Donnerstag, 28. März 2024

Heute vor einem Jahr aus der OR-Rubrik „Es war einmal …“: Fußballsprech, Tor-Performance und falsche Zehner

In der neuen OR-Rubrik „Es war einmal …“ werden wir hin und wieder Artikel als Nachtlektüre veröffentlichen, die ein Jahr zuvor erschienen sind und häufig überraschend vorausschauend waren, sich heute eher mit einem Stirnrunzeln lesen lassen oder einfach nur komisch sind.

Der folgende Artikel von Heiko Schulze erschien zum ersten Mal am 13.06.2021.

Meine Sehnsüchte für die kommende Fußballsaison

Was ich für die neue Saison wichtig finde? Keine Angst! Ich schreibe hier nicht den siebenhundertneunundvierzigsten Artikel über taktische Finessen, Flughöhen, Links- oder Rechtsfüßer, Zerstörer oder Aufbauspieler, 4-4-2, falsche Zehner oder 08/15. Nein! Ich schreibe … über Gestik und Rhetorik!

Hä? Jawohl! Ich möchte nämlich zumindest in Osnabrück völlig andere Kicker als die, unter denen ich bundesweit seit Jahren so entsetzlich leide.

Es geschieht nach jedem TV-Spiel. Mittlerweile bin ich zum Glück oft so weit, dass ich im Panikanfall das Kabel aus der Steckdose reiße, wenn das Unweigerliche droht. Wenn eintritt, was ich nicht mehr sehen oder hören kann. Aber meistens verfalle ich eher in Trance, Melancholie und schaue wehr- und hilflos ins nackte Grauen.

Meine Verzweiflung wächst bereits mitten im Spiel. Denn ich kann mittlerweile schon das nicht mehr sehen, was spontan nach frisch geschossenen Toren passiert.

Kann sich jemand noch an das letzte Jahrhundert erinnern? Damals rissen die Goalgetter ihre Arme in die Höhe, sprangen hoch und umarmten sich lachend. Und heute?

Der Torschütze rast auf die Fankurve zu, ballt die Fäuste, zerknirscht sein Gesicht und schreit irgendetwas mit zugekniffenen Augen. Oder er rüttelt wütend am nächsten Mitspieler herum, der sich dann irgendeinen anderen laut gebrüllten Text anhören muss. Werdende Papas stecken einen Daumen in den Mund und schieben sich den Ball unter den Bauch. Andere Torschützen versuchen sich in einer Art sterbendem Schwan, im Bodenturnen oder in nicht zu entschlüsselnder Dance-Akrobatik. Echten Eindruck machen aber die, die nach ihrem Tor erst vollkommen wortlos bleiben, besonders grimmig gucken, dann etwas gen Himmel schreien und anschließend das Trikot vom stählernen Oberkörper reißen, um es schlussendlich im Publikum zu versenken. Heldentat mit gelber Karte.

Das war es aber noch lange nicht! Der wahre Höhepunkt deutscher Fußballkultur geschieht nach dem Abpfiff. Es folgt nämlich die Interviewtime. Ich habe mich mal damit abgequält, Gesagtes innerhalb einiger Wochen mitzuschreiben.

Die Szene beginnt, sobald irgendein Balltreter nach dem Gekicke mit Schweißperlen vor ein Mikrofon tritt und etwas dahinstöhnt, was die Nachbetrachtung intellektuell auf einen Höhepunkt bringt. Getreu nach dem Motto „Und ewig grüßt das Fußballtier“.

„Wir gucken nur auf uns. Wir haben eine eigene Idee, die wir umsetzen und ausbauen müssen. Der Gegner spielt dabei eine untergeordnete Rolle“, haucht der erste Kluge in das vom Wind zerzauste Lammfell-Mikro. Es folgt spontan der nächste Spruch des scharfen Analytikers: „Der Rückstand tat uns gut, um in das Spiel zu finden.“

Falls ich noch in Hypnose bin und das Bild noch steht, stapft der nächste mit kurzer Hose und eingerollten Stutzen hinter die Mattscheibe: „Wir haben Qualität auf den Platz gebracht. Es freut mich, dass wir uns belohnt haben“, stellt er messerscharf fest.

Endlich kommt der Trainer mit Sorgenfalten und dem Sponsorlogo auf der Mütze ins Bild: „Man muss ein Kompliment an die Mannschaft geben. Unsere Laufwege waren gut. Jeder macht die Wege für die anderen. Wir brauchen uns vor niemandem zu verstecken. Jeder gibt Gas. Das zeichnet uns aus. Wir haben nicht aufgesteckt. Wir wissen, was wir können.“ So detailliert hätte ich das nie erwartet!

Schließlich tritt der millionenschwere Torjäger der Gegenmannschaft vor die Linse, rammt eiskalt seine Hände um die Hüften und spricht Klartext: „Wir müssen mehr gegen den Ball arbeiten. Wir können das besser machen.“ „Äh“, meint der Reporter und wird postwendend vom Kicker unterbrochen. „Wer die Tore schießt, ist nicht wichtig. Das war brutal schwer, da zurückzukommen.“

Endlich kommt der Neuner in Szene, der den Elfer in der letzten Minute so schrecklich verballert hat. Der Reporter stellt die unweigerliche Frage, auf die das Publikum schon seit dem Verballern sehnsüchtig gewartet hat: „Was haben Sie denn gefühlt, als Sie den Strafstoß verschossen haben?“

Die souveräne Antwort auf jene schwere Frage folgt prompt und mit nachdenklicher Mimik: „Der Platz war ein Acker. Wir hätten natürlich gerne mehr mitgenommen. Wir müssen jetzt aber zufrieden sein. Wir haben uns extrem weiterentwickelt.“

Wie soll es jetzt bloß mit der Losermannschaft weitergehen? Die Antwort gibt jetzt final der Spieler, der gerade nach der eigenen Publikumsbeschimpfung vom Trainer zur Kamera delegiert wurde: „Auch schwere Situationen müssen wir überstehen. Wir haben wenig Entlastung geschafft. Wir können das besser machen. Wir müssen vor allem besser gegen den Ball arbeiten. Wir müssen arbeiten, um fit zu bleiben. Das Spiel zeigt, dass wir eine gute Moral in der Mannschaft haben. Wir brauchen uns nicht zu verstecken.“

Eine verzweifelte Reporterin fängt ganz zuletzt noch einen Ballkämpfer ab, der eigentlich nur noch duschen und sonst nichts mehr wollte. Auf die überraschende Frage, was er denn vom Spiel halte, folgt die sensationelle Antwort, mit der wohl niemand gerechnet hat: „Es geht darum, der Mannschaft mit den eigenen Qualitäten zu helfen. Unser Tabellenstand ist jetzt eine Momentaufnahme. Wir haben eine gute Moral in unserem Team.“ Dann darf er unter den Brausekopf.

Wird all das unweigerlich so weitergehen? Oder macht eines Tages irgendein investigativer Sportjournalist dem Spuk ein Ende? Wie das gehen soll? Er entlarvt jene geheim gehaltene Anstalt, in der wohl alle Balltreter gegen dicke Geldbündel mittlerweile den Intensiv- und Aufbaukurs „Gestik und Rhetorik für Fußballprofis“ belegen müssen. Verpflichtend natürlich. Die Anstalt würde dann für alle Zeiten geschlossen – und die Balltreter reden endlich wieder wie Hans Tilkowski, Lothar Emmerich, Stan Libuda oder von mir aus gar wie Pele Wollitz.

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