Bernhard Schulz (1913 – 2003) war ein Osnabrücker Autor, der keinen Vergleich zu scheuen braucht: 24 Bücher und fast 2.400 (!) Kurzgeschichten sind seit 1934 erschienen. Letztere fanden sich in Zeitungsausgaben, Anthologien und Sammelbänden und sind ein Stück Zeitgeschichte. Nach Auffassung der OR-Redaktion ist dieser markante Schreiber, dessen Geschichten zumeist von seinem Freund Fritz Wolf mit einer Karikatur begleitet wurden, zu Unrecht in Vergessenheit geraten.
Bernhard Schulz
„Wo die Lerche singt“ – 1954
(Ein Link zu früheren Folgen und Anmerkungen zu dieser exklusiven OR-Serie am Ende des Textes)
Heute steht in der Zeitung, dass die Stare angekommen sind. Wenn die Stare da sind, kommen auch die Weidenkätzchen und die Schneeglöckchen und die Krokusse. Gemeldet wird auch der erste Schmetterling des Jahres. Es ist ein Zitronenfalter und gehört zur Gattung der Weißlinge. Ein Rentner hat ihn in einer Streichholzschachtel zur Redaktion gebracht, und der Redakteur hat sofort einen Artikel über den Schmetterling geschrieben. Wir Leser des Lokalblattes fangen um diese Zeit an, über Ereignisse zu reden, die mit dem Frühling zu tun haben.
Heute zum Beispiel ist ein sehr milder Tag. Ich bin nach dem Mittagessen in meinen Schrebergarten gegangen, der am Bahndamm liegt. Ich habe meiner Frau abends davon erzählt, wie sehr ich es genossen habe, mit dem Spaten ein paar Stiche in die Erde zu tun. Dann habe ich auf der Bank in der Sonne gesessen und eine Flasche Bier getrunken, und die Reisenden in der Bahn haben gedacht, da sitzt einer in der Sonne und trinkt sein Bier.
Im Bürgerpark rücken die jungen Mütter die Kinderwagen in die Sonne, und es ist fast überhaupt kein Wind zu spüren, sondern nur die seidenweiche Luft des Frühlings. Eine alte Dame hat ihren Vogelkäfig mit in den Park gebracht. Der Vogel ist ein Wellensittich und heißt Hansi.
Der Buchhändler und ich, wir haben beide den Zweiten Weltkrieg mitgemacht, deshalb duzen wir uns. Wir sind alte Kameraden. »In Russland«, sagt der Buchhändler, »kommt der Frühling über Nacht. Über Nacht beginnt die Schneeschmelze. Wir lagen im Mittelabschnitt vor einem Dorf, das Kaminka hieß. Von beiden Seiten schoss die Artillerie in den Ort. Es war ein Tag, an dem, ähnlich wie heute, die Luft seidenweich dahinfloss und die Erde nach Frühling roch. Verstehst du, was ich meine?«
»Aber ja doch«, erwiderte ich, »ich weiß, wie Erde schmeckt.« Der Buchhändler sah mich prüfend an, als wolle er sich überzeugen, dass ich der Wiedergabe seiner Erinnerungen würdig sei.
»Das Erregendste an diesem Tag vor Kaminka«, fuhr der Buchhändler fort, »das war nicht die Schneeschmelze, sondern dieser weite russische Himmel, der voller Lerchen hing. Es müssen Tausende gewesen sein. Nicht beeindruckt von Detonationen, Feuersäulen und Rauchwolken stiegen die Lerchen zum Himmel empor. Sie ließen sich nicht von ihrer Aufgabe abbringen, den Schöpfer zu loben. Den Schöpfer des Himmels und der Erden, wie es in der Bibel heißt. Während der kleinen Pausen, die zwischen Abschuss und Einschlag entstanden, lauschten wir dem Lied der Lerchen.« Er schluckte ein wenig, und dann sagte er: »Soll ich dir mal was sagen?«
Ich nickte, einverstanden, und der Buchhändler sagte: »Zu keiner anderen Zeit im Krieg habe ich so schlimm unter Heimweh gelitten. Ich sehnte mich nach dem Dorf zurück, in dem ich aufgewachsen bin, zurück nach den Feldern, über denen im März ja auch die Lerchen sangen. Die Lerchen bestärkten mich in der Hoffnung, dass der Krieg nicht ewig dauern würde und dass ich eines Tages heimkehren dürfte.«
»Und das Buch über den Krieg«, ich deutete auf das Sonderangebot im Schaufenster, »werden die Lerchen in dem Buch erwähnt?«
»Mann, wo denkst du hin«, antwortete der Buchhändler, »Lerchen sind doch ganz unwichtig.«
Anmerkungen zu dieser exklusiven OR-Serie
Bernhard Schulz (1913 – 2003) dürfte ein Osnabrücker Autor sein, der nicht nur in seiner Heimatstadt wahrhaftig keinen Vergleich zu scheuen braucht: Stolze 24 Bücher und fast 2.400 (!) Kurzgeschichten sind seit 1934 erschienen. Letztere fanden sich in Zeitungsausgaben, Anthologien und Sammelbänden. Völlig zu Unrecht, das ist zumindest die Auffassung der OR-Chefredaktion, ist dieser markante Schreiber heutzutage fast in Vergessenheit geraten. Wir drucken die Geschichten im Original ab.
Eine bemerkenswerte Resonanz erfuhr in der Osnabrücker Rundschau eine Reportage von Heiko Schulze, der sich Anfang Juli dieses Jahres mit dem reichhaltigen Wirken des Osnabrücker Journalisten und Schriftstellers auseinandergesetzt hat. Dies nebenbei nicht ohne Anlass: Wie Hans Wunderlich, Josef Burgdorf oder Karl Kühling zählte Schulz anno 1946 zum Redaktionsteam der damaligen Osnabrücker Rundschau, der leider nur ein kurzes Zeitungsleben zuteil wurde.

Ganz im Gegensatz zu Bernhard Schulz hat es sein enger Freund Fritz Wolf (1918-2001) bis heute in die Ahnengalerie von solchen Osnabrückerinnen und Osnabrückern geschafft, die über Jahrzehnte, von der NOZ bis zum Stern, erfolgreich versucht haben, den deutschen Zeitgeist textlich oder zeichnerisch zu spiegeln. Immer wieder ergeben sich bis heute aktuelle Anlässe, um an den Meister des feinen Federstrichs mit seinen stets liebevoll in Szene gesetzten Prominenten zu erinnern.

Kurzum: Anlässe genug, fortan eine neue OR-Serie zu starten, in der ausgewählte Kurzgeschichten von Bernhard Schulz mitsamt ihrer zeichnerischen Begleitung durch Fritz Wolf vorgestellt werden. Herzlich gedankt sei an dieser Stelle Ansgar Schulz-Mittenzwei, der die neue Serie im vertrauensvollen Kontakt zur OR-Redaktion erst ermöglicht hat und der bis heute in liebevoller Weise das literarische Erbe seines Vaters verwaltet.

Alle Schulz-Geschichten sowie etliche Wolf-Zeichnungen besitzen eine einzige Quelle, die in jüngster Zeit, ebenfalls durch das entscheidende Mitwirken seines Sohnes Ansgar, erscheinen konnte. Entnommen sind sie nämlich dem Schulz-Buch „Den Löwenzahn zermalmt nicht die Kesselpauke oder Hinwendung zur Geborgenheit. 200 kurze Geschichten der Jahre 1945-1965.“ Das kompakte Werk ist im Buchhandel (beispielsweise bei Wenner), online oder direkt über die Website www.BernhardSchulz.de erhältlich.
Alle bislang in der OR erschienenen Geschichten gibt es hier
Neugierigen seien darüber hinaus diese Internetseiten ans Herz gelegt:
Webseite von Bernhard Schulz
Wikipedia über Bernhard_Schulz
Webseite Fritz Wolf
Interview mit Ansgar Schulz Mittenzwei, dem Sohn von B. Schulz