungsfähigkeit des Lesers. Das Lese Gut selbst zerfällt in „Garnituren“. Die erste Garnitur kommt schnurstracks aus der Druckerei und ist appetitlich aktuell. Die Mappen liegen da wie frisch geschnittene Scheiben vom Brotlaib der publizistischen Volksnahrung.

Die fünfte Garnitur ist schon ein wenig abgenutzt. Die Rätsel sind gelöst. Der Termin für die Einsendung der Lösung zum Fünfzigtausendmarkpreisausschreiben ist verflossen. Der Frauenmörder, der vor fünf Wochen noch fieberhaft gesucht wurde, sitzt hinter Gittern. Der Schnee, so er auf den Dächern des Alpendorfes liegt, ist geschmolzen. Der Außenminister, der zur Konferenz kommt, ist abgesetzt. Das glückliche Filmehepaar hat längst das Hochzeitsservice zerdeppert und die Scheidung eingereicht

Alle fließt, sagt Heraklit. Nirgendwo tritt diese Erkenntnis deutlicher und sinnfälliger zutage als im fünften Abonnement eines Lesezirkels. Was gibt es Neues? Lauter Altes gibt es neu. In der fünften Garnitur herrscht sibirische Kälte, indes auf dem Titelblatt der ersten Garnitur schon die Magnolien an der Riviera aufbrechen. Und das nur deshalb, weil einem die Groschen fehlen.

Wie gesagt, dass der Ätna in Tätigkeit getreten ist, erfahren die Fünfte-Garnitur-Leser erst demnächst in diesem Lesezirkel. Für sie geht die Zeitenuhr immer nach, sie marschieren immer hinten, sie dürfen erst dann an der Moritat schlecken, wenn die anderen sich längst an saftigen Novitäten atzen.

Nun, dafür kommen die Leser der fünften Garnitur in den Genuss der lustigen Randbemerkungen zu dem Tralala und Juppheidi des Lebens, obwohl es verboten ist, die Mappen zu „beschmutzen“. Jedoch sind Kommentare noch lange kein Schmutz, da sei das Grundgesetz vor. Notizen wie diese etwa: „Blöder Hund“ und „Alberne Ziege“ sind lediglich Äußerungen des demokratischen Selbstbewusstseins. Jeder soll seiner Meinung mit Tintenstift Ausdruck verleihen. Wer schreibt, der bleibt – auch im Lesezirkel.

Natürlich ist es unfein, wenn jemand den Damen Schnurrbärte anzeichnet und den Politikern Dolche ins Gebiss malt So was gehört sich nicht. Aber schließlich gibt es schlimmere Dinge auf der Welt als derart martialische Retuschen.

Der Inhalt eines Lieferwägelchens voller Lesemappen umfasst die Sensationen von rund sechs Wochen. Was da zentnerweise an Flugzeugabstürzen, Schönheitsköniginnen, Eisenbahnunglücken, Dschungelkrieg, Krebsforschung, Missgeburten, Filmverheißungen, Totogewinnen, Büstenhalter Reklame und Romanstoff zusammenkommt ist erstaunlich.

Gutes steht allerdings nicht drin. Es ist ein besonderes Merkmal unserer Zeit, dass das Gute nicht zur Drucklegung verlockt. Welche Zeitschrift käme wohl auf den Einfall, den Bäckermeister H. aufs Titelblatt zu setzen und darunter zu schreiben: „Hier ist der Mann, der seit 32 Jahren allmorgendlich um viere aufsteht und für uns Brötchen bäckt!“? Wann wäre je eine Reinemachefrau der Ehre der Publikation teilhaftig geworden? Bäckermeister und Reinemachefrau sind, titelblattmäßig gesehen, verlegerischer Selbstmord.

Das Gute reizt nicht zum Lesen; es ist langwellig. Kurzweil bereitet nur die Kugel, die nicht ins eigene Fleisch dringt. Vergnügen macht nur der Eisberg, der den Dampfer rammt, auf dem andere tanzen. Lust erregt nur die Handfessel, die sich um die Gelenke fremder Männer legt.

Alles fließt, am beharrlichsten aber die Druckerschwärze.

 




Redakteur Bernhard Schulz mit der OR-Erstausgabe vom 1. März 1946Redakteur Bernhard Schulz mit der OR-Erstausgabe vom 1. März 1946

Ganz im Gegensatz zu Bernhard Schulz hat es sein enger Freund Fritz Wolf (1918-2001) bis heute in die Ahnengalerie von solchen Osnabrückerinnen und Osnabrückern geschafft, die über Jahrzehnte, von der NOZ bis zum Stern, erfolgreich versucht haben, den deutschen Zeitgeist textlich oder zeichnerisch zu spiegeln. Immer wieder ergeben sich bis heute aktuelle Anlässe, um an den Meister des feinen Federstrichs mit seinen stets liebevoll in Szene gesetzten Prominenten zu erinnern.

Sohn Ansgar und Bernhard SchulzSohn Ansgar und Bernhard Schulz

Kurzum: Anlässe genug, fortan eine neue OR-Serie zu starten, in der ausgewählte Kurzgeschichten von Bernhard Schulz mitsamt ihrer zeichnerischen Begleitung durch Fritz Wolf vorgestellt werden. Herzlich gedankt sei an dieser Stelle Ansgar Schulz-Mittenzwei, der die neue Serie im vertrauensvollen Kontakt zur OR-Redaktion erst ermöglicht hat und der bis heute in liebevoller Weise das literarische Erbe seines Vaters verwaltet.

 

Bernhard Schulz und Fritz Wolf 1951Bernhard Schulz und Fritz Wolf 1951

Alle Schulz-Geschichten sowie etliche Wolf-Zeichnungen besitzen eine einzige Quelle, die in jüngster Zeit, ebenfalls durch das entscheidende Mitwirken seines Sohnes Ansgar, erscheinen konnte. Entnommen sind sie nämlich dem Schulz-Buch „Den Löwenzahn zermalmt nicht die Kesselpauke oder Hinwendung zur Geborgenheit. 200 kurze Geschichten der Jahre 1945-1965.“ Das kompakte Werk ist im Buchhandel (beispielsweise bei Wenner), online oder direkt über die Website www.BernhardSchulz.de erhältlich.


Alle bislang in der OR erschienenen Geschichten gibt es hier

Neugierigen seien darüber hinaus diese Internetseiten ans Herz gelegt:
Webseite von Bernhard Schulz
Wikipedia über Bernhard_Schulz 
Webseite Fritz Wolf
Interview mit Ansgar Schulz Mittenzwei, dem Sohn von B. Schulz