Ernst Sievers: Begründer der Illoshöhe, Nazi-Gegner, Streiter für Demokratie, Toleranz und Fairness starb vor 75 Jahren

Am 6. April 1947, vor genau 75 Jahren, stirbt der Osnabrücker Sportpädagoge Ernst Sievers im Alter von nur 57 Jahren. In der Aufbauzeit fehlt fortan ein Mensch, der heute weitgehend unbekannt, in der Osnabrücker Sportgeschichte aber nicht wegzudenken ist.

Denn der Wegbereiter der Illoshöhe hat sich nicht nur als Sportförderer einen Namen gemacht. Schon in der Weimarer Republik und der Nazizeit bezeugt das Handeln von Sievers das genaue Gegenteil jener Ziele, mit denen Deutschnationale, Nationalsozialisten, Juden- und Demokraten-Hasser große Teile des Turn- und Sportwesens prägen und früh auf Kriege vorbereiten.

 

Endpunkt eines beherzten Einsatzes

In seinem Todesjahr 1947 ist Sievers der von der britischen Militärverwaltung eingesetzte Sportamtsleiter. Turnen und Sport werden in jener Nachkriegszeit inmitten der Trümmerlandschaft zu immer wichtigeren Betätigungsfeldern, um die Mühsal des Wiederaufbaus einigermaßen zu meistern. Sein früher Tod ereilt Sievers aufgrund der Langzeitfolgen einer im Ersten Weltkrieg erlittenen Kriegsverletzung, die ihm bis dahin zeitlebens zu schaffen gemacht hat. Sievers wird deshalb den größten Triumph seines Wirkens nicht mehr erleben: die Herrichtung der Illoshöhe zu einem großen Sportpark.

Der perfekt englischsprechende Fachmann hat zuvor die britische Militärverwaltung in zahllosen Gesprächen überzeugt, auch im Interesse der eigenen Sportaktivitäten die im Krieg unfertig gebliebene Sportanlage entgegen anderer Planungen herzurichten. Eine von Sievers akribisch ausgearbeitete Denkschrift hat nun zumindest ersten Spatenstichen und der Herrichtung von Sportstätten den Weg gebahnt. Erst 1959 wird die Anlage offiziell eingeweiht werden. Heute ist das Gelände mitsamt der im Jahr 2006 völlig neugestalteten und nun überdachten Tribüne, die circa 2.000 Zuschauer fasst, ein Sportpark, der konkurrenzlos dasteht: drei Großspielfelder Rasen und ein Kleinspielfeld, ein Kunstrasenplatz, ein Tennenplatz sowie ein breit gefächertes Angebot im Leichtathletikbereich bis hin zu Beachvolleyballanlagen bieten eine Heimstadt für Schul- und Vereinsaktivitäten. Noch immer ist die Illoshöhe Spiel- und Lernort der VfL-Nachwuchskicker und -Profis. Nicht zufällig mündet die langgezogene Ernst-Sievers-Straße in jener Sportstätte, die ohne ihn nie entstanden wäre.

 

Werdegang für „Leibesübungen“

Der am 28.September 1889 geborene Osnabrücker besteht 1913 mit 24 Jahren seine zweite Lehrerprüfung. Als Kriegsfreiwilliger wird er 1914 Soldat und kehrt 1918, nach dem Weltkriegsinferno, desillusioniert und schwer verwundet infolge einer Geschossgasvergiftung und durch einen Ellenbogendurchschuss, ins Reich zurück. Aktives Sporttreiben ist ihm verwehrt. In Berlin-Spandau absolviert er trotzdem zum Jahresende 1920 die vielseitigen Prüfungen als Turn-, Sport-, Schwimm- und Ruderlehrer, wonach er sich im Carolinum, der Möser-Mittelschule, der Neustädter- und der Ledenhofschule als Pädagoge in den „Leibesübungen“ bewährt. Dies wird seinerzeit der gängige Begriff, um Turnen, Schwimmen und Mannschaftssport auf einen Nenner zu bringen. Sievers wendet sich nun auch dem Fußball zu und verantwortet es maßgeblich, die beiden VfL-Vorläufervereine Olympia und Teutonia unter dem Dach des großen Osnabrücker Turnvereins (OTV) als Abteilung „Spiel und Sport“ zu vereinen.

Als früh anerkannter Turn- und Sportexperte bekommt er in jener Zeit auch den offiziellen Auftrag, neue Lehrpläne für die schulischen Leibesübungen zu gestalten. Bis 1933 übernimmt er darüber hinaus die Ausbildung der Osnabrücker Lehrkräfte im Schul- und Rettungsschwimmen. Auch in seiner Freizeit entwirft der engagierte Pädagoge zugleich vielbeachtete Pläne für sportgerechte Plätze. Zeichnungen und detailgenaue Berechnungen bestimmen die erste von Sievers verfasste „Denkschrift“ zur Förderung der Leibesübungen und zur Einrichtung einer sportärztlichen Beratungsstelle.

 

Sievers versus Frömbing

Insbesondere im Rahmen der heftigen Auseinandersetzungen mit dem ultrakonservativen OTV-Vorsitzenden Fritz Frömbling, der bereits 1924 alle Juden aus dem Verein ausschließen lässt und Vereinsmitglieder zusehends zu Helfern deutschnationaler „Stahlhelm“-Aufmärsche vereinnahmt, wachsen bei Sievers Abscheu und Widerstand gegen ein solches Denken. Heinz Frömbling, Nachfolger seines 1931 verstorbenen Vaters als Firmeninhaber und Vereinsführer, stellt später zu Recht fest, dass „der OTV in das Dritte Reich nicht habe hereinmarschieren brauchen, er habe vielmehr schon mit beiden Füßen dringestanden.”

Fritz Frömbling: OTV-Vorsitzender, Antidemokrat und Antisemit

Seine Gegnerschaft gegen einen solchen Kurs setzt Ernst Sievers in konkrete Taten um: Er übernimmt zur Empörung der Osnabrücker Rechten die technische Leitung des frisch gegründeten „Jüdischen Turn- und Sportvereins“ bis zu dessen späterer Auflösung. Da er sich zunehmend der Sozialdemokratie verbunden fühlt, wird er zudem Übungsleiter bei den Freien Schwimmern, die dem 1933 von den Nazis verbotenen Arbeiterturn- und Sportbund (ATSB) angehören, der Bewegungsfreude, Solidarität und Völkerverständigung statt eine Ellenbogenmentalität in den Vordergrund seines Übungsbetriebs stellt.

 

Erster VfL-Präsident

Ernst Sievers als junger Lehrer. Bemerkenswert ist der sogenannte „Schillerkragen“, der eine Art Symbol für eine freie Gesinnung darstellte

Konsequenterweise zählt Sievers bereits 1924 zu jenen Spiel- und Sport-Mitgliedern, die, folgt man seiner eigenen Rückbetrachtung, zu „90 % demokratisch“ denken und wohl auch deshalb systematisch aus dem nationalistischen OTV hinausgedrängt werden. Sofort wird Sievers Vorsitzender des neuen Vereins „Spiel und Sport“, der sich ein gutes Jahr später – Sievers wird entscheidender Geburtshelfer– nach einer Fusion mit dem Ballspielverein von 1899 zum heutigen VfL entwickelt. Sievers selbst berichtet über diese Zeit: „Ich war seinerzeit ‚Sportlicher Leiter‘ dieser Abteilung (gemeint ist Spiel und Sport, d.V.). Die Judenhetze in Osnabrück begann auch im Osnabrücker Turnverein, der im Jahre 1924 alle Juden ausschloss. Ein ‚Jüdischer Turn- und Sportverein‘ wurde gegründet. Ich übernahm die technische Leitung und behielt sie bis zur Auflösung dieses Vereins durch die NSDAP.“

Aktiv bleibt Sievers dem Verein verbunden. In einem Zeugnis vom 1. Oktober 1926, mitunterschrieben vom neuen Vorsitzenden (und späteren Nazi) Heinz Plogmann, wird Sievers vom VfL offiziell bescheinigt, dass er als Vorsitzender zurückgetreten ist, um sich „der Turn-, Sport-, Hand-, Damen- und Jugendabteilung widmen zu können“. Im gleichen Zeugnis werden ihm großes „Lehrgeschick“ und seine „organisatorischen Fähigkeiten“ bescheinigt. Zugleich ist er ein Mensch, der sich offenkundig stets für Schwächere einsetzt und dabei benachteiligte und „wirtschaftlich bedrängte“ Kinder, wie es auch NS-Regierungsrat Gresbrand später in einem Bericht einräumen muss, besonders unterstützt. Der gleiche Regierungsrat geht im besagten Bericht Jahre später auch auf die parteipolitische Haltung des Sportpädagogen ein: Jener sei 1930/31 noch Mitglied der rechtsliberalen Deutschen Volkspartei gewesen, dann jedoch, so die Interpretation des Nazi-Beamten, „trat er wohl infolge jüdischer Beeinflussung zur SPD über“.

 

Dauerstreit mit Nazis und anderen Rassisten

Das fachliche Können, aber auch die persönliche Haltung, die Ernst Sievers an den Tag legt, hinterlässt einen nachhaltigen Eindruck bei jüdischen Sportlerinnen und Sportlern „Sievers war einer der wenigen, die keine Vorurteile Juden gegenüber hatten“, berichtet der 1934 nach Palästina ausgewanderte Gershon Stein. Auch die 1935 ebenfalls ausgewanderte Lea Levy erinnert sich an den Unterricht bei Ernst Sievers in der Halle am Schlosswall:

„Er hat Hilfestellung gegeben auf eine Weise, dass ich jede Übung gemacht habe – ohne Angst. Denn Herr Sievers stand am anderen Ende, und keiner fiel. Er war fantastisch.“ Nach Aussage von Lea Levy machen die Folgen seiner Kriegsverletzungen es dem Sportlehrer zwar unmöglich, selber Übungen vorzuführen, diese Einschränkung tut der Begeisterung für den Sport jedoch offenkundig keinen Abbruch.

Nach seinen Fehden mit Frömbling ist es allerdings kein Wunder, dass Sievers bereits früh, immer offener und häufiger mit den bedrohlich anwachsenden Nazihorden aneinandergerät. Deren Braunhemden wiederum verbreiten mittlerweile auf Osnabrücks Straßen Angst und Schrecken. Sievers gerät sofort ins Visier der Hakenkreuzler, denn offene Opposition gegen die „Nationalen Kreise“ in Osnabrück ist nicht erwünscht und alles andere als ungefährlich. So berichtet Lea Levy später, dass Sievers zu den Turnstunden teilweise von zwei Polizeibeamten eskortiert werden muss.

Er selbst beschreibt diese Zeit so: „Verschiedene Male wurde ich überfallen, geschlagen und getreten, mit Steinen und mit Schmutz beworfen“, schildert er dies nach dem Kriege in einem persönlichen Bericht und setzt fort: „Am Tage war ich an jedem Orte allen erdenklichen Verhöhnungen und Beleidigungen ausgesetzt. Im Einzelnen lassen sich diese Gemeinheiten nicht wiedergeben. […] Auf Anraten der Polizei, die sich außer Stande sah, mich tagtäglich zu begleiten und zu beschützen, stellte ich einen Antrag auf Aushändigung eines Waffenscheins und führte fast 1 ½ Jahre stets eine geladene Pistole zum Selbstschutz bei mir“.

 

Der Nazi-Staat nimmt Rache

Als den Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 durch Präsident Hindenburg die Macht übergeben wird, verschlimmert sich die Situation. Sievers habe „durch seine gegnerische Einstellung zur Nationalsozialistischen Bewegung wiederholt starke Empörung und Erregung in den nationalen Kreisen hervorgerufen“, stellt wieder einmal Regierungspräsident Gresbrand fest und glaubt erneut messerscharf zu erkennen, dass sich dieses Verhalten wohl „aus dem ständigen Verkehr mit Juden“ erkläre. Auf Betreiben der SA Führung, so Gresbrand, verbitten ihm „eine ganze Reihe von Vereinen das Betreten ihrer Sportplatzanlagen unter Androhung der Inhaftnahme durch die S.A“. Am 22. Juli 1933 sendet Osnabrücks NSDAP-Landtagsabgeordneter und -Bezirksleiter Dr. Otto Marxer Beweise über Sievers Gegnerschaft zur NSDAP an die von Hermann Göring geführte Preußische Regierung, um Sievers sofortige Entlassung aus dem Schuldienst zu erreichen.

Darüber hinaus wird der Verfemte aufgrund seiner SPD-Mitgliedschaft, seiner Aktivitäten für den verbotenen Arbeitersport sowie den jüdischen Sportverein aus allen Funktionen im Osnabrücker Sport gedrängt.

Sievers‘ Bericht in der eigenen Personalakte ist zu entnehmen, dass es ihm nicht gelingt, in Osnabrück einen Rechtsanwalt zu finden, der seine Privatklage gegen Dr. Marxer und Gesinnungsfreunde führen möchte. Er gibt im Bericht an, dass seine auf seiner „feindlichen Einstellung NSDAP“ beruhenden öffentlichen Zusammenstöße mit den verschiedenen Parteiorganisationen und deren Führern in den Jahren 1931 bis 1933 am 1. Oktober 1933 schließlich zu seiner Amtsenthebung führen und er von der Ledenhofschule an die zweiklassige Schule in Haste-Hone versetzt wird, obwohl die Eltern am 20. Juni 1933 eine Bittschrift an den Regierungspräsidenten gerichtet haben und um Aufhebung der Versetzung des geschätzten Lehrers bitten, „der seine ganze Kraft für seine Schüler“ einsetze.

Sievers entgeht nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten nur knapp dem Konzentrationslager. „Von Rechts wegen gehört er als Charakterschwein in ein KZ“, schreibt Nazi Dr. Marxer 1933. Auch von dem Führer der Haster SA wird er während seiner dortigen Schultätigkeit jahrelang bedroht. Viel später, am 24. August 1944, wird er schließlich ganz offiziell von der Gestapo verhaftet. Er droht Opfer der „Aktion Gewitter“ zu werden, in deren Rahmen viele Tausende von Antifaschisten im Gefolge des Stauffenberg-Attentats auf Adolf Hitler am 20. Juli in ein KZ deportiert und dort vielfach ermordet werden.

Nur weil Sievers seinerzeit schwerkrank im Bett liegt, immer wieder unter den Folgen seiner Kriegsverletzungen leidet und der Arzt seine Transportunfähigkeit bescheinigt, entgeht er der Deportation in das Konzentrationslager Neuengamme bei Hamburg – trotz eines offiziösen Gestapo-Haftbefehls. Es ist jene KZ-Hölle, in die zur gleichen Zeit unter anderem bekannte Osnabrücker Sozialdemokraten wie Heinrich Groos, Wilhelm Mentrup, Fritz Szalinski und Heinrich Niedergesäß sowie der Kommunist August Wille eingepfercht und bis Kriegsende ermordet werden.

 

Sievers baut das Sportamt auf

Dass der verdiente Demokrat Ernst Sievers, obwohl gesundheitlich immer heftiger angegriffen, nach der Befreiung Osnabrücks durch britische Streitkräfte am 4. April 1945 händeringend gebraucht wird, bezeugt seine Berufung als Leiter des Sportamtes. Am 6. April 1947, viel zu früh mit 57 Jahren, stirbt der jahrzehntelange Kämpfer für ein faires, soziales, tolerantes und demokratisches Sportwesen. Nicht nur der Osnabrücker Sport wäre gut beraten, an den demokratischen Sportpionier weit mehr als bislang zu erinnern.

 

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