Bernhard Schulz (1913 – 2003) war ein Osnabrücker Autor, der keinen Vergleich zu scheuen braucht: 24 Bücher und fast 2.400 (!) Kurzgeschichten sind seit 1934 erschienen. Letztere fanden sich in Zeitungsausgaben, Anthologien und Sammelbänden und sind ein Stück Zeitgeschichte. Nach Auffassung der OR-Redaktion ist dieser markante Schreiber, dessen Geschichten zumeist von seinem Freund Fritz Wolf mit einer Karikatur begleitet wurden, zu Unrecht in Vergessenheit geraten.

Bernhard Schulz
„Sitzplätze nicht erwünscht“ – 1955
(Ein Link zu früheren Folgen und Anmerkungen zu dieser exklusiven OR-Serie am Ende des Textes)


Straßenbahn im Karneval   

Wir erleben jetzt die Zeit der Feste, der karnevalistischen Veranstaltungen und der großen Bälle. Die Vereine haben auf ihrem Jahres Programm den „Winterball“ stehen, und nun ist die Gelegenheit da, ihn zu veranstalten. Drucksachen flattern ins Haus: „…und beehren wir uns, Sie zu unserem diesjährigen gemütlichen Beisammensein mit Damen ergebenst einzuladen.“

So kann es geschehen, dass wir abends nach getaner Arbeit an der Straßenbahnhaltestelle stehen und warten. Es ist kalt. Die Bogenlampe schaukelt im Wind, und in ihrem Licht stehen junge Mädchen, die zu einem Ball fahren. Es ist rührend, zu beobachten, wie sehr sie sich auf das große Ereignis freuen. Sicher haben sie schon seit Wochen an nichts Anderes mehr gedacht als an Tanz und an jene süßen Geheimnisse, die in ihrem Alter das Herz stocken machen.

Wir waren alle einmal jung, und wir wissen deshalb sofort, dass die Mädchen nicht etwa nach Hause streben oder zu einem Vortrag der Volkshochschule unterwegs sind, denn unter ihren kurzen Mäntelchen tragen sie lange Abendkleider. Himmelblaue und rosafarbene Seide leuchtet hervor, die Schuhe haben hohe, zierliche Absätze, goldene Sandaletten, ach du lieber Himmel, und die Köpfchen umhüllen Schleier von zartester Beschaffenheit.

Es sind keine großen Damen, die wir vor uns sehen, keine Damen der eleganten Welt, sonst wären sie wohl kaum auf die Straßenbahn angewiesen. Junge Dinger sind es, Tanzschuldinger, Backfische, Frühgemüse. Sie setzen sich mit ihren Abendkleidern, der dürftig ondulierten Frisur, dem zarten Teint und überhaupt ihrer ganzen jugendlichen Anmut der grimmen Kälte aus. Kein Kavalier erbarmt sich ihrer Füße.

Aber die Kälte stört sie vermutlich nicht so sehr wie die neugierig aufdringlichen Blicke der Fahrgäste, obgleich es wahr ist, dass sie es darauf abgesehen haben, den Menschen zu gefallen. Selbstverständlich nicht jedem x-beliebigen Exemplar, das in irgendeiner Straßenbahn sitzt, sondern dem heimlich erwählten Willi oder Hansfriedrichotto, der sich heute Abend zum ersten Male in seinem Leben rasiert hat.

Es ist niemand im Wagen, den der Auftritt dieser liebenswürdigen Jugend unbeeindruckt ließe. Es ist halt doch ein fataler Unterschied ob jemand achtzehn oder achtundfünfzig Jahre alt ist. Hier in der Straßenbahn ist es zu spüren (Es tut mir leid für diejenigen, die achtundfünfzig sind.)

So stehen denn auch prompt einige Herren mittleren Alters von Ihren Plätzen auf und vollführen hilflos lächerliche Gebärden der Einladung. Aber die Mädchen wollen nicht sitzen, danke schön, nein. Sie haben mehr davon, wenn sie stehen und ihre frischgeplätteten Ballkleidchen schonen.

Die balzenden Herren mittleren Alters setzen sich wieder. Der Schaffner grinst. Die Herren haben der Höflichkeit ihren Zoll entrichtet; man wird doch noch galant sein dürfen. Die alten Damen, die mit dem Doktor verabredet sind, lächeln mokant. Die Herren blättern in ihren Zeitungen und haben eine Schlappe erlitten. Nun Ja.

Inzwischen sind die Fahrgäste darauf gekommen, dass Abendkleider nicht zur Straßenbahn passen. Aphrodite hätte es sicher auch für unter ihrer Würde erachtet, sich an einer Stange festzuhalten. Die Straßenbahn, nicht wahr, ist ein öffentliches Verkehrsmittel, eine Arche für jedermann, und viel zu alltäglich für festlich geputzte Schönheit.

Das sehen die Mädchen ein, deshalb genieren sie sich ein wenig vor den Leuten, die von der Arbeit zurückkehren oder zum Vortrag der Volkshochschule fahren, und sie stecken die Köpfe zusammen und kichern…

Der Kontrast ist reizend, das müssen wir zugeben. Die jungen Mädchen haben den Mut, auch ohne Achtzylinder und Nerzstola an der Freude teilzunehmen, und das ist recht so.

 


Anmerkungen zu dieser exklusiven OR-Serie

Bernhard Schulz (1913 – 2003) dürfte ein Osnabrücker Autor sein, der nicht nur in seiner Heimatstadt wahrhaftig keinen Vergleich zu scheuen braucht: Stolze 24 Bücher und fast 2.400 (!) Kurzgeschichten sind seit 1934 erschienen. Letztere fanden sich in Zeitungsausgaben, Anthologien und Sammelbänden. Völlig zu Unrecht, das ist zumindest die Auffassung der OR-Chefredaktion, ist dieser markante Schreiber heutzutage fast in Vergessenheit geraten. Wir drucken die Geschichten im Original ab.

Eine bemerkenswerte Resonanz erfuhr in der Osnabrücker Rundschau eine Reportage von Heiko Schulze, der sich Anfang Juli dieses Jahres mit dem reichhaltigen Wirken des Osnabrücker Journalisten und Schriftstellers auseinandergesetzt hat. Dies nebenbei nicht ohne Anlass: Wie Hans Wunderlich, Josef Burgdorf oder Karl Kühling zählte Schulz anno 1946 zum Redaktionsteam der damaligen Osnabrücker Rundschau, der leider nur ein kurzes Zeitungsleben zuteil wurde.

Redakteur Bernhard Schulz mit der OR-Erstausgabe vom 1. März 1946 Redakteur Bernhard Schulz mit der OR-Erstausgabe vom 1. März 1946

Ganz im Gegensatz zu Bernhard Schulz hat es sein enger Freund Fritz Wolf (1918-2001) bis heute in die Ahnengalerie von solchen Osnabrückerinnen und Osnabrückern geschafft, die über Jahrzehnte, von der NOZ bis zum Stern, erfolgreich versucht haben, den deutschen Zeitgeist textlich oder zeichnerisch zu spiegeln. Immer wieder ergeben sich bis heute aktuelle Anlässe, um an den Meister des feinen Federstrichs mit seinen stets liebevoll in Szene gesetzten Prominenten zu erinnern.

Sohn Ansgar und Bernhard Schulz Sohn Ansgar und Bernhard Schulz

Kurzum: Anlässe genug, fortan eine neue OR-Serie zu starten, in der ausgewählte Kurzgeschichten von Bernhard Schulz mitsamt ihrer zeichnerischen Begleitung durch Fritz Wolf vorgestellt werden. Herzlich gedankt sei an dieser Stelle Ansgar Schulz-Mittenzwei, der die neue Serie im vertrauensvollen Kontakt zur OR-Redaktion erst ermöglicht hat und der bis heute in liebevoller Weise das literarische Erbe seines Vaters verwaltet.

 

Bernhard Schulz und Fritz Wolf 1951 Bernhard Schulz und Fritz Wolf 1951

Alle Schulz-Geschichten sowie etliche Wolf-Zeichnungen besitzen eine einzige Quelle, die in jüngster Zeit, ebenfalls durch das entscheidende Mitwirken seines Sohnes Ansgar, erscheinen konnte. Entnommen sind sie nämlich dem Schulz-Buch „Den Löwenzahn zermalmt nicht die Kesselpauke oder Hinwendung zur Geborgenheit. 200 kurze Geschichten der Jahre 1945-1965.“ Das kompakte Werk ist im Buchhandel (beispielsweise bei Wenner), online oder direkt über die Website www.BernhardSchulz.de erhältlich.


Alle bislang in der OR erschienenen Geschichten gibt es hier

Neugierigen seien darüber hinaus diese Internetseiten ans Herz gelegt:
Webseite von Bernhard Schulz
Wikipedia über Bernhard_Schulz 
Webseite Fritz Wolf
Interview mit Ansgar Schulz Mittenzwei, dem Sohn von B. Schulz