Bernhard Schulz (1913 – 2003) war ein Osnabrücker Autor, der keinen Vergleich zu scheuen braucht: 24 Bücher und fast 2.400 (!) Kurzgeschichten sind seit 1934 erschienen. Letztere fanden sich in Zeitungsausgaben, Anthologien und Sammelbänden und sind ein Stück Zeitgeschichte. Nach Auffassung der OR-Redaktion ist dieser markante Schreiber zu Unrecht in Vergessenheit geraten, dessen Geschichten häufig von seinem Freund Fritz Wolf mit einer Karikatur begleitet wurden. Die Ergebnisse sind auch ein Spiegelbild des damaligen, heute oft befremdlich wirkenden Zeitgeistes.
Bernhard Schulz
,,Sie haben den Jungen einiges voraus“ 1959
(Ein Link zu früheren Folgen und Anmerkungen zu dieser exklusiven OR-Serie am Ende des Textes)
Sie trägt Blond mit einem Farbton, der kaum merklich ins Graue hinüberspielt. Wenn man ihr sagt, dass sie jung sei und dass ihr die Hoffnung wohl ansteht, nicht immer hinter der Schreibmaschine sitzen zu müssen, lächelt sie müde. Sie nimmt das Kompliment dankbar an, aber sie weiß, dass sie nicht mehr jung ist.
Sie lächelt anders als jene Mädchen, die überzeugt sind, dass sie durch ihre Jugend wirken. Auch spielen Lippenstift und Puderdose längst nicht mehr die Rolle purer Affektation. Sie kann hinwerfen: „Ich bin doch kein Backfisch mehr.“
Das soll heißen: Von Backfischen verlangt man nicht, dass sie nach Diktat in die Maschine schreiben. Backfische brauchen nicht zu wissen, wie „Wechseldiskont“ geschrieben wird und wie man Ihn berechnet. Backfische sind da, um Lehre anzunehmen, das Büro zu verschönern und für den Chef Blumen einzukaufen, wenn er einen Besuch macht. Das ältere Fräulein setzt die Lehrlinge ein wenig hintenan. „Ihr habt noch Zeit“, denkt Fräulein Prittwitz. Das haben sie auch.
Sie macht keine Tippfehler mehr, sie kann ihr Stenogramm lesen, als gäbe es nichts Geringfügigeres als stenographisches Gekritzel. Das ist ihr Beruf. Aber hinter den Beruf ist die Ehe gesetzt, der eigene Herd und die Paradekissen im Schlafzimmer. Daran denkt sie, dass sie gern heiraten möchte.
Sie beschäftigt sich damit, zu überlegen, wer in Frage käme. Hm… Die in Frage gekommen wären, sind aus dem Krieg nicht helmgekehrt. Sie liegen in Dörfern begraben, die Alezandrowka oder Belintschlskaja heißen. Namen, die ihr geläufig sind und die sie den Backfischen voraushat.
Weiter hat sie den Backfischen voraus, dass sie sich an den Ton der Warnsirenen erinnern kann, an das Stampfen teppichweise fallender Bomben, an Brandgeruch, Tote, Uniformen, Abschiedsszenen, Transportzüge, Einquartierung, Soldatenlieder, Vierfruchtmarmelade, Wistra und Luftschutzunterricht.
Fräulein Prittwitz hat ihre Jugend den Stunden und Nächten des Fliegeralarms geopfert. Meist saß sie im Bunker, aber oft musste sie auch im Keller bleiben, weil die Flieger schon da waren. Sie hatte schreckliche Angst. Statt zu tanzen, hockte sie sonntags am Rundfunkgerät und wartete auf Alarm. Statt ins Grüne zu radeln, musste sie Gepäckstücke und Volksgasmasken an sich raffen und unter dem Schwellton besessener Sirenen zum Bunker stürzen.
Sie kennt keine richtigen Liebesbriefe mit dem Lavendelduft dickbauchiger Aussteuerkisten. Sie kennt Feldpostkarten mit nüchternen Angaben: „Deinen Brief gestern bekommen. Lagen drei Tage in Ruhe. Heute soll es wieder nach vorne gehen. Der Schlamm ist das Schlimmste. Ist Mutter wieder besser? Wie geht es Vater? Grüße alle recht herzlich von mir.“
Viele solche Karten hat Fräulein Prittwitz in einer Pappschachtel liegen. Dazu ein Ordensbändchen, eine zerbeulte Uhr, einen Verlobungsring und ein Schreiben von irgendeinem Leutnant und Kompanieführer, der aufrichtig bedauert, mitteilen zu müssen …. der Tapfersten einer… Vaterland … nie vergessen… Kameraden.
Mit solchen Worten ist Fräulein Prittwitz vollgestopft. Mit solchen Worten und mit Kenntnissen in Rechtschreibung, amerikanischer Buchführung, Einheitskurzschrift, Warenkunde, Bankverkehr, Postgebühren. Aktenablage, Angestelltenversicherung, Lohnbuchhaltung, Krankenkasse, Einkommensteuer, Strumpfpreisen, Adressen von billigen Schneiderinnen, Backrezepten und Romanlektüre ist Fräulein Prittwitz geradezu genudelt.
Aus den Paradekissen wird nichts. Fräulein Prittwitz spielt nicht in der Lotterie. Sie tippt nicht. Sie löst keine Preisrätsel. Sie entdeckt keine Schönheitsperlen. Sie entwirft keine Baupläne.
Sie sitzt hinter ihrer Schreibmaschine und tippt: „Bezugnehmend auf Ihr geehrtes Schreiben vom Datum teilen wir Ihnen mit Komma dass wir Ihr Angebot betreffend Preisliste Nummer dreizehn Strich achtundzwanzig elf großes B Komma…“

Ganz im Gegensatz zu Bernhard Schulz hat es sein enger Freund Fritz Wolf (1918-2001) bis heute in die Ahnengalerie von solchen Osnabrückerinnen und Osnabrückern geschafft, die über Jahrzehnte, von der NOZ bis zum Stern, erfolgreich versucht haben, den deutschen Zeitgeist textlich oder zeichnerisch zu spiegeln. Immer wieder ergeben sich bis heute aktuelle Anlässe, um an den Meister des feinen Federstrichs mit seinen stets liebevoll in Szene gesetzten Prominenten zu erinnern.

Kurzum: Anlässe genug, fortan eine neue OR-Serie zu starten, in der ausgewählte Kurzgeschichten von Bernhard Schulz mitsamt ihrer zeichnerischen Begleitung durch Fritz Wolf vorgestellt werden. Herzlich gedankt sei an dieser Stelle Ansgar Schulz-Mittenzwei, der die neue Serie im vertrauensvollen Kontakt zur OR-Redaktion erst ermöglicht hat und der bis heute in liebevoller Weise das literarische Erbe seines Vaters verwaltet.

Alle Schulz-Geschichten sowie etliche Wolf-Zeichnungen besitzen eine einzige Quelle, die in jüngster Zeit, ebenfalls durch das entscheidende Mitwirken seines Sohnes Ansgar, erscheinen konnte. Entnommen sind sie nämlich dem Schulz-Buch „Den Löwenzahn zermalmt nicht die Kesselpauke oder Hinwendung zur Geborgenheit. 200 kurze Geschichten der Jahre 1945-1965.“ Das kompakte Werk ist im Buchhandel (beispielsweise bei Wenner), online oder direkt über die Website www.BernhardSchulz.de erhältlich.
Alle bislang in der OR erschienenen Geschichten gibt es hier
Neugierigen seien darüber hinaus diese Internetseiten ans Herz gelegt:
Webseite von Bernhard Schulz
Wikipedia über Bernhard_Schulz
Webseite Fritz Wolf
Interview mit Ansgar Schulz Mittenzwei, dem Sohn von B. Schulz