Gedanken zur Trainerfreistellungszeitpunktdebatte
Die letzten beiden leidenschaftlichen VfL-Auftritte machen Mut: Erst wurde dem FC St. Pauli ein 1:1 abgetrotzt, dann ärgerten die Lila-Weißen – diszipliniert und mutig in einer hohen Verteidigung agierend – die Berliner Hertha, indem sie im Olympiastadion ein 0:0 errangen. Der VfL beeindruckte mit einer starken Mentalität, als hätte es die desaströsen Leistungen in den Spielen gegen Magdeburg und Schalke nie gegeben. Da sich der VfL wie verwandelt präsentierte, wird im Fanforum „lilaweiss.net“ nun die heiße Frage diskutiert: Wurde Schweinsteiger zu spät freigestellt?
Schon sehr früh wurde von einem prominenten Schreiber des Fanforums gefordert, Schweinsteiger zu beurlauben. Der Appell an die Verantwortlichen erfolgte am 05. Spieltag, kurz nachdem der VfL das Heimspiel gegen den Mitaufsteiger Elversberg mit 0:1 verloren hatte. Die große Mehrheit der lila-weißen Fußballpilger*innen hätte es jedoch als eine Blasphemie empfunden, wenn die VfL-Entscheider den Trainer zu diesem Zeitpunkt freigestellt hätten – schließlich hatte Schweinsteiger mit dem Aufstieg doch ein Fußballwunder vollbracht.
Vierzehn Tage später ereignete sich ein denkwürdiger Nachmittag in Hannover, der als „schwarzer Sonntag“ in die VfL-Geschichte einging. Nach der 0:7-Demontage war der prominente TP-Schreiber nicht mehr der einzige Wutrufer in der digitalen Fanwüste, sondern es kamen weitere Stimmen hinzu, die Schweinsteigers Demission forderten. Doch die Verantwortlichen hielten an dem Trainer fest.
In den Spielen gegen den HSV, Lautern und Düsseldorf sah es so aus, als ob Schweinsteiger mit seinem Team die Wende geschafft hätte. Daher herrschte vor dem Duell gegen den zweiten Mitaufsteiger Wehen Wiesbaden eine Aufbruchstimmung vor. Denn nach den Achtungserfolgen gegen die drei Ex-Bundesligisten war der VfL sportlich in der zweiten Liga endlich angekommen, so dass die Saison nun hätte richtig beginnen können. Doch dann trat der Realitätsschock ein, weil das Spiel ganz anders als erwartet verlief.
Der VfL hatte keinen Zugriff, Wiesbaden spielte schnörkellos und gefährlich nach vorne gegen einen erstaunten Gegner, der angesichts der Geschehnisse auf dem eigenen Platz die Fußballwelt nicht mehr verstand. Das, was auf dem „Brücken“-Rasen passierte, kollidierte totalschadengleich mit dem lila-weißen Matchplan, weshalb der VfL haltlos der Pleite entgegentaumelte. Leider trug auch Schweinsteiger zu dem desorganisierten Defensivverhalten erheblich bei, indem er Gnaase auf rechts stellte.
Vielleicht hätten das Spiel und der weitere Saisonverlauf eine andere Wendung genommen, wenn Wulff das Geschenk der Wiesbadener zum frühen Ausgleich angenommen hätte. Stattdessen unterlag der VfL dem hessischen Plastikclub mit 0:2. Die Frustrationen, die sich danach exponentiell wie ein Coronavirus ausbreiteten, steigerte der VfL einen Spieltag später noch einmal ungewollt, indem er in Fürth kämpferisch desolat auftrat. Es sah so aus, als hätten die VfL-Akteure innerlich den Glauben an den Erfolg schon aufgegeben. Die Stimmung im lila-weißen Umfeld stürzte wieder dorthin ab, wo sie nachmittags am 17.09. nach dem Desaster in der Landeshauptstadt schon gewesen war.
Nachdem der VfL in Fürth sportlich mit 0:4 untergegangen war, wurde nicht nur kritisiert, dass die Mannschaft die Grundtugenden des Fußballs völlig vermissen ließ. Schweinsteiger stand im Fokus der Kritik, weil er nach der Pleite gegen Wehen wieder in seine bayrische Heimat gereist war, anstatt seine Spieler frühzeitig auf die Partie gegen Fürth vorzubereiten. Dass er damit erst am Dienstag begann, stieß im gereizten Fanforum auf Unverständnis, war doch eine lange Anfahrt zu dem Freitagabendspiel im Frankenland zu bewältigen. In den Fandebatten galt diese verkürzte Trainingswoche als ein Symbol für eine falsche Herangehensweise im Abstiegskampf, was sich angeblich in den Laufdaten der Spieler manifestieren würde. In der Vorsaison konnte Schweinsteiger trotz eines ähnlichen Reiseverhaltens jedoch seine Mannschaft zu Konditionsmonstern machen, die physisch stark genug waren, um enge Spiele für sich zu entscheiden.
Hätten die Verantwortlichen Schweinsteiger nun beurlauben sollen? Die Entscheidung, mit ihm weiterzumachen, blieb nachvollziehbar – vor allem deshalb, weil Schweinsteiger eine charismatische Persönlichkeit mit einer hohen Fachkompetenz ist, die er im Trainer*innenlehrgang auf einem Niveau von Thomas Tuchel eindrucksvoll nachgewiesen hatte. Da Schweinsteiger – per DFL-Zertifikat beglaubigt – ein großes Trainertalent ist, kann ihm mit guten Gründen die Fähigkeit zugeschrieben werden, aus Fehlern schnell zu lernen. Zudem überzeugte er im letzten Herbst der Vorsaison damit, dass er eine Mannschaft mit starken Leistungsschwankungen stabilisieren konnte ((5:0 gegen Waldhof, 1:4 in Elversberg). Mehr noch: Der VfL gab ihm im Frühjahr 2023 trotz seiner Pendelei zwischen Bayern und Südniedersachsen einen langfristigen Vertrag, nach NOZ-Informationen sollte dieser bis zum Sommer 2026 laufen. Dieser Kontrakt war ein Bekenntnis zur Kontinuität, das – wenn es ernst gemeint war – auch in Krisenzeiten gelten sollte, weil es im Vertrauen in die Problemlösungskompetenz des Trainers abgegeben wurde.
Schweinsteiger blieb – und er durfte das Spiel gegen die Kieler Störche coachen. Fast hätte der VfL an der „Brücke“ einen wichtigen Dreier im Abstiegskampf gewonnen. Ein Versöhnungssieg war zum Greifen nahe. Die roten Rosen, mit denen sich die Spieler in Lila-Weiß bei ihrem Lieblingspublikum um Wiedergutmachung bemühten, waren intensiv geführte Zweikämpfe. So leidenschaftlich, wie die VfLer den Gegner körperlich bearbeiteten, so stark strahlten sie wieder eine Gier nach dem Erfolg aus. Doch das perfekte Happy End blieb aus, weil die Kieler in der Nachspielzeit zum 1:1 trafen.
Der späte Ausgleich war frustrierend. Der Schock, der die „Brücke“ in der 94. Minute befiel, währte aber nur kurz. Denn das wieder aufgeflammte Wir-Gefühl war stärker als der Frust über das Ergebnis. Das starke Engagement auf dem Rasen nahm die verführerische Gestalt einer symbolischen Gabe an, die vom Publikum liebend gerne anerkannt wurde. Von einer Entfremdung zwischen Mannschaft und Fans war nichts mehr zu spüren, weil die Lilahemden mit der Rückkehr der Fußballtugenden in ihr Spiel eine emotionale Wiederannäherung ermöglichten. So übernahm „die Brücke“ nach dem Schlusspfiff die psychische Belastungssteuerung, indem inbrünstige Gesänge ertönten, um die eigenen Spieler wiederaufzurichten. Weniger funktional, sondern pathetisch ausgedrückt: Es waren Liebesgrüße an die Lilahemden!
Anders als manche Heißköpfe in den sozialen Medien glauben machen wollten, war Schweinsteiger mit seinem Trainerlatein noch nicht am Ende. Die Horrorspiele gegen Wiesbaden und Fürth analysierte er anscheinend richtig. Er betrieb ein schonungsloses Quellenstudium, das viel von ihm abverlangte, weil seine Deutungen unbequeme Wahrheiten hervorbrachten. Die Lesarten, die er gewann, zwangen ihm die Einsicht auf, dass sein bisheriges System nicht nachhaltig funktionierte. So entschied er sich für die Umstellung auf eine Dreier- bzw. Fünferkette, wodurch der VfL gegen Kiel defensiv deutlich stabiler agieren sollte.
Die Lilahemden sendeten durch ihren Spielstil in der Partie gegen Kiel eine starke Beziehungsbotschaft aus – nämlich jene, dass Schweinsteiger seine Spieler immer noch emotional erreichen konnte. Die Intensität, die sie auf den Platz brachten, vermittelte den Eindruck, als hätte der Trainer ein Sondervermögen an mentaler Stärker scholzig clever erfunden und per Kabinenansprache in die Köpfe des VfL-Teams umgebucht. Der VfL-Coach zündete einen Motivationswumms, der die Spieler auf die psychische Höhenlage einer „Jetzt erst recht“-Haltung katapultierte.
Schweinsteiger rechtfertigte das Vertrauen der Verantwortlichen. Doch dann kam Braunschweig: Es gab den nächsten Leistungsabsturz, der besonders intensiv dadurch erlebt wurde, dass die Eintracht in der 98. Minute noch das höchst frustrierende 2:3 erzielte. Schweinsteigers Körpersprache drückte aus, was für ein schwerer K.-o.-Schlag das war.
Das Spiel in Braunschweig war ein weiterer Tiefpunkt – nicht nur wegen der Niederlage, sondern vor allem aufgrund der Art und Weise, in der sie zustande kam. Gegen einen direkten Konkurrenten war der VfL deutlich unterlegen, in der Offensive trat der VfL ideen- und harmlos auf, während in der Defensive die Robustheit fehlte, so dass der VfL oft zu spät in den Zweikampf kam. Neben der miesen Tagesform kam auch noch Pech hinzu (Schiedsrichterentscheidungen, Pannen beim VAR). Andy Brehmes Fußballphilosophie manifestierte sich im VfL-Spiel: Haste Scheiße am Fuß, haste Scheiße am Fuß. So drängte sich die Deutung auf, dass der VfL sportlich in einer festgefahrenen Situation steckte, in der ein anderer Impuls helfen könnte.
Die Abwärtsentwicklung beim VfL verlief nicht geradlinig, sondern in Wellenbewegungen. Nach dem Braunschweig-Spiel war es dann plausibel, dass sich der VfL intern mit der Frage beschäftigte, ob Schweinsteiger die Krise noch bewältigen könnte. Die Gremien senkten bekanntlich den Daumen, was bei der abstiegsreifen Punktebilanz den Mechanismen des Profigeschäfts entsprach. Die sportlichen Leistungsdaten waren so schlecht, dass sie eine Freistellung des Trainers sicherlich rechtfertigen konnten. Dennoch hätte ich mir zum damaligen Zeitpunkt gewünscht, dass die Verantwortlichen nicht das branchentypische Reaktionsmuster angewandt hätten – zum einen deshalb, weil Schweinsteiger ein großes Trainertalent ist, der über das Potenzial verfügt, auch schwere Krisen zu bewältigen, und zum anderen wegen der Kaderqualität, die es offensichtlich sehr schwierig macht, mit dem VfL den Klassenerhalt zu schaffen. Allerdings beruht meine Haltung in der Trainerfrage auf einer beschränkten Informationsbasis, weil ich kein Insiderwissen habe, wie das Verhältnis zwischen Schweinsteiger und der Mannschaft wirklich war.
Nun ist Koschinat da – und ich muss zugeben, dass er mich in einem positiven Sinne sehr überrascht. Seine Analysen finde ich hervorragend. Auch kommuniziert er mit der Mannschaft anscheinend sehr gut, wie aus den Medienberichten zu schließen ist. Koschinats Seelenmassagen wirken, weshalb der VfL gestern mit einer starken Mentalität auftrat.
Allerdings wiederholten sich jene Probleme, die der Schweinsteiger-VfL an guten Zweitligatagen zeigte: Die Lila-Weißen waren offensiv sehr harmlos, im letzten Drittel wurden wieder viel zu oft die falschen Entscheidungen getroffen. In den sechs Koschinat-Halbzeiten war der VfL nur in einer torgefährlich, nämlich letzte Woche gegen St. Pauli nach der Pause. Die Frage ist: Beruht diese Schwäche auf einer fehlenden Qualität oder wird der VfL torgefährlicher, wenn die Spieler durch eine physische und psychische Ertüchtigungsarbeit ihres Trainers zu Koschinatoren geworden sind?
Unabhängig davon, dass Koschinat als Typ sympathisch auftritt und Lösungsansätze darstellen kann, die ihn als eine sehr gute Wahl für den VfL erscheinen lassen – die Vorwürfe, dass die Verantwortlichen Schweinsteiger zu spät entlassen hätten, zielen ins Leere, weil die Anschuldigungen unausgesprochen etwas voraussetzen, was derzeit nicht gesichert gegeben ist: die Zweitligaqualität des Kaders.
Der VfL füllte gestern mit dem Punkt sein Moralkonto auf, auch wenn der eine Zähler kaum weiterhilft. Sollte der VfL dank Koschinats physischer und psychischer Ertüchtigungsarbeit gut in die Rückrunde starten, hören wir zwar nicht Montserrat Caballé. Aber immerhin ertönt – wenn der VfL spielt – dann Campino, der die Tabelle und das Auftreten der Koschinatoren punkrockmäßig interpretiert mit: „Es kommt die Zeit, oh-ho in der das Wünschen wieder hilft.“