Sonntag, 12.00 Uhr: Bernhard Schulz mit Fritz Wolf – „Wiederbelebung“ (1948)

Bernhard Schulz
„Wiederbelebung(1948)
(Links zu früheren Folgen und Anmerkungen zu dieser exklusiven OR-Serie am Ende des Textes)

Literarische Miniaturen  

Luft der Freiheit   

Die Menschen stiegen aus Luftschutzbunkern, Stacheldrahtgehegen und Gefängnissen nach oben. Sie warfen feldgraue, olivfarbene und braune Uniformen ab und atmeten die Luft der Freiheit, die nach Brot schmeckte, das frisch aus dem Ofen gezogen wird. In ihrem Innern hatte sich Dampf angesammelt und dieser Dampf wollte raus. Der Dampf zischte, aber er zischte nicht wie Dampf zischt in einem Stahlwerk oder in einer Schnapsbrennerei. Das Zischen hörte sich eher an wie eine Kette von Explosionen in Jupheidi und Trallala und jedes Trallala bedeutete: Ich lebe noch.

Kinderbett

Die kleine Lokomotive mit den Kipploren hat einen Teil der zerstörten Kühlschränke, Öfen, Herde und Klaviere aus der Stadt geschafft. Aber es gibt immer noch Ruinen, in deren oberen Stockwerken ein Kinderbettchen hängen geblieben ist. Wir haben uns an den Anblick von Ruinen gewöhnt. Die Ruinen erschrecken uns nicht mehr. Schrecklich ist das Kinderbettchen. Erst das Kinderbettchen offenbart uns den Verlust, den wir erlitten haben. Gestern noch hat in diesem Bettchen ein kleines Mädchen geschlafen, mit einer Puppe im Arm.

Plakat

Auf dem Plakat steht: „Hilf ihm, als wäre er der Deine.“ Sein Kopf ist kahl geschoren. Die Haut ist grau und durchsichtig. Nase und Ohren sind erfroren. Dafür kann er nichts. Er lag bei 50 Grad unter Null bei Slawinka verwundet im Schnee. Ein Intellektueller? Vielleicht ein Dorfschullehrer oder ein Doktor der Philosophie? Die Philosophie ist nicht einmal ein Tausendstel von dem wert, was ein sauberes Hemd bedeutet. Aber die Propaganda hat ihn als Typ erkannt. Die Propaganda lieh sich seinen geschorenen Schädel für ein Plakat aus. Sie vergab seine lichtlosen Augen, diese Totenschädellöcher an die Mauern, die stehen geblieben waren. Sie vermachte seinen schmalen bitteren Mund den Wartezimmerwänden und Büroeingängen. Und dies alles um der Hoffnung willen.

Barackenmensch

Der Barackenmensch ist der Mensch unserer Tage. Er ist hervorgegangen aus einem Bombardement. Er ist das Geschöpf einer Pressluftmine. Er ist das Opfer eines Flächenwurfs auf seine Kochstelle. Als er zu seiner neuen Daseinsform erwachte, war er arm und unbekleidet wie Adam. Die Haut auf der Brust war angeritzt von Granatsplittern, die Augenbrauen waren versengt von Brandbomben und in der Hand hielt er ein Kochgeschirr. Das Kochgeschirr erleichterte ihm den Beginn einer neuen Lebensepoche. Diese Epoche kennt weder fließendes Wasser in der Küche noch eine Glühbirne an der Decke. Aber sie kennt den Schlaf auf dem Fußboden und das entzündete Fleisch, das vom Biss der Wanze herrührt. Die Wanzen sind im Verein mit Ratten und Läusen die wahren Sieger.

Übersicht

Trotz der Überflutung mit Ekrasit und Phosphor ist einiges erhalten geblieben. Der Dom, das Rathaus, die Marienkirche, das Heger Tor, der Bocksturm, der Pernickelturm, die Vitischanze, ein Dutzend barocker Giebel und vertrautes Fachwerk. Nichts ist spurlos verschwunden. Von allem ist noch ein Zeichen da, ein Umriss, eine Ahnung. Den Heiligen in den Außennischen der Kirchen haben Bombensplitter das Gesicht halbiert, als solle ihnen das Weinen erspart bleiben. Anderswo lächeln Engel über den Untergang der Welt. Heilige blicken zum Himmel empor. In Kaiserbärten nisten Sperlinge. Ein Wasserspeier bleckt sein Drachenmaul. Sogar der Kopf des Löwenpudels fand sich im Geröll wieder.

Tauschzentrale

In der Tauschzentrale wird gesucht und angeboten. In der Hauptsache geht es um Schuhe und Kleidung. Auch Löffel sind gefragt, denn zur Suppe gehört ein Löffel. Die sozialen Schichten, denen die Kundschaft entstammt, sind an den zum Tausch bereitgelegten Kleidern abzulesen. Da hängt der altersgraue Hut neben der hahnigen Reithose, das Hochzeitskleid neben dem Schlosserkittel, der Trachtenanzug neben der Hose aus englischer Gefangenschaft, auf der noch PoW steht. Vor alten Kleidern wird man ehrfürchtig. Wer weiß, welch erlauchter Geist in ihnen beheimatet war. Der Geruch der aus Kellern und Bunkern zusammengetragenen Lumpen schafft eine Atmosphäre eindringlicher Zeit- und Menschennähe.

Schrott

Bei Klöckner werden die in Wäldern, an Straßenrändern und in Jauchegruben abgelegten Waffen gesammelt. Alles wird von Schneidbrennern zerkleinert. Man macht Geschnetzeltes für den Hochofen. Haushoch türmt sich das Arsenal des Schreckens. Es schaudert einen beim bloßen Anblick. Wer an der Front sein Gewehr hinwarf, wurde erschossen. Aus. Hier sammeln sich zuhauf Geschütze und Granatwerfer, Bestandteile von Panzern und Trümmer von Flugzeugen, Stahlhelme und militärischer Kleinkram von der Gasmaskenbüchse bis zur Munitionskiste. Ein lenkbarer Kran schaufelt sein Maul voll mit rostigem Eisen. Was einmal der Stolz einer Armee war, was unter Trommelwirbel und Trompetenklang zur Vereidigung antrat, was von geistlichen Herren für den Einsatz im Krieg gesegnet wurde, Waffen, Waffen, Waffen, das wird hier zu Schrott erniedrigt. Der Weihrauch hat sich verzogen, haften geblieben ist der Geruch von Verwesung.

 


Anmerkungen zu dieser exklusiven OR-Serie

Bernhard Schulz (1913 – 2003) dürfte ein Osnabrücker Autor sein, der nicht nur in seiner Heimatstadt wahrhaftig keinen Vergleich zu scheuen braucht: Stolze 24 Bücher und fast 2.400 (!) Kurzgeschichten sind seit 1934 erschienen. Letztere fanden sich in Zeitungsausgaben, Anthologien und Sammelbänden. Völlig zu Unrecht, das ist zumindest die Auffassung der OR-Chefredaktion, ist dieser markante Schreiber heutzutage fast in Vergessenheit geraten.

Eine bemerkenswerte Resonanz erfuhr in der Osnabrücker Rundschau eine Reportage von Heiko Schulze, der sich Anfang Juli dieses Jahres mit dem reichhaltigen Wirken des Osnabrücker Journalisten und Schriftstellers auseinandergesetzt hat. Dies nebenbei nicht ohne Anlass: Wie Hans Wunderlich, Josef Burgdorf oder Karl Kühling zählte Schulz anno 1946 zum Redaktionsteam der damaligen Osnabrücker Rundschau, der leider nur ein kurzes Zeitungsleben zuteil wurde.

Redakteur Bernhard Schulz mit der OR-Erstausgabe vom 1. März 1946Redakteur Bernhard Schulz mit der OR-Erstausgabe vom 1. März 1946

Ganz im Gegensatz zu Bernhard Schulz hat es sein enger Freund Fritz Wolf (1918-2001) bis heute in die Ahnengalerie von solchen Osnabrückerinnen und Osnabrückern geschafft, die über Jahrzehnte, von der NOZ bis zum Stern, erfolgreich versucht haben, den deutschen Zeitgeist textlich oder zeichnerisch zu spiegeln. Immer wieder ergeben sich bis heute aktuelle Anlässe, um an den Meister des feinen Federstrichs mit seinen stets liebevoll in Szene gesetzten Prominenten zu erinnern.

Sohn Ansgar und Bernhard SchulzSohn Ansgar und Bernhard Schulz
Bernhard Schulz und Fritz Wolf 1951Bernhard Schulz und Fritz Wolf 1951

Kurzum: Anlässe genug, fortan eine neue OR-Serie zu starten, in der ausgewählte Kurzgeschichten von Bernhard Schulz mitsamt ihrer zeichnerischen Begleitung durch Fritz Wolf vorgestellt werden. Herzlich gedankt sei an dieser Stelle Ansgar Schulz-Mittenzwei, der die neue Serie im vertrauensvollen Kontakt zur OR-Redaktion erst ermöglicht hat und der bis heute in liebevoller Weise das literarische Erbe seines Vaters verwaltet.

Alle Schulz-Geschichten sowie etliche Wolf-Zeichnungen besitzen eine einzige Quelle, die in jüngster Zeit, ebenfalls durch das entscheidende Mitwirken seines Sohnes Ansgar, erscheinen konnte. Entnommen sind sie nämlich dem Schulz-Buch „Den Löwenzahn zermalmt nicht die Kesselpauke oder Hinwendung zur Geborgenheit. 200 kurze Geschichten der Jahre 1945-1965.“ Das kompakte Werk ist im Buchhandel (beispielsweise bei Wenner), online oder direkt über die Website www.BernhardSchulz.de erhältlich.

 


Neugierigen seien überdies diese Internet-Seiten ans Herz gelegt:
http://www.BernhardSchulz.de
https://de.Wikipedia.org/wiki/Bernhard_Schulz 
http://www.Fritz-Wolf.de

Bislang in der OR erschienen:
Geschichte vom 21.11.2021
Geschichte vom 28.11.2021
Geschichte vom 05.12.2021
Geschichte vom 12.12.2021
Geschichte vom 19.12.2021
Geschichte vom 26.12.2021
Geschichte vom 02.01.2022
Geschichte vom 09.01.2022
Geschichte vom 16.01.2022
Geschichte vom 23.01.2022
Geschichte vom 30.01.2022
Geschichte vom 06.02.2022
Geschichte vom 13.02.2022
Geschichte vom 20.02.2022
Geschichte vom 27.02.2022
Geschichte vom 06.03.2022
Geschichte vom 13.03.2022
Geschichte vom 20.03.2022
Geschichte vom 27.03.2022
Geschichte vom 03.04.2022
Geschichte vom 10.04.2022
Geschichte vom 17.04.2022

Bernhard Schulz (1913 – 2003) war ein Osnabrücker Autor, der keinen Vergleich zu scheuen braucht: 24 Bücher und fast 2.400 (!) Kurzgeschichten sind seit 1934 erschienen. Letztere fanden sich in Zeitungsausgaben, Anthologien und Sammelbänden und sind ein Stück Zeitgeschichte. Nach Auffassung der OR-Redaktion ist dieser markante Schreiber, dessen Geschichten zumeist von seinem Freund Fritz Wolf mit einer Karikatur begleitet wurden, zu Unrecht in Vergessenheit geraten.

 

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