Bernhard Schulz (1913 – 2003) war ein Osnabrücker Autor, der keinen Vergleich zu scheuen braucht: 24 Bücher und fast 2.400 (!) Kurzgeschichten sind seit 1934 erschienen. Letztere fanden sich in Zeitungsausgaben, Anthologien und Sammelbänden und sind ein Stück Zeitgeschichte. Nach Auffassung der OR-Redaktion ist dieser markante Schreiber, dessen Geschichten zumeist von seinem Freund Fritz Wolf mit einer Karikatur begleitet wurden, zu Unrecht in Vergessenheit geraten.

Bernhard Schulz
„Mister Walroß“ – 1979
(Links zu früheren Folgen und Anmerkungen zu dieser exklusiven OR-Serie am Ende des Textes)

Niemand in der kleinen norddeutschen Stadt hatte jemals ein Walroß zu Gesicht bekommen, es sei denn auf Bildern in einem Werk über Zoologie (Walroß, Odobenus rosmarus, lebt im Polarmeer), aber von der ersten Stunde an hatten sie den britischen Major Humbert Montague Birch »Mister Walroß« genannt, als ob sie hier täglich mit Walrössern und ihresgleichen zu tun hätten.

Der Name war nicht herabsetzend gemeint, der Vergleich mit der im Polarmeer lebenden Robbe bot sich an, weil dem Offizier ein links und rechts zapfenförmig herabhängender Schnurrbart in der Tat jenes auffallende Merkmal des Walrosses verlieh, das Karikaturisten gern übertreiben. Jedenfalls glaubten die Kleinstädter, über die Major H. M. Birch im Auftrag Ihrer Majestät, der Königin von Großbritannien, herrschte, dass ein Zapfenbart etwas Besonderes sei, und das war es ja wohl auch.

Durch die kleine Stadt, die in der Hauptsache Fleischkonserven und Marmeladen erzeugt hatte, waren im ersten Sturm Truppen gezogen und dabei mit ihrem Pulver nicht gerade sparsam umgegangen. Sie hatten im Rausch des Siegers, den niemand Untat nachrechnet, Tiere getötet und Gebäude in Brand gesetzt, die mit dem Krieg in keinen Zusammenhang zu bringen waren.

Das Schlimmste aber war, dass ein Kind, ein etwa siebenjähriges Mädchen, das mit einet Milchkanne unterwegs gewesen war, von einer Gewehrkugel getötet wurde.

Vielleicht ist es dieses Kind gewesen, das den britischen Major H.M. Birch dazu brachte, übertriebene Gerechtigkeit walten zu lassen. Der Major, damals schon ein älterer Mann mit einer Glatze von elfenbeinerner Poliertheit, jedoch mit diesem auffallenden walroßartigen Zapfenbart ausgestattet, Junggeselle und Feinschmecker und samt Stock unter dem linken Arm beinahe zwei Zentner schwer, gehörte zu jenen Reserveoffizieren, die von jeder Armee mit Vorliebe als Verwaltungsbeamte eingesetzt werden.

Birch fing sofort damit an, für die Kinder zu sorgen und sich um das Schulproblem zu kümmern. Er setzte Pioniere ein, um das zerstörte Schulhaus wieder instand zu setzen. Bei der Eröffnung der Schule, die er zurückhaltend feierlich zu gestalten wusste, teilte er mit eigener Hand Suppe an die Kinder aus, wobei er jene steifleinene Mütze trug, die Köche in aller Welt bei der Arbeit als Zeichen ihres Standes zu tragen pflegen.

Er war ein Kommandant mir Humor, auch wenn es britischer Humor war, den die verängstigten Kleinstädter anfangs nicht verstanden, zumal es ja »tausend Jahre lang« überhaupt keinen Humor gegeben hatte.

Als Birch die Verwaltung in deutsche Hände zurückgeben konnte, hätten die Leute dem Major zu Ehren am liebsten einen Fackelzug veranstaltet, wenn es nicht doch ein bisschen merkwürdig erschienen wäre, den Sieger anzuhimmeln.

Birch hatte seine Entlassung eingereicht. Er verabschiedete sich mit ein paar Flaschen alten Whiskys, und das Ende der Feier bestand aus einer Verbrüderung. Die Vertreter aller Parteien versicherten dem Major, sie würden ihn nie vergessen und er wäre ihnen als Mitbürger stets willkommen.

Drei Monate nach dieser Abschiedsfeier im Rathaus kehrte der Engländer in die Stadt zurück, der er als Kommandant in schwerer Zeit vorgestanden hatte. Birch erklärte, dass er bleiben und ein Geschäft betreiben wolle, er dächte an Tabakwaren. Antiquitäten und dergleichen.

Es stellte sich heraus, dass diese Rückkehr mit den alten Freunden abgekartet war. Aus welchem Grund sollten sie aufeinander verzichten, da sie sich doch so vortrefflich verstanden hatten? Im kleinen vollzog sich hier ein Wunder: das bemerkenswerte Beispiel menschlicher Güte und Dankbarkeit.

Mister Birch verkaufte dann zwanzig Jahre lang in einem Fachwerkhaus am Marktplatz dieser kleinen deutschen Stadt Tabak, Pfeifen und Feuerzeuge made in Great Britain, gelegentlich auch Kupferstiche, Töpferwaren und Sportartikel.

Aber der Laden, Tür an Tür mit dem Rathaus, war es nicht, der ihn bewogen hatte, zurückzukehren. Er zeigte sich als einfallsreicher Bürger, indem er für den beschleunigten Aufbau von Kindergärten, Jugendtreffs und Sportanlagen Stimmen und Geld sammelte.

Er wurde der gute Geist der Jugend: Er, das Walroß, ein Pfeifenraucher und Golfspieler, ein Reitersmann und Veranstalter von Parforcejagden, ein Organisator von Teestundcn und Wohltätigkeitsveranstaltungen, die sich bis zur letzten Salzmandel für irgendeinen guten Zweck einsetzten.

Mister Birch war ein durch und durch guter Mensch, und bezeichnend für seine Einstellung war, dass er nur aus dem einen Grunde nicht geheiratet hatte, weil er nicht in Gefahr geraten wollte, eine Frau unglücklich zu machen. Das behauptete er jedenfalls, und die Leute sagten: »Hör dir das an, es ist wieder dieser komische Humor, den die Engländer haben«.

Nach zwanzig Jahren reiste er in einer regnerischen Morgenstunde ab, ohne sich von jemandem zu verabschieden, und es dauerte Wochen, bis seine Freunde begriffen hatten, dass auch dieser Entschluss dem »typischen Walroß-Humor« entsprach. Er war nach England zurück gekehrt, und dort ist Humbert Montague Birch in seinem Heimatort an der Westküste gestorben.

Die Kinder in der kleinen Stadt sammeln jetzt für ihn; sie wollen an jenem Fachwerkhaus am Marktplatz eine Tafel anbringen lassen, auf der zu lesen sein soll, dass hier ein »Mister Walroß« gelebt hat.

Und wer in diesem Haus mit Sprossenfenstern, hinter deren Scheiben immer noch Tabakdosen, Pfeifenreiniger und Einladungen zürn Tee zu sehen sind, Mister Walroß gewesen ist, das wird man in dieser kleinen Stadt noch lange wissen.


Anmerkungen zu dieser exklusiven OR-Serie

Bernhard Schulz (1913 – 2003) dürfte ein Osnabrücker Autor sein, der nicht nur in seiner Heimatstadt wahrhaftig keinen Vergleich zu scheuen braucht: Stolze 24 Bücher und fast 2.400 (!) Kurzgeschichten sind seit 1934 erschienen. Letztere fanden sich in Zeitungsausgaben, Anthologien und Sammelbänden. Völlig zu Unrecht, das ist zumindest die Auffassung der OR-Chefredaktion, ist dieser markante Schreiber heutzutage fast in Vergessenheit geraten. Wir drucken die Geschichten im Original ab.

Eine bemerkenswerte Resonanz erfuhr in der Osnabrücker Rundschau eine Reportage von Heiko Schulze, der sich Anfang Juli dieses Jahres mit dem reichhaltigen Wirken des Osnabrücker Journalisten und Schriftstellers auseinandergesetzt hat. Dies nebenbei nicht ohne Anlass: Wie Hans Wunderlich, Josef Burgdorf oder Karl Kühling zählte Schulz anno 1946 zum Redaktionsteam der damaligen Osnabrücker Rundschau, der leider nur ein kurzes Zeitungsleben zuteil wurde.

Redakteur Bernhard Schulz mit der OR-Erstausgabe vom 1. März 1946 Redakteur Bernhard Schulz mit der OR-Erstausgabe vom 1. März 1946

Ganz im Gegensatz zu Bernhard Schulz hat es sein enger Freund Fritz Wolf (1918-2001) bis heute in die Ahnengalerie von solchen Osnabrückerinnen und Osnabrückern geschafft, die über Jahrzehnte, von der NOZ bis zum Stern, erfolgreich versucht haben, den deutschen Zeitgeist textlich oder zeichnerisch zu spiegeln. Immer wieder ergeben sich bis heute aktuelle Anlässe, um an den Meister des feinen Federstrichs mit seinen stets liebevoll in Szene gesetzten Prominenten zu erinnern.

Sohn Ansgar und Bernhard Schulz Sohn Ansgar und Bernhard Schulz

Kurzum: Anlässe genug, fortan eine neue OR-Serie zu starten, in der ausgewählte Kurzgeschichten von Bernhard Schulz mitsamt ihrer zeichnerischen Begleitung durch Fritz Wolf vorgestellt werden. Herzlich gedankt sei an dieser Stelle Ansgar Schulz-Mittenzwei, der die neue Serie im vertrauensvollen Kontakt zur OR-Redaktion erst ermöglicht hat und der bis heute in liebevoller Weise das literarische Erbe seines Vaters verwaltet.

 

Bernhard Schulz und Fritz Wolf 1951 Bernhard Schulz und Fritz Wolf 1951

Alle Schulz-Geschichten sowie etliche Wolf-Zeichnungen besitzen eine einzige Quelle, die in jüngster Zeit, ebenfalls durch das entscheidende Mitwirken seines Sohnes Ansgar, erscheinen konnte. Entnommen sind sie nämlich dem Schulz-Buch „Den Löwenzahn zermalmt nicht die Kesselpauke oder Hinwendung zur Geborgenheit. 200 kurze Geschichten der Jahre 1945-1965.“ Das kompakte Werk ist im Buchhandel (beispielsweise bei Wenner), online oder direkt über die Website www.BernhardSchulz.de erhältlich.


Alle bislang in der OR erschienenen Geschichten gibt es hier

Neugierigen seien darüber hinaus diese Internetseiten ans Herz gelegt:
Webseite von Bernhard Schulz
Wikipedia über Bernhard_Schulz 
Webseite Fritz Wolf
Interview mit Ansgar Schulz Mittenzwei, dem Sohn von B. Schulz