Freitag, 19. April 2024

Heikos Nachgedanken: Gedanken zum heutigen Welttag des Purzelbaums …

Ein Baum, der Gruseln erzeugt

„Mein Freund, der Baum, ist tot“, sang bis anno 1969 die längst verstorbene Sängerin Alexandra. Sie trällerte es traurig, wehmütig, mindestens melancholisch. Und alle fühlten mit. Schon rund 15 Jahre später klagte die ganze Welt gegen das Baumsterben. Verursacht von schlechter Luft, Abholzungen oder vom widerlichen Borkenkäfer. All dies wäre vermeidbar gewesen – und deshalb überflüssig wie frevelhaft.

Natürlich bin ich gegen das Baumsterben! Mein ganzes politisches Leben schon. Obwohl ich liebend gern Holzfällerhemden trage. Die sind so schön flauschig.

Baumsterben ist also doof. Es gibt nur eine einzige Ausnahme. Einen einzigen Baum möchte ich dermaßen brutal zur Strecke bringen, dass sich nach dem Mord die gesamte Baumwelt wünscht, es hätte diesen einzelnen Baum niemals gegeben.

Über welchen Baum ich spreche? Es ist einer, der weder Blätter, Blüten, Nadeln noch Tannenzapfen trägt. Nicht einmal Wurzeln besitzt er. Nur eine besondere Art Stamm weist er auf. Es ist ein Rückgrat, dass bei der Entstehung des Baumes jedes Mal zu knacksen droht. So empfinde ich es jedenfalls.

Ich weiß. Es gibt über Jahrhunderte ganze Generationen von Turn- und Sportlehrern, die sich ihre berufliche Tätigkeit ohne den besagten Purzelbaum niemals vorstellen konnten. Der Purzelbaum zählt schon im frühen Grundschulalter zu jenen eigenartigen Bewegungsabläufen, die eine Lehrperson als „Bodenturnen“ bezeichnet.

Dieses Bodenturnen habe ich immer gehasst. Das ganze Turnen war mir stets ein Gräuel. Denn der kleine Heiko war ein wirklich dicker Heiko. Ich konnte also weder Purzelbaum noch Handstand, von Reckturnen, Barrenrollen oder meterhohen Bocksprüngen ganz zu schweigen.

Immer dann, wenn die durchgetestete Riege unserer Schlechtesten im Sportunterricht eine „Rolle vorwärts“ verordnet bekam, erlebte ich Horrorminuten. Denn ich wusste: Sobald niemand mehr vor mir in der disziplinierten Reihe stand, ertönte der gnadenlose Pfiff des Lehrers aus seiner verhassten Trillerpfeife. Ich war es, der nun die befohlene Rolle vorwärts auf der verhassten blauen Turnmatte machen musste.

Zum Glück gab es damals keine Videoaufzeichnungen. Ich hätte sonst einen aufgezeichneten Slapstick gesehen, der in seiner Live-Fassung regelmäßig meine gesamte Jungenklasse am Ratsgymnasium zum Lachen brachte. Ich lernte darum früh, was „Verdrängen“ bedeutet. Trotzdem sollte mich der Anblick der blauen Matte jedes Mal an diesen verdammten Purzelbaum erinnern.

Monatskarte 1965

Einmal hat der bereits heranwachsende Heiko eine todesmutige Rolle rückwärts versucht. Mit der Betonung auf „versucht“. Teile meiner Beine und sogar Oberteils dürften sich zum Tathergang hoch über meinem Genick bewegt haben. Zu hoch und zu schwer jedenfalls. Und ich hörte ein Knacksen, das mich innerlich erschrecken ließ. Ich erlebte gefühlte Stunden in einer eigenartigen Liegeposition auf der ungeliebten blauen Matte. Alles spielte sich im Kopf ab wie ein drittklassiger Streifen. Ich spielte die Hauptrolle. Einer, der sich beim Purzelbaum rückwärts das Genick brach. Oder einer, der sich im Falle des eigenen Überlebens mindestens lebenslang in einen Rollstuhl verfrachten lassen musste. Tragik pur. Trauer und Melancholie, wie bei einem Alexandra-Lied eben. Mit leicht geändertem Text: „Mein Freund, das Genick, ist tot!“

Leider entpuppten sich die gefühlten Stunden als nur wenige Sekunden. Unter dem brüllenden Gelächter meiner Klasse notierte der Turnlehrer hinter dem Namen Schulze eine glatte 6 in sein ekeliges rotes Notizbuch. Da war es auch kein Trost, dass ich zu meiner großen Überraschung das Knacksen überlebt hatte.

Gestorben war dafür meine Bereitschaft, diesen gruseligen Unterricht weiter regelmäßig zu besuchen. Ich meldete mich in schöner Regelmäßigkeit krank oder zumindest sportunfähig, was beim jungen dicken Heiko ja auch nicht so ganz aus der Luft gegriffen war.

Zum Glück kam die wilde Zeit der 68er, was im Sportunterricht reduziertes Turnen und vermehrten Mannschaftssport bedeutete. Wurden Mannschaften in Reihenfolge gewählt, machte es mir zwar etwas aus, zumeist als letzter mit Stöhnen der leidtragenden Mannschaft in deren Team gerufen zu werden. Doch meine Fähigkeiten sollten sich betulich verbessern. Auch wurde aus dem kleinen Heiko zum Glück auch ein wesentlich größerer, der besonders gut Fehlwürfe unter dem Basketballkorb fangen und dann eiskalt verwandeln konnte. Mit abgelegten Pfunden sollte in ferner Zukunft sogar eine Zwei im Sport-Abi stehen.

Nur den Purzelbaum habe ich bis heute niemals mehr versucht. Schließlich hätte ich ja mit gebrochenem Genick keine Körbe beim Basketball mehr werfen können.

Meine Abneigung gegen den Purzelbaum wurde erst kürzlich wieder belebt und in cholerisches Staunen verwandelt. Ich las bei irgendeiner blöden Recherche im Internet, dass die gesamte Menschheit am 27. Mai den „Welttag des Purzelbaums“ feiern muss. Sagt zumindest ein gewisser Jörg Wilkesmann-Brandtners auf seinem Blog Theomix. Den Mann kenne ich nicht, nie gehört.

Aber umso mehr kann ich von der Folterübung, die er beschreibt, berichten. Dabei hatte ich seit über zehn Jahren alle Hoffnung der ganzen Welt geschöpft, dass der Purzelbaum endgültig das Zeitliche gesegnet hatte. Der überaus seriöse Postillon hatte nämlich am 16. November 2009 getitelt: „Purzelbaum vom Aussterben bedroht“. Und jetzt?

Drohen mir in der Nacht vom 27. Mai furchtbare Alpträume? Vernehme ich wieder den schrillen Pfiff des Turnlehrers und sehe vor mir die blöde blaue Matte? Höre ich inmitten des Knacksens meines Genicks wieder dieses schaurige Lachen meiner Mitschüler?

Nein! Denn eines habe ich mir vorgenommen: In jener Nacht des 27. Mai werde ich wach bleiben und systematisch alle Baumarten dieser Welt auswendig lernen. Nur einen davon werde ich, auch mit diesen Zeilen, für mich ganz persönlich zum Baumtod verdammen. Fortan werde ich dann, natürlich nur in diesem einen Fall, feierlich singen: „Mein Feind, der Baum, ist tot!“

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