Hoch und lautlos durch die Stadt?

Im Interview:
Dieter Otten und das Osnabrücker Sunglider-Projekt

Wer sich in Zukunft in Osnabrück schnell fortbewegen möchte, dürfte womöglich hoch nach oben gucken. „Sunglider“ könnte das Transportmittel heißen, das uns mit kostenloser Sonnenenergie, schnell und ohne lange Wartezeiten zum gewünschten Ziel bringt. Unser Großtaxi wäre eine Art Hochbahn auf futuristischen Holzelementen, die sich durch bestimmte Straßen der Stadt ziehen. Ist das alles spleenige Osna-Fiction – oder bereits eine reale Vision? Viel spricht für Letzteres.

Vorab sind das nicht nur Konsequenzen der bedrückenden Gegenwart: Der Klimawandel hat längst ein Umdenken auf regenerative Energiequellen wie Wind und Sonne forciert. Und der tragische Putin-Krieg gegen die Menschen in der Ukraine zwingt uns bereits aus Selbsterhaltungsgründen dazu, von Öl und Gas ebenso radikal abzurücken, wie dies bereits seit langem für die Kohle geschieht.

Es gibt schon heute Meilensteine, die von den Sunglider-Machern erfolgreich durchschritten worden sind: Erste Prüfphasen durch Expertengremien hat das Projekt nämlich längst zur seriösen Alternative zu anderen ÖPNV-Systemen gemacht. Erste Planungsmittel sind bewilligt. Und dann noch dieses: Für das Outfit erhielten die Macher des Osnabrücker Projekts den renommierten New Yorker Designer Award für das beste Produkt-Design des Jahres 2022 – nicht gerade selbstverständlich für Ideen aus der altehrwürdigen Hasestadt.

Auf der Homepage der Initiative bekommt man unter bereits heute einen guten Eindruck vom visionär klingenden Vorhaben:  https://sunglider.eu/

Die OR sprach aus all diesen Gründen mit Professor Dr. Dieter Otten, emeritierter Sozialwissenschaftler an der Uni Osnabrück und Master Mind hinter der futuristisch anmutenden Hochbahn, über sein Herzblut-Projekt.


OR: Zunächst einmal herzlichen Glückwunsch zu dem herausragenden New York Product Design Awards 2022. Wenn ich das richtig verstehe, dann seid ihr mit dem Sunglider-Produkt Designer des Jahres auf der ganzen Welt geworden. Ist das richtig? Und um was für einen Preis handelt es sich da?

Otten: Ja, das ist richtig. Wir haben den New Yorker Designer Award als beste Produkt-Designer des Jahres 2022 gewonnen. Nicht in Oberhausen, nicht in Berlin, sondern in der Metropole des Designs in New York. Moderne Design-Preise werden aber nicht nur für die hübschen Entwürfe prämiert, sondern in erster Linie für das dahinterstehende Gesamtkonzept in technischer, politischer und ökologischer Hinsicht. Das heißt: Der Sunglider ist prämiert worden für sein Gesamtkonzept und nicht nur für die meisterhafte Architektur von Peter Kuczia. Das macht uns nicht nur stolz, das muss auch besonders hervorgehoben werden.

Vision mit Auszeichnung. Der Sunglider im Osnabrücker Straßenbild – dekoriert mit dem New York Product Design Awards 2022. Foto: Sunglider AGVision mit Auszeichnung. Der Sunglider im Osnabrücker Straßenbild – dekoriert mit dem New York Product Design Awards 2022. Foto: Sunglider AG

OR: Die futuristisch anmutende Vision des Sungliders für Stadt und Region vermittelt ja viel Charme und sieht großartig aus. Zugegeben, aber alles geschieht in einer Zeit, in der nicht nur leere Kassen, sondern auch der totale Umstieg auf E-Mobilität bei Bahnbussen und Individualverkehr die Debatte prägen. Passt der Song da hinein, oder ist das eher der Einstieg in eine gänzlich neue Dimension des Denkens?

Otten: Danke für das Futurismus Kompliment; denn es bedeutet ja “auf die Zukunft wirkend, modern und innovativ.” Offen gesprochen, Heiko, die Reduktion der Debatte um den Sunglider auf dessen Aussehen ist zu wenig. Der Sunglider ist der Einstieg in ein neues Denken, ja, aber er ist mehr: Er ist die komplette Neu-Erfindung des ÖPNV. Dabei geht es in erster Linie gar nicht um den Verkehr, sondern um eines der zentralen Probleme des kommenden Jahrhunderts.

OR: Was meinst du damit?

Otten: Ich rede hier von der überlebenswichtigen Klimaneutralität, die wir in den nächsten zehn oder 15 Jahren erreichen müssen und hoffentlich auch wollen. Das sagt sich so leicht, aber es bedeutet ganz hart, dass wir alle Energie nicht nur durch Strom ersetzen müssen, sondern auch durch erneuerbaren Strom und ein bisschen Erd– oder Solarthermie. Das ist eine Riesenaufgabe, denn Strom macht heute nur 21 % unseres Energieverbrauchs aus, wovon die Hälfte etwa, also 11 %, erneuerbar ist. Der Automobil- und LKW-Verkehr verbraucht 31%; nur 6% davon stammen aus erneuerbaren Quellen.

Wollten wir den Auto-Verkehr voll elektrifizieren, müssten wir die Stromerzeugung verdoppeln und 300 neue Kraftwerke bauen. Wenn der Strom dann aus erneuerbaren Energien stammen soll, müssten wir den Ausbau von Photovoltaik und Windenergie verfünffachen; und das in 15 Jahren. Strammes Programm, nachdem wir in den letzten 30 Jahren gerade mal 10 % geschafft haben. Man sieht: Eine „Weiter-so-Vollelektrifizierung“ des Autover­kehrs ist ein Schuss ins Knie, ganz abgesehen davon, dass die städtebaulichen Probleme des Individualverkehrs damit natürlich überhaupt nicht vom Tisch sind.

OR: Das ist sicher ein großes Problem, aber was hat das mit dem Sunglider zu tun?

Otten: Sehr viel, Heiko, denn wir müssen uns die Frage stellen: Wie können wir Mobilität mit erneuerbaren Energien schaffen? Alle Dächer in Osnabrück mit PV bestücken? Schwer vorstellbar; und vor allem schwer zu bezahlen. Unsere jetzige Bundesregierung hat keine PV-Pflicht für alle Dächer vor, sondern nur für neuge­bau­te Häuser. Das sind nicht mal 1% der Dachflächen. Der andere Weg wäre die Re­duktion des Automobilverkehrs, egal ob elektrisch oder fossil.

Er müsste mindes­tens auf 50 % reduziert werden, entweder durch eine drastische Reduktion der Mobilität, besonders in den Randgebieten; oder durch einen ÖPNV, der den gesam­ten Mobilitätsraum im Osnabrücker Großraum erfasst, also nicht nur die Stadt Osna­brück, sondern auch die Hufeisen-Gemeinden im Osnabrücker Landkreis und die Städte auf der nordrhein-westfälischen Seite von Lotte über Ibbenbüren bis Lengerich. Aus diesem urbanen Raum kommt der überwiegende Pendlerstrom aus Berufsver­kehr und mehrheitlich der Verkehr für Freizeit und Shopping.

OR: Gibt es denn irgendwo ein Beispiel dafür, wo eine solche Reduktion gelungen wäre und, andere Frage, wie könnte sie denn hier gelingen?

Otten: Die Antwort auf diese Frage gibt die Mobilitätsforschung. Wir wissen, dass Menschen ihre Autos in regionalen Räumen wie um Osnabrück stehen lassen wür­den, wenn sie zum Nulltarif fahren können und wenn der ÖPNV einen Takt hat, der so gestaltet ist, dass man nicht länger als fünf Minuten auf eine Metro warten muss. Aber angesichts der von dir beschriebenen Epoche der knappen Kassen, die vor uns steht, darf die Lösung nicht darin bestehen, den Nulltarif aus dem Stadtsäckel zu subventionieren.

Das führt entweder in den Ruin oder zu völlig unattraktiven öffentlichen Verkehrsmitteln. Die Lösung liegt woanders. In einer Innovation, die den ÖPNV einfacher, billiger und intelligenter macht – und die ihn unabhängig von der Versorgung mit Strom organisiert. Und zwar dadurch, dass das Verkehrssystem sich selbst mit erneuerbarer Energie versorgen kann. Der Sunglider ist genau das; und er wird zeigen, wie man die Kosten für die Fahrzeuge radikal reduzieren und wie man eine gesamte Metro mit kostenlosem Strom versorgen kann. Und wie man den Betrieb so billig machen kann, dass man eine echten Nulltarif anbieten kann

OR: Könnte der Sunglider somit nicht nur ein innovatives Nahverkehrssystem sein, sondern zugleich das örtliche Pilotprojekt für ein über Osnabrück hinaus ausstrahlendes, radikales Umdenken in der allgemeinen Energieversorgung sein?

Otten: Danke für die Frage und die damit verbundene Feststellung. Genauso ist es. Genau das ist das zentrale Thema der Hochbahnkonstruktion der Schwebebahn. Nur mit einer solchen Konstruktion ist es möglich, alle diese Ziele zu lösen, insbesondere das Problem der Energie­versorgung.  An eine Versorgung der Bahn mit Strom durch Fotovoltaik auf allen Dachflächen der Stadt glaube ich in den nächsten 20 Jahren nicht. Die Erfahrung der letzten 30 Jahre sprechen eindeutig dagegen.

OR: Kommen wir zur Hochbahn Konstruktion. Vertreter der Stadtbahninitiative befürchten, dass das gesamte Stadtbild plötzlich durch riesige Balken geprägt wird, die in der Höhe womöglich durchgängig dreistöckigen Bauwerken entsprechen. Alles erschiene diesen Kritikern quasi als dritter Häuserzeile in der Straßenmitte. Wie würdest du diesem Eindruck widersprechen wollen?

Otten: (lacht) Also, Heiko, manchmal denke ich, dass man großen Teilen unseres Stadtraums nichts Besseres antun kann, als Osnabrücker Hundehütten-Scheußlichkeit mancherorts hinter der Architektur des Sungliders zu verstecken. Aber im Ernst, uns ist klar, eine solche Trasse zu errichten kann nur funktionieren, wenn es sich dabei um eine architektonische Meisterleistung handelt. Übrigens wird sie in der ganzen Stadt nur auf sieben Achsen gebaut und nicht, wie die von Dir zitierten kritischen Geister unterstellen, in der ganzen Stadt Osnabrück. Überdies zählen weder die aktuellen Busrouten noch die in Osnabrück in beachtlichem Ausmaß existierenden Hochbahn-Strecken der Deutschen Bahn, vorsichtig gesagt, zu den architektonisch besonders anmutenden Teilen des städtischen Wegesystems.

Neumarkt völlig anders. Machbar oder Osna-Fiction? Foto: Sunglider AGNeumarkt völlig anders. Machbar oder Osna-Fiction? Foto: Sunglider AG

OR: Aber eine Auswirkung auf das Stadtbild dürfte der Sunglider haben.

In der Tat: Der Sunglider bleibt eine Intervention in den Städtebau, sogar von erheblichem Ausmaß. Aber das muss kein Nach­teil sein.

Wie ich mit meinem Scherz deutlich machen wollte, ist diese Intervention für Osnabrück sicher eher zum Vorteil als zum Nachteil. Das Hauptargument gegen den Sunglider, wenn man überhaupt einen vorbringen kann, ist doch, dass alles, auf Deutsch gesagt, „scheiße“ aussehen könnte. Nun aber hat uns der New Yorker Design-Preis zumindest diese Sorge genommen. Der Sunglider sieht nicht „scheiße“ aus, sondern er ist architektonische Weltklasse. Peter Kuczia und dem Architekturteam der Warschauer TU sei Dank. Und damit wird der Bau zu einem ikonischen Hingucker, zum Markenzeichen, sogar zum Publikumsmagneten und zur Touristenattraktion. Die Pariser Metro lässt grüßen.

OR: Und was ist mit der befürchteten dritten Häuserzeile in der Straßenmitte?

Otten: Heiko, hier wird keine Häuserzeile gebaut. Ich frage mich, wie man angesichts der Bilder überhaupt auf so eine Idee kommen kann. Was hier geschaf­fen wird, ist doch sichtbar etwas ganz anderes, etwas Organisches und etwas sehr Anmutiges.

Es ist, wie in Straßen oft zu finden, eine Allee. Und zwar ein Allee aus verzaubernden, baumar­tigen Holz-Pylonen, auf denen in lichter Höhe das PV-Dach wie eine Baum­krone thront, die im Sommer Schatten spendet, bei der man sich im Regen unterstellt und die im Winter magisches Licht spendet. Denn es gehört zu den Funktionen der Trasse auch, die Straßenbeleuchtung zu stellen. Wenn schon, würde ich es eher mit einem Zauberwald als mit einer Häuserzeile verglei­chen.

OR: Wie soll dieser sogenannte Zauberwald denn real aussehen?

Otten: Mit der Trasse in der Straßenmitte passiert natürlich eine Neu-Definition der Straßenräume: Wir wollen am Boden Osnabrücker Ramblas bauen, also Aufenthaltsräume auf Straßen wie in Spanien ohne Autoverkehr, nur für Fahrräder und Fußgänger. Der Sunglider schafft die Bedingung der Möglich­keit, die Straßen wieder zurück zu erobern, die bislang dem Götzen des Individualverkehrs und seinen toxischen Folgen geopfert worden sind. Das gilt besonders für den Neumarkt. Wie konnte man in der Vergangenheit das architek­tonische Verbrechen begehen, einen Marktplatz vor einem schönen klassizistischen Gebäude-Ensemble mit einer vierspurigen Autobahn kaputt zu machen?

OR: Mit dieser Sicht dürftest du bei uns viel Zustimmung finden. Was ist denn aber mit dem Rest der Stadt unter ÖPNV-Gesichtspunkten?

Otten:  Die Schwebebahn ist in Wahrheit nur ein Teil der Verkehrsversorgung des Sungliders. Der andere Teil vollzieht sich im attraktiven Netzwerk kleiner, au­to­nom selbstfahrender Bodenfahrzeuge, die bis zu 12 Personen transportieren. Man kann sie an den Haltestellenstellen besteigen, man kann sie per App rufen und so, wie man es von Uber kennt, also mit dem Handy ordern, oder feste Linien fahren lassen. Wir sind Fans von Rädern, Pedelecs sowie E-Scootern und rufen den Leuten gerne  zu: Geht doch mal wieder!

OR: Darauf kommen wir gleich noch mal. In der augenblicklichen weltpoliti­schen Situation und aufgrund weiterer ökonomischer Rahmenbedingungen rasen die öf­fent­lichen Kassen von einer Krise in die andere. Bund und Länder beschwören eine baldige Rückkehr zum Verbot der Neuverschuldung, egal, wie man dazu steht. Das Loch im Osnabrücker Stadt Stadtsäckel wird größer. Erstmals erwirtschaften sogar die sonst krisenfesten Stadtwerke ein Defizit in zweistelliger Millionenhöhe. Wie soll da Mut aufgebracht werden, ein Sunglider-Projekt zu finanzieren?

Otten: Genau das ist unsere Frage. Wie kann man es schaffen, einen ÖPNV zu entwickeln, der nicht Geld kostet, sondern Geld einbringt, der einen Nulltarif ga­rantieren kann, ohne dass das öffentliche Kassensystem auch nur einen einzigen Cent hineinstecken muss.
Der Sunglider als Kostenrevoluzzer ist die Antwort auf diese finanziellen Krisen.

Erstens versorgt er sich selbst komplett mit kostenloser erneuerbarer Energie.

Zweitens: Alle Fahrzeuge fahren voll autonom, so dass Millionenbeträge für Fahrpersonal wegfallen. Hört sich job-kill-mäßig an, ist es aber nicht, denn die jetzigen Bus-Fahrer sind nur wenige, und es wird ohnehin immer schwieriger, neue zu bekommen. Zudem lassen sich da genug sozialverträgliche Lösungen und auch alternative Betätigungsbereiche finden, weil Busse ja nicht von einem zum anderen Tag aus dem Straßenleben verschwinden.

Drittens führt die Entwicklung der Fahrzeuge zu einer extrem kostengünstigen Herstellung in unserer eigenen Stadt, in Osnabrück. Die Investitionskosten sinken dadurch dramatisch. Wir gehen im Moment davon aus, dass sie in etwa bei der Hälfte der Kosten für eine Straßenbahn nach dem Vorbild von Freiburg liegen. Natürlich ist eine Investition in den ÖPNV auch in diesem Fall kein Pappenstiel. Es gibt jedoch, was die wenigsten wissen, ein Bundesgesetz, das Gemeindeverkehrsförderungsgesetz, das den Bund verpflichtet, beispielsweise Straßenbah­nen mit mindestens 75 %, und wenn sie noch besondere Features aufweisen wie die PV Eigen-Versorgung, eventuell auch bis zu 90 % zu fördern.  Auf Deutsch: Nur mit dem Sunglider kann sich die Stadt Osnabrück langfristig ein Verkehrsmittel zulegen, das sie auch nachhaltig finanzieren kann.

OR: Wie kann das so billig sein? Das müsstest du vielleicht mal erläutern an dieser Stelle.

Otten: Gerne. Das preisgekrönten Produkt-Design der Fahrzeuge ist radikal reduziert. Es sind kleine, 30-Personen-People-Mover. Sie werden vollautomatisch im 3-D Design entworfen und sind so konzipiert, dass sie nur noch einen Bruchteil von vergleichbaren Fahrzeugen kosten. Sie werden vollautomatisch in Mikro-Fabriken vor Ort hergestellt und schaffen mindestens so viel Arbeitsplätze, wie durch den Wegfall der Busfahrer*innen verloren geht. Auch die Trasse wird in der Region hergestellt, und zwar aus recyceltem und sehr robustem Leimschicht-Holz. Die Betriebskosten sinken ebenfalls dramatisch. Sie liegen unter den Betriebskosten der Straßenbahn in Freiburg, decken aber ein dreimal so großes Streckennetz ab. Günstiger kann man ÖPNV nirgendwo bekommen.

Und nun zum Abschluss, wenn du so willst, dem Sahnehäubchen: Der Sunglider erzeugt mehr Strom, als die gesamte Metro verbraucht. Über 30 Millionen kWh im Jahr können an den Kundenmarkt ver­kauft werden. Der Sunglider spart so viel CO2 ein, dass er CO2-Zertifikate im zweistelligen Millionenbereich verkaufen wird. Steigen die Preise für Zertifikate weiter, umso besser: Dann steigen auch die Einnahmen daraus. Wer seiner Stadt etwas Gutes tun will, so dass sie in der Zukunft ihren ökonomischen Aufgaben gerecht wird und wer einen guten ÖPNV anbieten möchte, dem bleibt im Grunde nichts anderes übrig, als sich für den Sunglider auszusprechen.

OR: Gibt es eigentlich schon Best-Practice Modelle, von denen Osnabrück lernen könnte? Wie sehen beispielsweise ein Vergleich zur klassischen Wuppertaler Schwebebahn aus, die in die Jahre gekommen ist und offenbar nur bescheiden Nachahmer gefunden hat?

Otten:  Die Vorstellung, dass sich Schwebebahnen nicht überall durchgesetzt haben, ist sicher richtig, hängt aber weniger mit der Schwebebahn zusammen als damit, dass Mitte des 20 Jahrhunderts überall und ohne jegliche ökonomische Vernunft lieber Untergrundbahnen als Übergrund­bah­nen gebaut worden sind. Warum das so ist, hat ein namhafter Städtebauer mal auf die Formel gebracht, dass die Tunnelbau-Lobby auf der ganzen Welt nirgendwo mehr Geld verdienen kann als mit dem Bau von U-Bahnen.

Ansonsten hat natürlich das Auto jede Alternative gesprengt. Und wenn ich noch mal auf die vorherige Frage zurückkommen darf: Was ist das eigentlich für ein städtebauliches Verbrechen, mitten durch den Stadtkern einer alten Stadt eine vierspurige Autobahn zu bauen, nur, um möglichst flott von einem Ende des historischen Stadtkerns zum anderen zu kommen?

OR: Kommen wir trotzdem, aktuellen Schandflecken zum Trotz, zurück zum Best-Practice Thema. Gibt es dazu zumindest positive Erfahrungen, auf die wir zurückgreifen könnten? 

Otten: Der Sunglider ist ja eine disruptive Innovation. Da kannst du ja wohl heutzutage nicht im Ernst annehmen, dass es dafür Best-Practice Beispiele gibt. Aber es gibt eine Reihe von hochgradig interessanten Entwicklungen in Teilbereichen, die Best-Practice sind. Die wichtigste für uns ist natürlich die Erfahrung im Fahrzeugbau der Firma Local Motors aus Phoenix in Arizona, deren Olli unser Paradigma ist. Das hat uns Jahre an Entwicklungsarbeiten erspart.

Wir wollen mit unseren daran angelegten Eigenentwicklungen die Erfahrungen der großartige Fahrzeugidee des Olli nicht nur bewahren, sondern auch weiterschreiben. Als famose Idee hat sich entpuppt, den Olli umzudrehen und unter einer PV-Trasse fahren zu lassen.

Es gibt auch kein Vorbild dafür, eine Verkehrs­ein­rich­tung komplett mit Solarenergie zu versorgen. Obwohl das gut funktionieren würde. Man stelle sich nur vor, die Deutsche Bahn würde ihre Trassen mit PV-Modulen überdachen, zumindest dort, wo es geht. Das wäre in der Tat ein epochaler Beitrag zur Verkehrswende und zur Energiewende. Halleluja.

Er könnte für die Weiterfahrt bis zur Haustür sorgen: ein fahrerloser Bus nach dem Vorbild des Olli aus Phoenix in Arizona. Foto: Sunglider AGEr könnte für die Weiterfahrt bis zur Haustür sorgen: ein fahrerloser Bus nach dem Vorbild des Olli aus Phoenix in Arizona. Foto: Sunglider AG

OR: Öffentliche Entscheider tun gut daran möglichst alle Folgen und bürger­schaftliches Reaktionen abzuschätzen, gehen wir sie doch mal durch. Für wen ist der Sunglider besonders attraktiv, wenn wir an das zukünftige Osnabrück denken?

Otten: Wenn wir über den Sunglider reden, reden wir über Osnabrücks Zukunft. Mit wem müssen wir also reden? Doch wohl primär mit denen, die in zehn Jahren oder zwanzig unsere Nutzer sein werden, mit den Kindern, den Jugendlichen und den jungen Erwachsenen von heute.

Ob es in Osnabrücker Innenstadt dann noch einen Einzelhandel von der Struktur gibt, wie wir ihn jetzt kennen, halten manche Fachleute für sehr fraglich. Außerdem muss man bedenken: Jetzt ist etwa die Hälfte der Bevölkerung über 50 Jahre alt, in 30 Jahren wird die überwiegende Zahl der Leute tot sein. Wenn die dann noch Lebenden Osnabrück nicht, wie früher eine Maya-Stadt, verlassen sollen, müssen sich die heute Verantwortlichen jetzt einfallen lassen, wie sie die Stadt nachhaltig gestalten wollen, ohne dass sie noch in den Genuss ihrer Entscheidungen kommen.

Das gilt für zeitgemäßen Einzelhandel, moderne Arbeitsplätze, Innenstadt-Gastronomie, Kulturstätten bis hin zu Erlebnisräumen weiterer Art. Ich verstehe, dass das sehr schwer ist, weil wir in der Vergangenheit immer davon ausgehen konnten, dass die Dinge in der nahen Zukunft mehr oder weniger so blieben wie sie sind. Man konnte also sicher sein, dass die Entscheidungen von heute  zur Realität von morgen passen. Das ist heute anders. Heute braucht man großen Mut, und man muss den  den Willen zur Entscheidung aufbringen.

OR: Und was ist mit dem notorischen Autofahrer und dem ständig herumkurvenden Parkhaussucher? Was soll solche Menschen beim Wechsel auf den Sunglider begeistern? 

Notorische Autofahrer, auch das sagt die Mobilitätsforschung, lassen sich mit drei Argumenten ködern, das Auto stehen zu lassen: echten Nulltarif – was angesichts der steigenden Spritpreise immer wichtiger wird, hohe Taktfrequenzen und, drittens, ein komfortables Netzwerk für die „letzte Meile“. Das kann derzeit nur ein ÖPNV-System in Gänze leisten. Was konkret? Ich mag es schon gar nicht mehr sagen: Der Sunglider!

Wichtig bleiben ja auch enge Schulterschlüsse, die eine Bewegung stärker machen. Könnt ihr euch vorstellen, dass es mit Radfahren und Fußgängern eine WIN-WIN-Situation geben könnte? Es ist aufgrund deiner bisherigen Aussagen ja vorstellbar, dass der Straßenraum plötzlich gigantisch mehr Platz für Rad- und Fußwege bietet.

Otten: Radfahrer sind direkter Teil der Sunglider-Infrastruktur. Man kann beide Systeme direkt aufeinander abstimmen und durch Sharing kostenlos teilen. Man kann sein eigenes Rad per App einbringen, mit dem man zur Haltestelle fährt, es dort im Service abgibt, am Zielort ein Sharing-Rad nimmt und so weiter. Und unten ist ja ohnehin komfortabel Platz für Menschen, die sich zu Fuß oder auf dem Rad bewegen.

Abbildung 5: Oben Sunglider, unten gigantisch viel Platz für Menschen, die Rad fahren oder zu Fuß gehen. Foto: Sunglider AGAbbildung 5: Oben Sunglider, unten gigantisch viel Platz für Menschen, die Rad fahren oder zu Fuß gehen. Foto: Sunglider AG

OR: Zum Schluss noch eine politisch-praktische Frage. Das Projekt hat 500.000 €  Förder­mittel aus Hannover zugesagt bekommen, um ein Machbarkeitsstudie für eine Pilotstrecke zu erstellen. Um sie abzurufen, müssten die Stadtwerke die andere Hälfte aufbringen. Leider ist Corona und die Folgen dazwischengekommen. Wie soll es jetzt weiter gehen?

Otten: Das ist richtig. Die Stadt und die beiden Landkreise haben der NOZ gegenüber erklärt, dass sie da einspringen wollen. Leider wissen wir nicht genau, wie und wann. Wir verstehen, dass das alles sehr schwierig ist. Aber wir brauchen Klarheit, sobald wie möglich. Immerhin haben wir das Sunglider-Konzept der Stadt und den Stadtwerken bereits 2018 vorgestellt. Geschehen ist nichts. Das erschreckt mich. Wenn dies das Tempo der Klimaneutralität sein sollte, dann gnade uns Gott.

OR: Lieber Dieter, da bleibt offenkundig jede Menge zu tun. Wir danken Dir für dieses erhellende Gespräch. 

spot_img
spot_img
spot_img
spot_img
Follow by Email
Facebook
Youtube
Youtube
Instagram
Spotify