Der VfL Osnabrück: Koikarpfenteich statt Haifischbecken

Der VfL gewann in Ingolstadt mit 4:1. Der Blick auf die Tabelle eröffnet ein Zahlenbild, das die lila-weiße Fanseele dazu anregt, in ihm das romantische Gebilde einer Aufstiegsdämmerung zu sehen. Nüchtern ausgedrückt: Nach dem siebten Sieg in Serie ist der VfL Fünfter in der Tabelle, nur zwei Punkte von dem Relegationsrang entfernt, der berechtigt, um den letzten freien Platz in der zweiten Bundesliga zu spielen. Die Aussichten sind phantastisch – und das ist mit dem Blick auf das erste Wochenende im letzten November höchst überraschend, als der Kampf um die Drittligaexistenz ausgerufen wurde.

Vom Abstiegskandidaten am 15. Spieltag zum Aufstiegsanwärter nach dem 22. Spieltag: Dieses Ab und Auf innerhalb einer Saison ist atemberaubend und schwindelerregend. Während der „Amerikanische Traum“ mehr Mythos als Realität des unregulierten Kapitalismus ist, ereignet sich in Osnabrück eine Fußballgeschichte, in der Leistung mit einem rasant eintretenden märchenhaften Erfolg tatsächlich belohnt wird. Wie konnte das passieren? Darauf wissen nur Gott und Udo Lattek eine Antwort, die alles erklärt. Leider behalten sie aber ihre Begründungen für sich – trotz mehrerer Versuche, Kontakt ins Jenseits aufzunehmen. Ohne Gottes und Latteks Hilfe bleibt daher nur übrig, das zu beschreiben und zu interpretieren, was für interessierte Fußballbeobachtende abstrakt und konkret erkennbar ist.

Auffällig ist vor allem, dass der VfL am Sonntag in Ingolstadt wie eine Spitzenmannschaft auftrat. Drei Tore nach Standardsituationen sind ein Spitzenwert. Daher überraschte es nicht, dass der Co-Trainer Tim Danneberg nach dem Spiel von seinem Chef ein Sonderlob bekam, ist doch der Assistent dafür zuständig, den VfL bei Eckbällen und Freistößen besser zu machen. Ein Erfolgsfaktor ist anscheinend, dass sich beim VfL die Co-Trainer ganz auf ihre Kernaufgaben konzentrieren können – im Kontrast zum „Haifischbecken des FC Bayerns“, in dem die Mitglieder des Trainerstabs kommunikativ auch als „Pufferfische“ gebraucht werden, die schützend um ihren Chef schwimmen müssen. Beim VfL herrscht dagegen ein leistungsfördernder Teamgeist vor – nicht nur bei den Spielern auf und neben dem Platz, sondern auch im Umgang der Trainer miteinander. In der metaphorischen Sprache der Münchener Pressekonferenz ausgedrückt: Während sich beim FC Bayern anscheinend Haie gegenseitig angreifen, präsentierte sich der VfL in Ingolstadt als ein kunstvoll angelegter Gartenteich voller Koikarpfen, die schön genug sind, um im Sommer in die zweithöchste Zuchtkategorie aufgenommen zu werden.

Die Eckballvariante, aus der das frühe 1:0 resultierte, war kein Zufallsprodukt, vielmehr wirkte sie einstudiert. Die Ingolstädter wurden hier lehrbuchmäßig überrumpelt, auch deshalb, weil der VfL mit Engelhardt einen Neuner hat, der sich dank seiner Stürmerintuition im richtigen Moment von seinem Gegenspieler löste und handlungsschnell den flach weitergeleiteten Ball in die Tormaschen bugsierte. Zudem ist der VfL in der Luft gefährlich. „Köhli Flanke, ich Kopf: Tor!“ Das wäre eine der Erfolgsformeln für den Sieg vom letzten Wochenende, wenn Engelhardt im Podcast der OR die Aufgabe bekäme, sie in der Rhetorik Horst Hrubeschs zu beschreiben.

Allerdings war das 2:1 ein Phantomkopfball, denn Engelhardt überwand den gegnerischen Torhüter, ohne das Spielgerät mit den Haarspitzen berührt zu haben. Mit seiner Bewegung am heranfliegenden Ball vorbei irritierte er den FCI-Schlussmann entscheidend, weshalb dieser dann Köhlers Kimmich-affine Hereingabe aus 40 Metern durchrutschen ließ. Besser ist ein Beinahe-Kopfball nicht ausführbar. Dem Perfektionsschema entsprach auch das 3:1 – alleine schon deshalb, weil jedes Tor perfekt ist, wenn es für den VfL fällt. Zudem: Der VfL erzielte diesen Treffer kurz vor dem Halbzeitpfiff, was fußballpsychologisch ein perfekter Zeitpunkt sein soll, wie Generationen von Sportkommentierenden behaupten. Und darüber hinaus war das 3:1 nach der Brachialästhetik des 80er Jahre-Fußballs eine perfekte Reinszenierung eines Horst Hrubesch-Treffers, so dynamisch, wie Engelhardt hochsprang, und so wuchtig, wie er den Ball ins Netz schädelte. Oma Isabella kann stolz auf ihren Enkel sein.

Der VfL hat sich durch die Siegesserie mental stark stabilisiert. Nach dem 3:1 musste am Sonntag nicht mehr befürchtet werden, dass die Ingolstädter das Spiel noch drehen könnten – wie es Oldenburg und Dresden in der Hinserie schafften. Damals war der Frust groß, als der VfL ohne Punkte die Heimreise antreten musste, obwohl er gegen den VfB und gegen Dynamo jeweils einen Vorsprung von zwei Toren herausgespielt hatte. Diese tristen Zeiten, in denen Gegentore eine Selbstverunsicherung bis zum totalen Kontrollverlust auslösen konnten, sind beim VfL zum Glück vorbei. Es sieht so aus, als hätte Tobias Schweinsteiger das Siegergen seines Weltmeisterbruders geklont und seinen Spielern eingepflanzt. Selbst wenn beim FCI der punktesaugende Trainervampir Rüdiger Rehm als VfL-Schreck noch auf der Bank gesessen hätte, wären die Lilahemden als Sieger vom Platz gegangen – und das ohne Knoblauch und Kruzifixe. Mit seiner fußballerischen Klasse könnte sich der VfL derzeit auch gegen Kräfte durchsetzen, die nicht von dieser Welt zu sein scheinen.

Das 4:1 fiel nicht nach einer Standardsituation, sondern durch einen satten Schuss aus der Distanz. Traoré hatte aus circa 19 Metern Maß genommen und ließ dem FCI-Schlussmann keine Chance. Dieses Tor steht für den blitzgeheilten „neuen VfL“, den im positiven Sinne eine Unberechenbarkeit durch Variabilität charakterisiert. Schon beim MSV Duisburg hatte Kleinhansl mit einem Kunstschuss aus der Ferne getroffen. Die letzten Spiele haben gezeigt: Ob im Strafraum in der Luft oder am Boden, ob nach einer Umschaltsituation, einem Standard oder aus der Distanz – die Lilahemden treffen aus allen Lagen, was den VfL zu einem extrem ekelhaften Gegner macht.

Die XXL-Winterpause tat der Mannschaft offensichtlich gut. Schweinsteiger nutzte die Zeit für eine zweite Saisonvorbereitung, um seine Spielidee erfolgreich zu vermitteln. Auffällig ist, wie stabil Kleinhansl und Traoré defensiv geworden sind. Sie zeigen im Kalenderjahr 2023 eine konstant gute Leistung, weil sie Konzentrationsfehler ablegen konnten. Es liegt auch an der neuen Stärke der beiden defensiven Außenbahnspieler, dass der VfL (wieder) zu einem Mentalitätsmonster geworden ist.

So verrückt, wie die aktuelle VfL-Saison verläuft, gehört sie auf die Nominierungsliste für die neueste „Chronik des Fußballwahnsinns“. Es drängt sich ein Vergleich zur Abstiegssaison auf, aber zum Glück unter einem umgekehrten Vorzeichen. Während vor zwei Jahren am 15. Spieltag eine unfassbare Niederlagenserie begann, reiht der VfL nun – nachdem er am 15. Spieltag mit der Niederlage in Zwickau seinen sportlichen Tiefpunkt erreichte – einen Sieg an den anderen. Der VfL überzeugt mit seiner leidenschaftlichen und fußballerisch reifen Spielweise so sehr, dass selbst Fans, die ansonsten fatalistisch denken, plötzlich die Relegation nicht mehr für eine „mission impossible“ halten.

Seit dem Derby gegen Meppen hält der VfL das besondere Moment des jeweiligen Sieges fest, indem vor der eigenen Fankurve ein Mannschaftsfoto gemacht wird. Dieses Gemeinschaftsritual schweißt die Mannschaft zu einer Einheit zusammen und beschwört weitere Erfolge. Das gelingt im Zusammenspiel mit akribischer Trainingsarbeit derzeit so gut, dass im Sommer die Jubelbilder in ein Aufstiegsalbum geklebt werden könnten.

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