Ali Bölzen: Der VfL nah am Abgrund

Mit 126 Jahren fängt das Vereinsleben im Profifußball erst an
Anschwellender Trotzgesang am Abgrund der Regionalligahölle

Die Lilahemden soffen am Samstag fußballerisch im Ostseestadion ab. Diese 0:2-Havarie in Rostock war nicht zu erwarten, hatte doch der VfL als Flaggschiff des Osnabrücker Fußballs die „Reimers Werft“ vor einer Woche scheinbar generalüberholt verlassen. Die gute VfL-Leistung beim letzten Heimspiel gegen Saarbrücken war leider sehr trügerisch, wie der fahrlässig verschuldete Schiffbruch im Hansa-Riff dramatisch vor Augen führte.

Zwei Tage nach Halloween wirkte es in Rostock so, als wäre im Nebel des sportlichen Grauens ein Geisterschiff unterwegs gewesen, besetzt mit den Untoten eines Fußballs, der dank der aktiven Sterbehilfe durch eine Trainerentlassung doch auf dem Friedhof der VfL-Geschichte ruhen sollte. Die jüngere Vergangenheit ist anscheinend lebendiger denn je, weshalb es für die VfL-Fans am Nach-Halloween-Wochenende nicht Süßes, sondern Saures gab.

Ob Pit Reimers oder Uwe Koschinat die Lilahemden coacht – es ist ein Unterschied, der keinen Unterschied macht. Denn der VfL spielt in Rostock so, als hätte es keinen Trainerwechsel gegeben. Besonders auffällig war: Der VfL leistete sich im Spielaufbau wieder viele Fehlpässe – womit er eine Ballinkontinenz zeigte, die an die Auftritte gegen Aue, Dortmund und Hannover erinnerte. Fatalistische Kritiker*innen des alten Trainers könnten einwenden: „Du kriegst den Koschinat als Coach weg vom VfL, aber vorerst nicht den Koschinat-Ball aus dem VfL!“ Aber dieser Erklärungsansatz greift nicht, auch wenn er das Bedürfnis nach einem Sündenbock auf der Trainerbank bedient.

Ein aufflammendes Krisensymptom war nicht nur die unkontrollierte Abgabe des Spielgeräts in die Füße des Gegners oder ins Aus. Ebenso viel Besorgnis erregte in der ersten Halbzeit die Beobachtung, wie wenig Zugriff der VfL auf das Offensivspiel der Rostocker bekam. Da den Lilahemden defensiv die Kompaktheit fehlte, ergaben sich für die Rostocker immer wieder Räume für gefährliche Aktionen vors VfL-Tor. So war der VfL mit dem 0:1-Pausenrückstand noch gut bedient.

Der Gegentreffer war ein Paradebeispiel für die Desorganisation der VfL-Abwehr. Gyamfi schätzte die Flugkurve des Balls falsch ein, so dass er die Flanke vors eigene Tor nicht mehr wegköpfen konnte. Niehoff ließ den Rostocker Schumacher laufen, wodurch dieser völlig frei zum Abschluss kam. Der VfL-Torwart Jonsson konnte die Direktabnahme zwar mit einem tollen Reflex parieren, er war aber dann wenig später machtlos, weil Hansas Stürmer Haugen dank seines Torriechers in die richtige Position lief, um den abgewehrten Ball im Nachschuss zu verwerten.

Vor dem 0:2 in der frühen Nachspielzeit sah Beermann sehr alt aus. Sein Lauftempo im Duell gegen Kinsombi erschien so schwächlich, als wäre unser Kapitän ein schwerer Pflegefall in einer Fußballgeriatrie. Mit seinem irren Blick könnte er zwar jedes Casting für eine Neubesetzung der Michael Myers-Rolle in der Halloween-Horrorfilmreihe gewinnen, aber das „böse“ Funkeln in den Augen reicht leider nicht aus, um seine Gegenspieler in eine Schocklähmung zu versetzen. Dieses und das vorherige Tor gegen den VfL stehen pars pro toto für eine verfehlte Transferpolitik des letzten Sommers.

Niehoffs Versetzung nach hinten wirkt aktionistisch und erinnert an Nagelsmanns Experiment mit Havertz, der sich im Länderspiel gegen die Türkei als Linksverteidiger ausprobieren sollte. Niehoff ist ein großes Talent, das seine Stärken offensichtlich auf der offensiven Außenbahn hat. Daher spricht es für seine Fußballintelligenz und seinen Teamgeist, dass er auch die defensive Position in der Viererkette spielen kann und will. Aber er kann aufgrund seines Fähigkeitsprofils der Mannschaft nicht die Stabilität geben, die sie benötigt. Dass er positionsfremd eingesetzt wird, liegt vor allem daran, dass die vorgesehenen Spezialisten für die Rolle des rechten Außenverteidigers nicht überzeugen konnten: weder Ajdini noch Semic

Der eine – nämlich Ajdini – unterliegt einer rätselhaften Dauerformkrise. Dadurch enttäuschte er stark die Erwartungen, die in ihn als einen langjährigen Multiplikator des Brückenfußballs gesetzt wurden, als er im Sommer seinen Vertrag verlängerte. Der andere – Semic, neu vom BvB-Nachwuchs gekommen – empfahl sich mit „No-Go-Bällen“ wie an seiner alten Wirkungsstätte und „No-Go-Grätschen“ wie in Wiesbaden für einen Bankplatz. Beermann dagegen hatte noch einen gültigen Vertrag, allerdings wurde seine Leistungsfähigkeit für die ihm zugedachte Rolle als Achsenspieler falsch eingeschätzt.

Je mehr Spiele ausgetragen sind, desto desillusionierender drängt sich die Erkenntnis auf, dass unser Kapitän – auch bedingt durch sein unfassbares Verletzungspech – seinen Zenit beschleunigt überschritten hat. Ihm fehlt insbesondere die Dynamik, um wieder an sein herausragendes Leistungsvermögen heranzukommen, das ihn im Aufstiegsjahr noch auszeichnete, wie ein überragender „Kicker“-Notendurchschnitt von 2,82 belegte. Ebenso muss Tesche seinem Alter vor allem im Spiel ohne Ball stärker Tribut zollen, was als Risiko bei der Vertragsverlängerung so nicht veranschlagt wurde.

Auf dem Papier mag der VfL vor der Saison einen hohen Kaderwert gehabt haben. Aber das Ganze ist dramatisch weniger als die vermeintliche Summe ihrer Teile, war doch deren Berechnungsgrundlage bei zu vielen Vertragsabschlüssen so morsch wie die Holzleimbinder in der Ostkurve. Hinzu kam, dass bei der Zusammenstellung der Mannschaft anscheinend das Prinzip „Mehr vom Gleichen“ angewandt wurde.

Das traf insbesondere für die Besetzung der vordersten zentralen Offensivposition zu.  Denn der VfL handelte bei seiner Personalpolitik so, als wäre er ein „Echter Neuner“-Messie, der in seinem Sammelzwang den Kader mit wuchtigen Mittelstürmern zustellen musste. Oder verstand sich der VfL gar als eine neue Fußballavantgarde, die – auf echte pfeilschnelle Siebener und Elfer verzichtend – guardiolaesk das Spiel revolutionieren wollte?

Wie auch immer – es entstand die viel diskutierte Unwucht im Kader, die erst Koschinat das Coaching schwermachte und nun Reimers herausfordert. Dass beide Trainer aus sechs Spielen nur fünf Punkte holten, zeigt, wie maßgeblich die missgemanagte Kaderstruktur für die tristeste VfL-Misere der Vereins- und KGaA-Geschichte ist. Seit sechs Spieltagen auf dem letzten Platz stehend, steckt der VfL tief im Abstiegskampf – auch wenn er ihn bis Montagabend noch nicht ausrufen wollte.

In die zweite Liga schwer verliebt baute sich der VfL das Luftschloss vom Wiederaufstieg. Doch der angegraut-verlebte Kader mit seinen positionsspezifischen Schieflagen ist in seinem Werben um die schöne Spielklasse chancenlos. Nach 13 Spieltagen zeigte die zweite Liga dem VfL so sehr die kalte Schulter, dass er nun begraben unter den Trümmern seiner Träume liegt.

Damit aus dieser dramatischen Situation nicht die Vernichtung der Existenz im Profifußball folgt, muss der VfL seinen Willen zum sportlichen Überleben maximal aktivieren. Wie Kalla in seinem „Einwurf“ an den VfL appellierte, geht das nur, wenn sich der VfL auf den Klassenerhalt als das neue situationsangemessene Saisonziel einschwört. Mehr realitätsgetränkten Pathos am Abgrund zur Regionalligahölle zu wagen ist das Gebot im Dienste der lila-weißen Selbstrettung!

Zur Paradoxie der aktuellen Situation gehört, dass der entlassene Koschinat jetzt womöglich der geeignetere Trainer für den VfL wäre, weil es eben nicht mehr um den Aufstieg gehen kann, sondern nur noch gegen den Abstieg. Aber solche Spekulationen bringen nichts außer noch schlechterer Laune. Stattdessen sollten wir uns lieber zu einem positiven Denken ermutigen, auch wenn Reimers mit seiner Unerfahrenheit im Profifußball eine „Black Box“ ist. Vertrauen wir darauf, dass er wirklich das große Trainertalent ist, das viele in ihm sehen!

Während Reimers noch einen größeren Vertrauenskredit im VfL-Umfeld beanspruchen kann, ist der junge Sportgeschäftsführer Kaufmann wegen seiner erratischen personellen Entscheidungen zu einem Fall für die Inkasso-Abteilungen in der lila-weißen Fanszene geworden. Mahnschreiben werden ihm digital in den Foren und Kommentaren haufenweise zugestellt. Um aus seiner Überschuldung – d.h. aus dem überschießenden Misstrauen in seine Kompetenz – herauszukommen, würde Kaufmann eine effektive Hilfe benötigen. Leider ist der „Ausschuss Sport“ jedoch ein Gremium der hilflosen Helfer – im Kontrast zu den Schuldenberatungsstellen im ursprünglichen Sinne.

Frei nach dem Neu-und-eventuell-bald-nicht-mehr-Schalker Kees van Wonderen ausgedrückt: Ein Harry Potter wird Kaufmann bis zur nächsten Transferperiode nicht werden, er muss daher ohne Zauberstab den Kader korrigieren. Rom wurde nach der KvW-Beschwichtigungsformel auch nicht an einem Tag gebaut, aber viel Zeit hat der VfL nicht mehr, um die Wende nachhaltig einzuleiten. Was könnte zur Problemlösung wirksam beitragen? Eine Chance auf eine Verbesserung könnte erzeugt werden, wenn der VfL auf der sportlichen Managementebene jene Doppelstruktur endlich schaffen würde, die er vor einem Jahr angekündigt hatte.

Dafür müsste der VfL einen Sportdirektor anstellen – am besten einen starken und das möglichst kurzfristig erfolgend, damit er bei den Wintertransfers mitwirken kann. Vielleicht wurden ja schon die viel diskutierten Headhunter beauftragt. In einem positiven Szenario könnte der Sportdirektor die Entscheidungskommunikation hilfreich irritieren, dadurch, dass Kaufmann einen Gegenpart hätte, der ihn dabei unterstützen würde, rationalere Personalwahlen zu treffen.

Besser wäre das – denn mit 126 Jahren fängt das Vereinsleben im Profifußball erst an, wie einst Schlager-Capo Udo Jürgens schon wusste und auf „Kallas Heimatabend“ gesungen hätte, beschwingt von Doc Wellings Konzept der Enkeltauglichkeit, das entgegen der rechtspopulistischen Verschwörungserzählungen immer noch nicht am sportlichen Untergang der Lilahemden schuld ist. Denn artgerecht auf realistischer Bodenhaltung versorgte Phrasenschweine wissen: Vegane Würstchen und Fahrradständer schießen keine Eigentore – auch beim VfL unter Doc Welling nicht!

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