Sonntag, 12.00 Uhr: Die dritte Kurzgeschichte und Zeichnung des legendären Osnabrücker Duos Bernhard Schulz & Fritz Wolf

Bernhard Schulz
Nachtwächter spielt Weihnachtsmann (1960)
(Links zu früheren Folgen und Anmerkungen zu dieser exklusiven OR-Serie am Ende des Textes)

Er hieß Bruno Stanek und war Mitarbeiter jener Wach- und Sicherheitsgesellschaft, die in unserer Stadt die Eingänge zu Banken, Warenhäusern und herrschaftlichen Villen kontrolliert. Seine Personalien, Alter, Familienstand, Zahl der Kinder, Zugehörigkeit zu welcher Religion, erfuhr ich erst, als sein Schicksal abgelaufen und das Flämmchen seines Lebens erloschen war. Heute weiß ich, dass er Witwer und ein im Ruhestand lebender Beamter war. Er besaß eine Tochter, die mit ihrer Familie in der Fremde wohnte, weitab von der Stadt, in der Bruno Stanek gelebt und bei der Eisenbahn gedient hatte. Die Eisenbahn, das wissen wir ja, bringt die treuesten und am längsten lebenden Pensionäre hervor.

Seine Frau war an Leukämie gestorben. Er besuchte das Grab einmal in der Woche, mittwochs, wenn er frei hatte, und legte frische Blumen und auswendig gelernte Gedanken nieder. Er sagte, dass sie eine treue Seele gewesen sei, immer dankbar für alles und Alpenveilchen hatte sie am meisten geliebt, Alpenveilchen auf dem Frühstückstisch und auf dem Fernsehgerät.

Als die Frau ihn verlassen hatte und die Tochter weggezogen war, verbrachte er Jahre voller Einsamkeit in einer Dachwohnung mit schrägen Wänden und verblichenen Tapeten und die Toilette war auf halber Treppe. Die Tochter meldete sich an Geburts- und Gedenktagen und selbstverständlich vor Weihnachten. Sie schickte ihm Bilder von den Enkelkindern, Buben und Mädchen, die mit Autos und Plüschtieren spielten. Verlegenheit kam zwischen den Zeilen auf: Vater, womit können wir dir eine Freude machen? Er wusste es nicht, er heftete die Fotos an ein Korkbrett und starrte sie an.

Er langweilte sich, ging spazieren, las die Kleinanzeigen in der Zeitung und fand einen Job. Job war ein Wort, das die Amerikaner mitgebracht hatten. Jetzt war er Wachmann im Stundenlohn. Er wurde ausgerüstet mit Stabtaschenlampe und Gummiknüppel. Es war seine Aufgabe, die Eingänge zu Banken, Warenhäusern und herrschaftlichen Villen zu kontrollieren. Den Freunden erzählte er die Neuigkeit. „Ich bin Nachtwächter geworden“, sagte er. „Du Nachtwächter“, das war zeitlebens ein Schimpfwort gewesen, das sie benutzt hatten, wenn jemand über der Arbeit eingeschlafen war.

Mit den Freunden, ehemaligen Kollegen und heutigen Pensionären, saß er im Sommer auf den Bänken am Flussufer und im Winter in der Halle des Hauptbahnhofs. „Nachtwächter, dabei verdient man gut“, sagte er, „es ist mein Schluckgeld. Vom Schluckgeld leiste ich mir Schnaps, Bier und Zigarren“. In Wirklichkeit leistete er sich nichts und niemals hatte ihn jemand mit einem Bierglas in der Hand oder mit einer Zigarre im Mund gesehen.

Sie spürten, dass es nicht die Wahrheit war. Bruno Stanek log. Er gab an mit dem Schluckgeld, prahlte mit seiner moralischen Verkommenheit, machte sich schlechter als er war. Bei Licht besehen war er solide wie ein Pferd, das vor dem Karren geht und ja auch keinen Schnaps trinkt. Aber warum zum Teufel verhielt sich Stanek so? Aus welchem Grund gab er sich den Anschein eines Stadtstreichers, dem es nur darum geht, den Kanal voll zu haben?

„Es geht uns nichts an“, befanden sie, Pensionäre wie er, die im Sommer auf den Bänken am Flussufer saßen und im Winter in der Halle des Hauptbahnhofs ihre Zeit aufbrauchten. „Es ist seine Sache, ob er sein Geld für Schluck ausgibt oder nicht. Er wird schon wissen, was er tut“.

Und Stanek wusste es.

Als er eines Morgens vom Dienst nach Hause gekommen war und die Tür zur Wohnung aufgelassen hatte, so dass sie nur hineinzugehen brauchten, sahen sie ihn in der Küche auf der Erde liegen. Bruno Stanek war tot. Ein alter Mann, den sie gekannt hatten. Gott sei seiner armen Seele gnädig.

Die Tochter löste das Heim des Vaters auf, verschenkte Möbel, Geschirr und Wäsche. „Diesen Plunder“ sagte sie. Auf dem Kleiderschrank fand sie einen Koffer, den sie mit einem Schraubenzieher aufbrach. Der Koffer enthielt einen purpurroten Tuchmantel mit falschem Hermelinbesatz, eine rote Zipfelmütze und einen silberweißen Bart aus Flachs mit einer rührend komischen Vorrichtung zum Anklammern ans Ohr. Hatte der Papa den Weihnachtsmann gespielt? Gespielt in Kindergärten, Waisenhäusern, Sportvereinen und in den Wohnungen der Nachbarn? Weihnachtsmann, das sah dem Vater ähnlich. Es war genau das, was er auch im Leben dargestellt hatte. Gutes tun, Kinder glücklich machen, die Löcher in den Kleidern der Armen stopfen. Aber die große Überraschung kam erst noch.

Die große Überraschung war ein dicker Briefumschlag voller Quittungen von Zahlkarten. Empfänger der Geldzuwendungen war der Verein zur Linderung der Not spastisch gelähmter Kinder. Jede Quittung entsprach dem Lohn, den er monatlich als Nachtwächter verdient hatte. Er hatte die Eingänge zu Banken, Warenhäusern und herrschaftlichen Villen bewacht.


Anmerkungen zu dieser exklusiven OR-Serie

Bernhard Schulz (1913 – 2003) dürfte ein Osnabrücker Autor sein, der nicht nur in seiner Heimatstadt wahrhaftig keinen Vergleich zu scheuen braucht: Stolze 24 Bücher und fast 2.400 (!) Kurzgeschichten sind seit 1934 erschienen. Letztere fanden sich in Zeitungsausgaben, Anthologien und Sammelbänden. Völlig zu Unrecht, das ist zumindest die Auffassung der OR-Chefredaktion, ist dieser markante Schreiber heutzutage fast in Vergessenheit geraten.

Eine bemerkenswerte Resonanz erfuhr in der Osnabrücker Rundschau eine Reportage von Heiko Schulze, der sich Anfang Juli dieses Jahres mit dem reichhaltigen Wirken des Osnabrücker Journalisten und Schriftstellers auseinandergesetzt hat. Dies nebenbei nicht ohne Anlass: Wie Hans Wunderlich, Josef Burgdorf oder Karl Kühling zählte Schulz anno 1946 zum Redaktionsteam der damaligen Osnabrücker Rundschau, der leider nur ein kurzes Zeitungsleben zuteil wurde.

Redakteur Bernhard Schulz mit der OR-Erstausgabe vom 1. März 1946

Ganz im Gegensatz zu Bernhard Schulz hat es sein enger Freund Fritz Wolf (1918-2001) bis heute in die Ahnengalerie von solchen Osnabrückerinnen und Osnabrückern geschafft, die über Jahrzehnte, von der NOZ bis zum Stern, erfolgreich versucht haben, den deutschen Zeitgeist textlich oder zeichnerisch zu spiegeln. Immer wieder ergeben sich bis heute aktuelle Anlässe, um an den Meister des feinen Federstrichs mit seinen stets liebevoll in Szene gesetzten Prominenten zu erinnern.

Sohn Ansgar und Bernhard Schulz

Kurzum: Anlässe genug, fortan eine neue OR-Serie zu starten, in der ausgewählte Kurzgeschichten von Bernhard Schulz mitsamt ihrer zeichnerischen Begleitung durch Fritz Wolf vorgestellt werden. Herzlich gedankt sei an dieser Stelle Ansgar Schulz-Mittenzwei, der die neue Serie im vertrauensvollen Kontakt zur OR-Redaktion erst ermöglicht hat und der bis heute in liebevoller Weise das literarische Erbe seines Vaters verwaltet.

Bernhard Schulz und Fritz Wolf 1951

Alle Schulz-Geschichten sowie etliche Wolf-Zeichnungen besitzen eine einzige Quelle, die in jüngster Zeit, ebenfalls durch das entscheidende Mitwirken seines Sohnes Ansgar, erscheinen konnte. Entnommen sind sie nämlich dem Schulz-Buch „Den Löwenzahn zermalmt nicht die Kesselpauke oder Hinwendung zur Geborgenheit. 200 kurze Geschichten der Jahre 1945-1965.“ Das kompakte Werk ist im Buchhandel (beispielsweise bei Wenner), online oder direkt über die Website www.BernhardSchulz.de erhältlich.

 

 


Neugierigen seien überdies diese Internet-Seiten ans Herz gelegt:
http://www.BernhardSchulz.de
https://de.Wikipedia.org/wiki/Bernhard_Schulz 
http://www.Fritz-Wolf.de

Bislang in der OR erschienen:
Geschichte vom 21.11.2021
Geschichte vom 28.11.2021
Geschichte vom 05.12.2021

 

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