Bernhard Schulz
„Was gibt es Neues in der Welt?“ (1958)
(Links zu früheren Folgen und Anmerkungen zu dieser exklusiven OR-Serie am Ende des Textes)

Im Wartesaal sitzen zwei Frauen. Es sind Mütter und sie sind einander fremd. Sie haben in der Stadt eingekauft, Strümpfe für die Kinder, Stoff für ein Sommerkleidchen, Sämereien, Gartengeräte und Brot. Irgendetwas müssen sie mitbringen aus der Stadt, worüber sich die Kinder freuen können. Ein Negerpüppchen oder Maikäfer aus Schokolade mit Krabbelbeinen aus Pappe…

„Kalt draußen“

Die Angesprochene nickt. „Kalt draußen“ ist eine Tatsache. Gut, dass man eine Strickjacke untergezogen hat. Die beiden Mütter kommen ins Gespräch. Sie schauen einander an, nicken, lächeln, kramen die Kinderstrümpfe und das Sommerkleidchen aus der Tasche und klagen, dass alles so teuer sei.

„Wirklich wahr“, sagen sie. Damit ist der Gesprächsstoff erschöpft. Die Quelle der Mitteilungen ist versiegt. Man richtet sich ein wenig auf. Man seufzt. Man fragt: „Und sonst? Was gibt es Neues in der Welt?“
Was soll es geben? Nichts. Es gibt nichts. Wenn es überhaupt etwas Neues in der Welt gibt, dann nur die Tatsache, dass es nichts gibt. In der Welt – das sagen sie so, als lebten sie auf einer Insel oder in einem Kloster. „Ich hörte, um Neuenkirchen herum sollen die Bohnen erfroren sein.“
Und jetzt ist das Gespräch endgültig zu Ende. Es gibt nichts mehr, was wichtig genug wäre, gesagt zu werden. Um Neuenkirchen herum sollen die Bohnen erfroren sein…

Inzwischen hat man aber im Südpazifik Versuche mit thermonuklearen Bomben angestellt. In der Nähe von Rom fiel radioaktiver Wüstensand zur Erde. In der asiatischen Steppe explodierte ein Lager von Atomsprengköpfen. An den Grenzen Sowjetrusslands patrouillieren amerikanische Flugzeuge. Die Küsten Amerikas werden von sowjetischen Unterseebooten bewacht. Der Ölberg in Jerusalem liegt im Visier jordanischer Panzer. In Algerien wurden Aufständische erschossen. Moskau erlebte den Einsatz von Autobussen mit elektronischer Steuerung. Ein künstlicher Mond umkreist die Erde. Es gab Tote bei Autozusammenstößen und Flugzeugabstürzen. Ein Schiff ist gesunken. Ein feuerspeiender Berg hat sich aufgetan. Ein neues Gewehr wurde erfunden, ein Serum, ein Mittel gegen Haarausfall. Eine neue Hunderasse wurde gezüchtet, ein Apfel, eine Lupine. Eine Oper wurde uraufgeführt. Ein neues Schauspiel hat einen Skandal ausgelöst. Ein Filmstar verübte Selbstmord. Ein abstrakter Maler wurde entdeckt. Aufstand in Venezuela, Banditenterror auf Kuba. Forscherschicksal am Südpol. Ohrfeigen in Monaco. Und sonst? Was gibt es Neues in der Welt? Nichts. Beinahe nichts. Um Neuenkirchen herum sollen die Bohnen erfroren sein.


Anmerkungen zu dieser exklusiven OR-Serie

Bernhard Schulz (1913 – 2003) dürfte ein Osnabrücker Autor sein, der nicht nur in seiner Heimatstadt wahrhaftig keinen Vergleich zu scheuen braucht: Stolze 24 Bücher und fast 2.400 (!) Kurzgeschichten sind seit 1934 erschienen. Letztere fanden sich in Zeitungsausgaben, Anthologien und Sammelbänden. Völlig zu Unrecht, das ist zumindest die Auffassung der OR-Chefredaktion, ist dieser markante Schreiber heutzutage fast in Vergessenheit geraten.

Eine bemerkenswerte Resonanz erfuhr in der Osnabrücker Rundschau eine Reportage von Heiko Schulze, der sich Anfang Juli dieses Jahres mit dem reichhaltigen Wirken des Osnabrücker Journalisten und Schriftstellers auseinandergesetzt hat. Dies nebenbei nicht ohne Anlass: Wie Hans Wunderlich, Josef Burgdorf oder Karl Kühling zählte Schulz anno 1946 zum Redaktionsteam der damaligen Osnabrücker Rundschau, der leider nur ein kurzes Zeitungsleben zuteil wurde.

Redakteur Bernhard Schulz mit der OR-Erstausgabe vom 1. März 1946Redakteur Bernhard Schulz mit der OR-Erstausgabe vom 1. März 1946

Ganz im Gegensatz zu Bernhard Schulz hat es sein enger Freund Fritz Wolf (1918-2001) bis heute in die Ahnengalerie von solchen Osnabrückerinnen und Osnabrückern geschafft, die über Jahrzehnte, von der NOZ bis zum Stern, erfolgreich versucht haben, den deutschen Zeitgeist textlich oder zeichnerisch zu spiegeln. Immer wieder ergeben sich bis heute aktuelle Anlässe, um an den Meister des feinen Federstrichs mit seinen stets liebevoll in Szene gesetzten Prominenten zu erinnern.

Sohn Ansgar und Bernhard SchulzSohn Ansgar und Bernhard Schulz
Bernhard Schulz und Fritz Wolf 1951Bernhard Schulz und Fritz Wolf 1951

Kurzum: Anlässe genug, fortan eine neue OR-Serie zu starten, in der ausgewählte Kurzgeschichten von Bernhard Schulz mitsamt ihrer zeichnerischen Begleitung durch Fritz Wolf vorgestellt werden. Herzlich gedankt sei an dieser Stelle Ansgar Schulz-Mittenzwei, der die neue Serie im vertrauensvollen Kontakt zur OR-Redaktion erst ermöglicht hat und der bis heute in liebevoller Weise das literarische Erbe seines Vaters verwaltet.

Alle Schulz-Geschichten sowie etliche Wolf-Zeichnungen besitzen eine einzige Quelle, die in jüngster Zeit, ebenfalls durch das entscheidende Mitwirken seines Sohnes Ansgar, erscheinen konnte. Entnommen sind sie nämlich dem Schulz-Buch „Den Löwenzahn zermalmt nicht die Kesselpauke oder Hinwendung zur Geborgenheit. 200 kurze Geschichten der Jahre 1945-1965.“ Das kompakte Werk ist im Buchhandel (beispielsweise bei Wenner), online oder direkt über die Website www.BernhardSchulz.de erhältlich.

 


Neugierigen seien überdies diese Internet-Seiten ans Herz gelegt:
http://www.BernhardSchulz.de
https://de.Wikipedia.org/wiki/Bernhard_Schulz 
http://www.Fritz-Wolf.de

Bislang in der OR erschienen:
Geschichte vom 21.11.2021
Geschichte vom 28.11.2021
Geschichte vom 05.12.2021
Geschichte vom 12.12.2021
Geschichte vom 19.12.2021
Geschichte vom 26.12.2021
Geschichte vom 02.01.2022
Geschichte vom 09.01.2022
Geschichte vom 16.01.2022
Geschichte vom 23.01.2022
Geschichte vom 30.01.2022
Geschichte vom 06.02.2022
Geschichte vom 13.02.2022
Geschichte vom 20.02.2022

Bernhard Schulz (1913 – 2003) war ein Osnabrücker Autor, der keinen Vergleich zu scheuen braucht: 24 Bücher und fast 2.400 (!) Kurzgeschichten sind seit 1934 erschienen. Letztere fanden sich in Zeitungsausgaben, Anthologien und Sammelbänden und sind ein Stück Zeitgeschichte. Nach Auffassung der OR-Redaktion ist dieser markante Schreiber, dessen Geschichten zumeist von seinem Freund Fritz Wolf mit einer Karikatur begleitet wurden, zu Unrecht in Vergessenheit geraten.