Bernhard Schulz (1913 – 2003) war ein Osnabrücker Autor, der keinen Vergleich zu scheuen braucht: 24 Bücher und fast 2.400 (!) Kurzgeschichten sind seit 1934 erschienen. Letztere fanden sich in Zeitungsausgaben, Anthologien und Sammelbänden und sind ein Stück Zeitgeschichte. Nach Auffassung der OR-Redaktion ist dieser markante Schreiber, dessen Geschichten zumeist von seinem Freund Fritz Wolf mit einer Karikatur begleitet wurden, zu Unrecht in Vergessenheit geraten.
Bernhard Schulz
„Suse, Kindken, suse …“ – 1950
(Links zu früheren Folgen und Anmerkungen zu dieser exklusiven OR-Serie am Ende des Textes)
Ein Wiegenlied ist nichts Besonderes. Es werden in der Welt wahrscheinlich mehr Wiegenlieder gedichtet, als nutzbringende Handelsverträge abgeschlossen. Das ist es also nicht.
Jede Mutter hat, wenn sie ihr Jüngstes auf dem Arm trägt, ein paar Verse auf den Lippen, und die Melodie, nach der gesungen wird, ist immer die gleiche: „Suse, Kindgen, suse…Schlaf, Kindchen schlaf…“ Süß, einlullend, beruhigend…“Dein Vater hütet die Schaf…“ Dass der Vater Fußball spielt, Weltumsegler ist oder im Kreistag sitzt, davon ist keine Rede. In allen Wiegenliedern hüten die Väter die Schafe, und das Brot ist teuer und das Land ausgebrannt. Was soll man dazu sagen. Anscheinend haben nur die armen Leute Sinn für das Wiegenlied gehabt: Von den Millionären ist nicht bekannt dass sie ihren Sprösslingen etwas zu singen hatten. Grundbesitz und Bankvermögen reimen nicht auf das unschuldsvolle Blau von Kinderaugen. Außerdem haben Millionäre keine Zeit zum Singen; sie müssen Schulden eintreiben und rückständige Zinsen verrechnen, und was da so alles zu tun ist. Die Kinder der Millionäre fangen deswegen schon in der Wiege mit Entbehrungen an. Es gibt im Tageslauf ihrer Eltern nichts, das geeignet wäre, als Inhalt für ein Wiegenlied zu dienen. Schafe sind zum Beispiel ein prächtiger Inhalt. Sie werden auf der ganzen Welt bevorzugt, wenn es heißt, neben einer Wiege stehen und lammfromm darüber weg schauen. Die Schafe sind in dieser Hinsicht neben den Eseln die geduldigsten Tiere.
Jüngst hat ein Amerikaner aus Milwaukee im Land Wisconsin ein Wiegenlied zurückgeschickt. Sein Großvater nahm es 1874 mit nach Cincinatti. Es war ein Osnabrücker Wiegenlied, und der Großvater war auch ein Osnabrücker. Viel haben die Amerikaner von ihrer Muttersprache nicht behalten, aber das Wiegenlied, das saß: Das sangen sie ihren Kindern vor, abends auf der Bank vor dem Farmershaus und nachts, wenn der Regen niederrann und sie Heimweh hatten nach der alten Heimat …
„Suse, Kindgen, suse, Achter usen Huse, wuohnt der Peiter Kruse, Häff kin Broad in’n Huse, Müse kraipen in’t Molkenschnapp, Kregen kin Steart of Öhrken natt, Hoä, Hoä, hoä …“
Der letzte, der es seinen Kindern sang, hat bestimmt keinen Sinn darin gebracht, was „Öhrken“ sind. Oder doch? So, wie es hier gedruckt steht, kam das Lied im Jahre 1949 in das multizonal gespaltene deutsche Vaterland zurück, in die Postleitzahl Dreiundzwanzig nach Osnabrück im Lande Niedersachsen. Wir wissen nicht, ob es ein großartiges Geschenk ist. Wenn wir an irgendetwas Überfluss haben, dann an gereimten Herzensergüssen. Die Wiegenlieder sind noch die bekömmlichsten Leckerbissen am Küchenbuffet der Lyrik, insofern …
Was uns erregt, ist der Gedanke, dass da irgendwo in der weiten Welt, achter usen Huse sozusagen, ein paar einfältige Osnabrücker Sätzchen weitergelebt haben und nicht untergegangen sind im Strudel der unbegrenzten Möglichkeiten. Drei Generationen haben diese Verse überdauert. Dreiviertel Jahrhundert lang sind sie in Cincinnati, im Milwaukee und St.Louis gesungen worden, in deutschen Familien und die jungen US-Bürger, die eine Zeitlang in Superfestungen Rosinen und Trockenmilch nach Berlin geflogen haben, sind mit ihrem Klang im Ohr groß geworden: Suse, Kindgen, suse …
Yes, der Peiter Kruse hat immer noch kein Brot in’n Huse.
Den Deutschamerikanern ist dies alles nicht mehr vorstellbar. Sie wissen wahrscheinlich nicht, was sie singen. Suse mag ein Girl sein, denken sie und „in‘n Huse“ das ist da, wo es was zu essen gibt, und „Molkenschapp“, nun das steht in keinem Dictionary. Vielleicht gibt es in Amerika nicht einmal mehr Hausmäuse, diese letzten Zeugen der Romantik, und kein Mensch weiß mit diesem Wiegenlied etwas anzufangen.
Und Peiter Kruse? Er wird im Zwischendeck auf der Fahrt nach drüben Hungers gestorben sein, wer weiß das? In Deutschland heißen wir jetzt alle so.
Anmerkungen zu dieser exklusiven OR-Serie
Bernhard Schulz (1913 – 2003) dürfte ein Osnabrücker Autor sein, der nicht nur in seiner Heimatstadt wahrhaftig keinen Vergleich zu scheuen braucht: Stolze 24 Bücher und fast 2.400 (!) Kurzgeschichten sind seit 1934 erschienen. Letztere fanden sich in Zeitungsausgaben, Anthologien und Sammelbänden. Völlig zu Unrecht, das ist zumindest die Auffassung der OR-Chefredaktion, ist dieser markante Schreiber heutzutage fast in Vergessenheit geraten. Wir drucken die Geschichten im Original ab.
Eine bemerkenswerte Resonanz erfuhr in der Osnabrücker Rundschau eine Reportage von Heiko Schulze, der sich Anfang Juli dieses Jahres mit dem reichhaltigen Wirken des Osnabrücker Journalisten und Schriftstellers auseinandergesetzt hat. Dies nebenbei nicht ohne Anlass: Wie Hans Wunderlich, Josef Burgdorf oder Karl Kühling zählte Schulz anno 1946 zum Redaktionsteam der damaligen Osnabrücker Rundschau, der leider nur ein kurzes Zeitungsleben zuteil wurde.

Ganz im Gegensatz zu Bernhard Schulz hat es sein enger Freund Fritz Wolf (1918-2001) bis heute in die Ahnengalerie von solchen Osnabrückerinnen und Osnabrückern geschafft, die über Jahrzehnte, von der NOZ bis zum Stern, erfolgreich versucht haben, den deutschen Zeitgeist textlich oder zeichnerisch zu spiegeln. Immer wieder ergeben sich bis heute aktuelle Anlässe, um an den Meister des feinen Federstrichs mit seinen stets liebevoll in Szene gesetzten Prominenten zu erinnern.

Kurzum: Anlässe genug, fortan eine neue OR-Serie zu starten, in der ausgewählte Kurzgeschichten von Bernhard Schulz mitsamt ihrer zeichnerischen Begleitung durch Fritz Wolf vorgestellt werden. Herzlich gedankt sei an dieser Stelle Ansgar Schulz-Mittenzwei, der die neue Serie im vertrauensvollen Kontakt zur OR-Redaktion erst ermöglicht hat und der bis heute in liebevoller Weise das literarische Erbe seines Vaters verwaltet.

Alle Schulz-Geschichten sowie etliche Wolf-Zeichnungen besitzen eine einzige Quelle, die in jüngster Zeit, ebenfalls durch das entscheidende Mitwirken seines Sohnes Ansgar, erscheinen konnte. Entnommen sind sie nämlich dem Schulz-Buch „Den Löwenzahn zermalmt nicht die Kesselpauke oder Hinwendung zur Geborgenheit. 200 kurze Geschichten der Jahre 1945-1965.“ Das kompakte Werk ist im Buchhandel (beispielsweise bei Wenner), online oder direkt über die Website www.BernhardSchulz.de erhältlich.
Alle bislang in der OR erschienenen Geschichten gibt es hier
Neugierigen seien darüber hinaus diese Internetseiten ans Herz gelegt:
Webseite von Bernhard Schulz
Wikipedia über Bernhard_Schulz
Webseite Fritz Wolf
Interview mit Ansgar Schulz Mittenzwei, dem Sohn von B. Schulz