Freitag, 19. April 2024

Heute vor einem Jahr aus der OR-Rubrik „Es war einmal …“: Baerbock und kein Ende?

Gedanken zur politischen Kultur vor einem wichtigen Wahlgang

Die mediale Stimmungslage der Republik taumelt. Sie wankt so gewaltig, dass dem Publikum schwindelig werden kann. Speziell die abendliche Talkshow-Demokratie, aber auch Nachrichtensendungen bis hin zu unserer örtlichen Tageszeitung driften mit Kommentaren und Berichten zuweilen durch eine Route, die seit Monaten nur wenige Themen kennt – und andere vernachlässigt. Doch eben darauf käme es an.

Corona darf davon, dies vorweg, als Dauerthema ausgenommen werden. Und die unselige UEFA-EM ist ja zum Glück nun endlich Geschichte.

 

Im Sortiment der Zuverdienste

Wagen wir trotzdem mal den Schnellklick zurück: Schon fast vergessen ist der Maskenskandal: Eine Handvoll gut situierter Unionsabgeordneter kannte keinerlei Scham, sich mit Hilfe ihrer Mandatskontakte die Taschen voll zu stopfen. Debatten zum „Ehrenkodex“ legten eigentlich nur offene Flanken frei, die unzählige Unions- wie FDP-Abgeordnete mit ihrer Lobby-Arbeit fortan weiter im Dienste des eigenen Portemonnaies darbieten.

Zuverdienst zur Bundestagsdiät? Folgt man einem Spiegel-Bericht von Josephine Andreoli vom 24.06.2021, verhält es sich so: Besonders hoch ist der Anteil der Nebenjobber bei CSU und FDP: Mehr als die Hälfte der CSU- und FDP-Abgeordneten (je 51 Prozent) gab auf der Bundestagsseite zumindest eine meldepflichtige Zahlung an. Es folgen Abgeordnete von CDU (37 Prozent), SPD (26 Prozent) sowie AfD (24 Prozent) und Linksfraktion (21 Prozent). Die Grünen sind danach mit Abstand die Partei, in der die wenigsten Abgeordneten entgeltliche Nebenjobs ausüben (15 Prozent).

Ein einziger Schwenk zur FDP, bei dem wir es an dieser Stelle auch bewenden lassen wollen: In der laufenden Legislaturperiode meldete allein Parteichef Christian Lindner Einkünfte in Höhe von über 472.000 Euro an. Noch Fragen zur Glaubwürdigkeit?

Nur wenige Lobby-Verschworene gingen nach dem Maskenskandal. Die meisten blieben und drohen weiter mit Einfluss: Jungpolitiker Philipp Amthor, der sich – so die Frankfurter Rundschau – mit Reisen und Aktienoptionen im Wert von rund einer Viertelmillion Euro dafür entlohnen ließ, um für das US-amerikanische IT-Unternehmen Augustus Intelligence zu arbeiten, ist mittlerweile Spitzenkandidat der CDU in Mecklenburg-Vorpommern. Fragen?

 

Verwaister Elfmeterpunkt

Doch ehe der Ball endgültig auf den Elfmeterpunkt der Lobby-Teams gelegt werden konnte, wandte sich alles im Rekordtempo dem nächsten Thema zu. Ob Söder oder Laschet zum Chefkandidaten der Union für den Kanzlerposten werden, schien plötzlich die ganze Republik zu bewegen. Der „ehrliche Armin“ durfte gewinnen. Es wird kein Schlag gegen die Lobby-Arbeit damit verbunden. Friedrich Merz, dessen schwarze Seele nicht nur vom CDU-Parteibuch, sondern auch vom gigantischen Finanzverwalter BlackRock (9 Billionen US-Dollar an verwaltetem Vermögen) durchtränkt ist, könnte allein schon deshalb bald zentrale Linien der Wirtschafts- und Finanzpolitik bestimmen, weil seine Hilfe für Laschet ja belohnt werden muss.

Unterhaltungswert besaß nebenher wohl auch die Wohlfühloase bei den Grünen, bei denen sich dann eine junge Frau namens Annalena Baerbock gegen Georg Habeck durchsetzte. Was beiden Auswahlprozessen, Laschet wie Baerbock, gemein war: Es ging nie auch nur um einen Hauch um programmatische Gegensätze! Diese Gemeinsamkeit ist aber schon alles.

Bei Söder und Laschet setzte sich die programmatische Nullnummer im Eiltempo noch fort. Das in Harmonie präsentierte, 120 Seiten lange Wahlprogramm, nimmt man die üblichen Versprechungen wie Steuererleichterungen für Reiche, Treueschwüre für Familien, freie Fahrt für freie Bürger bis hin zur massiven Aufrüstung der Bundeswehr einmal aus, erscheint Kundigen wie eine riesige Ansammlung von Worthülsen und Textbausteinen. Alle sind dermaßen leer, dass kein Mensch die Frage nach wissenschaftlichen Quellen stellt.

 

Das fast filmreife Baerbock-Bashing

Spräche also nicht alles dafür, statt programmatischer Nullnummern inhaltliche Akzente zu setzen? Man sollte es meinen. Nur: Im Falle Annalena Baerbocks wird exakt dies im nächsten Stadium erlebter Mediendemokratie der eigentliche Grund für ein öffentliches Abwatschen!

Wie das erfolgt, ist beinahe filmreif: Der Anlass ist ein Buch mit dem Titel „Jetzt. Wie wir unser Land erneuern“. Darin beschreibt jene Frau, die Deutschlands nächste Kanzlerin sein möchte, exakt all das, was im Unionsprogramm fehlt: konkrete Zielvorstellungen für eine wirkungsvolle CO2-Reduktion, für höhere Mindestlöhne, eine wirksame Besteuerung Reicher, bezahlbare Mieten, sichere Arbeitsplätze, Maßnahmen gegen Armut bis hin zu einem sozialeren Gesundheits- und Rentensystem.

Wer jetzt aber darauf gesetzt hätte, in Deutschlands Talkshow- und Event-Welt würde all dies diskutiert, irrt sich beinahe naiv. Denn Baerbocks Buch, das naturgemäß als Kanzlerkandidatin einer Partei auch in Teamarbeit erstellt wurde, weist bei kritisierten Passagen keine wissenschaftlichen Anmerkungen auf!

Richtig. Man hat sich da weder verhört noch verlesen. Es kommt schlimmer: Ein „Skandal“ geistert durch die Nachrichtenwelt. Nicht eine Forderung oder Aussage der Programmschrift als solche ist also wichtig, sondern ganz allein die Frage, wer das sonst noch irgendwann schon einmal wo geschrieben hat. Keine Satire, sondern bitterer Ernst.

Ob es jemals noch bis zum Wahltag gelingt, über die sehr ähnlichen Konzepte von Grünen, SPD und Linken, dem einzig realen Bündnis für Veränderungen, zu einer echten Umwelt- und gerechteren Wirtschafts- und Sozialpolitik zu debattieren? Über Schadstoffreduzierung, Abrüstung, Maßnahmen gegen Kinder- und Altersarmut, gegen prekäre Jobs, für sichere Renten und tarifliche Beschäftigung, für steuerliche Entlastung Ärmerer plus Belastung Reicherer? Gar über ein Ende der Zweiklassen-Medizin und unbezahlbarer Mieten? Zweifel sind nicht nur wegen des Sommerlochs angebracht.

Im Inferno der Nebelkerzen geht sogar der frisch von einer thüringischen Parteibasis gekürte CDU-Rechtsaußen und Ex-Verfassungsschützer Hans-Georg Maaßen als Bagatelle durch. Obwohl er bei weitem nicht der einzige unter konservativen Parteifreunden ist, der offen für Rechtsbündnisse ist, der linke Journalisten ausmerzen, dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk den Garaus und den bisherigen Parlamentarismus durch ein Mehrheitswahlsystem à la Großbritannien ersetzen will.

Kurzum: Die Bundestagswahlen am 26. September entscheiden nicht über fehlende Anmerkungen eines Buches. Sie entscheiden, ob das „Weiter so“ der letzten Jahrzehnte fortgeführt werden soll – oder ob diese Republik, nach Jahrzehnten des Stillstands, einen ökologisch-sozialen Wandel einleiten will.

 

 

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