Sonntag, 12.00 Uhr: Bernhard Schulz ohne Fritz Wolf – „Er sang so gern Mamatschi“ 1958

Bernhard Schulz (1913 – 2003) war ein Osnabrücker Autor, der keinen Vergleich zu scheuen braucht: 24 Bücher und fast 2.400 (!) Kurzgeschichten sind seit 1934 erschienen. Letztere fanden sich in Zeitungsausgaben, Anthologien und Sammelbänden und sind ein Stück Zeitgeschichte. Nach Auffassung der OR-Redaktion ist dieser markante Schreiber zu Unrecht in Vergessenheit geraten, dessen Geschichten häufig von seinem Freund Fritz Wolf mit einer Karikatur begleitet wurden. Die Ergebnisse sind auch ein Spiegelbild des damaligen, heute oft äußerst befremdlich wirkenden Zeitgeistes.

Bernhard Schulz
„Er sang so gern Mamatschi“ 1958
(Ein Link zu früheren Folgen und Anmerkungen zu dieser exklusiven OR-Serie am Ende des Textes)

Er sagte, dass er vorgehabt hätte, Sänger zu werden. Als es Schwierigkeiten gab, hatte er sich mit den Eltern dahin geeinigt, bei einem Friseur in die Lehre zu gehen und einen Damensalon aufzumachen. Aber singen wollte er immer noch. Er nahm Unterricht, und er wurde einmal sogar aufgefordert, auf einem Betriebsfest zu singen, und die Zeitung erwähnte das in ihrem Bericht.

Es war im Krieg, im Frühjahr Vierundvierzig, wenn sich jemand daran erinnert, wann das gewesen ist. Der Friseur und ich standen am linken Flügel einer Genesungskompanie, stillgestanden, ausrichten, Brust raus, Kopf hoch, rührt euch und herhören, Leute.

Eine Genesungskompanie, auch das muss erklärt werden, war eine Art Sammelbecken für Soldaten, die aus dem Lazarett entlassen und für arbeitsverwendungsfähig befunden worden waren. Nach dem Antreten morgens wurden diese Soldaten mit ihren kaum vernarbten Wunden und ihrer von der Gelbsucht beschädigten Leber, um nur eine Kleinigkeit zu nennen von allem, was hier an Plage zusammenkam, zur Arbeit kommandiert.

Dem Friseur und mir wurde befohlen, einen Friedhof in Ordnung zu bringen. Wir zogen mit Harke und Spaten los und machten uns daran, den Rasen zwischen den Grabsteinen zu säubern. Der Friedhof war in den letzten Jahren vernachlässigt worden. Niemand hatte sich um Wege, Grabsteine und Bäume gekümmert. Der Sturm hatte Geäst von den alten Ulmen herabgerissen, die Pfade waren überwachsen und der Rasen mit Unkraut überwuchert.

„In spätestens vier Wochen“, sagte der Spieß, „ist das hier eine erstklassige Parkanlage, verstanden! Zur Eröffnung laden wir den Bürgermeister ein, und dann gibt es Freibier“.

Manchmal erschien der Spieß nachmittags zur Besichtigung der Arbeit, die der Friseur und ich geleistet hatten, und er stellte sogar einen Maurer ab, der sich von einem Lungensteckschuss erholen sollte, um einige Grabsteine, die gestürzt waren, wiederaufzurichten.

Gelegentlich machten wir Pause und dann fragte der Friseur, ob wir Lust hätten, seine Stimme zu hören, und auch der Maurer erfuhr, dass die Zeitung ihn in einem Bericht erwähnt hatte, als Künstler gewissermaßen. Er stützte sich mit den Händen auf den Spatengriff, räusperte seine Kehle, ballaballa, mimimi und schmetterte in der lauen von Vogelstimmen erfüllten Frühlingsluft über die Gräber ein Liedchen hin.

Sein Lieblingslied hieß „Mamatschi“ und das brachte uns fast zum Weinen. Ein kleiner Junge wünscht sich ein Pferd zum Spielen, und was kommt zum Schluss dabei heraus? Das Pferdchen zieht einen Leichenwagen. Ich höre den Text heute noch “ Mamatschi, schenk mir ein Pferdchen, ein Pferdchen für mein Paradies…“ Und Mamatschi schenkte ihm eins für den Weg zum Friedhof.

Eines Tages, als wir mit dem Rasen und den Pfaden und den Bäumen fertig waren, fingen wir an, Moos und Schmutz und Flechte und irgendeine Sorte von brauner Farbe von den Grabsteinen abzuwaschen, und da sahen wir, dass es ein jüdischer Friedhof war, den wir auf Hochglanz gebracht hatten. Die Toten, um die wir uns gekümmert hatten, hießen Rosenbaum, Levi, Samson und Grünstein, nur um einige zu nennen, und sie hatten in Ehre gelebt und waren in Ehren bestattet worden. Die Namen waren in lateinischen Buchstaben in den Stein gemeißelt und das übrige, meinte der Spieß, sei Hebräisch oder was die Juden so unter sich redeten.

Wir, der Friseur, der Maurer und ich, der ich eine Zeitlang in einem Büro den Locher bedient und die Portokasse geführt hatte, ohne jemals auf den Gedanken zu kommen, Hebräisch zu lernen, wir trafen diese Feststellung so arglos, wie wir den Unterschied zwischen einem Haferfeld und einem Roggenacker erkannt hätten.

Uns war der eine Friedhof so recht wie der andere, der Aaron Mendel so willkommen wie der Willi Schulze, die Sarah Stern so lieb wie die Inge Müller und der Kompanie, die uns beordert hatte, ging es nur darum, unsere erwachsene Kraft nutzbringend einzusetzen.

Den jüdischen Friedhof dieser verträumten Garnisonsstadt in einen würdigen Zustand zu versetzen, hielt der Kompaniechef für richtig, und er ließ es sich auch von niemanden ausreden.

Nach dem Krieg, als die Wahrheit offenbar wurde, erinnerte ich mich daran, wie sehr dieser Auftrag, jüdische Grabsteine aufzurichten, im Widerspruch gestanden hatte zu dem Mord, der zur selben Zeit an Stätten geschah, deren Namen nicht im Heeresbericht genannt wurden.

Der Friseur, um auch das zu sagen, starb in russischer Gefangenschaft. Seine Frau schrieb mir einen Brief, und darin stand, dass jene Arbeit im Frühjahr vierundvierzig auf dem alten jüdischen Friedhof in H. seine letzte gute Erinnerung gewesen sei. „Er sang so gerne“, schrieb die Kameradenfrau „und Mamatschi war sein Lieblingslied – erinnern Sie sich?“

Ja, ich erinnere mich.




Redakteur Bernhard Schulz mit der OR-Erstausgabe vom 1. März 1946Redakteur Bernhard Schulz mit der OR-Erstausgabe vom 1. März 1946

Ganz im Gegensatz zu Bernhard Schulz hat es sein enger Freund Fritz Wolf (1918-2001) bis heute in die Ahnengalerie von solchen Osnabrückerinnen und Osnabrückern geschafft, die über Jahrzehnte, von der NOZ bis zum Stern, erfolgreich versucht haben, den deutschen Zeitgeist textlich oder zeichnerisch zu spiegeln. Immer wieder ergeben sich bis heute aktuelle Anlässe, um an den Meister des feinen Federstrichs mit seinen stets liebevoll in Szene gesetzten Prominenten zu erinnern.

Sohn Ansgar und Bernhard SchulzSohn Ansgar und Bernhard Schulz

Kurzum: Anlässe genug, fortan eine neue OR-Serie zu starten, in der ausgewählte Kurzgeschichten von Bernhard Schulz mitsamt ihrer zeichnerischen Begleitung durch Fritz Wolf vorgestellt werden. Herzlich gedankt sei an dieser Stelle Ansgar Schulz-Mittenzwei, der die neue Serie im vertrauensvollen Kontakt zur OR-Redaktion erst ermöglicht hat und der bis heute in liebevoller Weise das literarische Erbe seines Vaters verwaltet.

 

Bernhard Schulz und Fritz Wolf 1951Bernhard Schulz und Fritz Wolf 1951

Alle Schulz-Geschichten sowie etliche Wolf-Zeichnungen besitzen eine einzige Quelle, die in jüngster Zeit, ebenfalls durch das entscheidende Mitwirken seines Sohnes Ansgar, erscheinen konnte. Entnommen sind sie nämlich dem Schulz-Buch „Den Löwenzahn zermalmt nicht die Kesselpauke oder Hinwendung zur Geborgenheit. 200 kurze Geschichten der Jahre 1945-1965.“ Das kompakte Werk ist im Buchhandel (beispielsweise bei Wenner), online oder direkt über die Website www.BernhardSchulz.de erhältlich.


Alle bislang in der OR erschienenen Geschichten gibt es hier

Neugierigen seien darüber hinaus diese Internetseiten ans Herz gelegt:
Webseite von Bernhard Schulz
Wikipedia über Bernhard_Schulz 
Webseite Fritz Wolf

Interview mit Ansgar Schulz Mittenzwei, dem Sohn von B. Schulz

spot_img
spot_img
spot_img
spot_img
Follow by Email
Facebook
Youtube
Youtube
Instagram
Spotify