Sonntag, 6. Oktober 2024

„Am Freitag, den 1. Oktober 1886, erblickte die Welt mein Licht …“ (Paul Morgan) 

Paul Morgan (1886 Wien – 1938 KZ Buchenwald)
Von der Schmuse geküsst

„Am Freitag, den 1. Oktober 1886, erblickte die Welt mein Licht“ – schreibt der Schauspieler, Kabarettist und Librettist Paul Morgan 1928 in seinem „Tagebuch eines Spaßmachers“. Der leuchtende Knabe, der als Georg Paul Morgenstern in Wien geboren wurde, ist schon als Kind ein Galgenvogel und Überflieger. Er fliegt gleich mehrfach vom Gymnasium und danach wegen miserabler Noten und der heimlichen Lektüre von Arthur Schnitzler aus einem katholischen Konvikt, schafft aber doch irgendwie die Matura.

Sein Vater, als Jakob Morgenstern in Budapest geboren, vom Judentum zum Katholizismus konvertiert und unter seinem Taufnamen Christian Gustav Morgenstern ein bekannter Wiener Anwalt, hätte gern, dass sein Ältester Jurist wird wie er, sieht dann aber offenbar ein, dass der nicht für einen „ernsthaften“ Beruf zu gebrauchen ist und erlaubt ihm schließlich das Schauspielstudium am Konservatorium für Darstellende Kunst.

1908 hat Morgenstern-Morgan sein erstes Engagement am Theater in der Josefstadt und spielt anschließend Operetten und Schwänke in der Provinz, in Reval und Czernowitz, aber u.a. auch in München: „Ganz famos war wieder Paul Morgan, der … sich als Charakterkomiker von Qualitäten erwies“ (Der Humorist, 17.7.1912).

Als der Erste Weltkrieg beginnt, macht der junge Schauspieler seine Plattfüße und Krampfadern geltend, um nicht eingezogen zu werden, bekommt seine ersten Stummfilm-Rollen und die ersten Drehbuchaufträge. Morgan ersetzt im Wiener Kabarett „Simpl“ auch Fritz Grünbaum, der freiwillig in den Krieg marschiert war, entdeckt das Kabarett für sich und beginnt schon früh skurrile Witze- und Ankedotensammlungen zu veröffentliche. Die erste heißt „Von der Schmuse geküsst“ – eine Wortschöpfung aus „Muse“ und „Schmu(e)s“, dem jiddischen Wort für Plauderei bzw. dem hebräischen für Klatsch und Tratsch –, der später etliche folgen wie „Mein Onkel und den andere Beschwerden“ und „Das Buch der faulen Witze“.

1917 tritt Morgan aus der katholischen Kirche aus und heiratet die zwölf Jahre jüngere Schauspielerin Josefine „Josa“ Lederer, künftige Autorin unter anderem einer Biografie über Lucrezia Borgia. Als er 1918 doch noch eingezogen werden soll, weil den Kriegsherren die Leute ausgehen, rettet ihn ein Engagement ans Berliner Lessing-Theater.

Paul Morgan versteht sich auf das klassische und das dramatische Fach, er ist ein wahrer Allrounder, aber sein eigentliches Ding wird das neue Medium Film und das Kabarett. Er wird im Laufe der Zeit in unzähligen Streifen zu sehen sein, in Stumm- wie Tonfilmen, in drittklassigen Klamotten wie in großen Fritz-Lang- und Ernst-Lubitsch-Produktionen, in „Der Herr ohne Wohnung“, „Die Reise um die Erde in 80 Tagen“, „Halbblut“, „Die Spinnen“, „Hedda Gabler“, „Venus im Frack“, „Moral“, „Zwei Herzen im Dreiviertel-Takt“, „Casanova wider Willen“ oder „Der fröhliche Weinberg“,

Vielleicht noch umjubelter als auf der Leinwand und in den Opern- oder Theaterhäusern ist Paul Morgan auf der Brettl-Bühne. Nach seinem Auftritt bei der Eröffnung des Kabaretts „Rakete“ 1920 und anschließendem Tucholsky-Lob in der „Weltbühne“ steigt der Wiener über Nacht zum Star des Berliner Kabaretts auf und bleibt es über ein Jahrzehnt lang. Nicht ohne Grund: Der Mann ist ein Natur- und ein Multitalent, sprachgewandt, sprachwitzig, selbstironisch, geistvoll und belesen. Es sprudelt nur so aus ihm heraus, wenn er als „Paul Stephan“ im „Nelson-Theater“ auftritt, den Komiker in den Haller-Revuen spielt, im Varieté „Wintergarten“ auf der Bühne steht oder zusammen mit Wilhelm „Lieschen“ Bendow oder anderen witzige Doppel-Conférencen entwickelt, die er bei Erik Charell im „Großen Schauspielhaus“ vorführt und auf Schallplatten verewigt.

Doch Paul Morgan ist nicht nur komisch. Einer Wiener Zeitung gibt er 1923 auf die Frage, wie man denn überhaupt in Berlin leben könne, zu Protokoll:
„Leben kann man wohl kaum mehr nennen. Von dem Elend des Mittelstandes macht man sich hier keine Vorstellung. Auf den Straßen wird man alle zehn Schritte angebettelt, meist von Personen, denen man die besseren Tage ansieht. Endlose Polonaisen vor den Buttergeschäften, vor den Bäckerläden. Man schämt sich vorbeizugehen an diesen ausgemergelten Menschen, die viele Stunden auf dem kalten Pflaster warten, um ein winziges Stückchen Fett, einen Laib Brot zu ergattern, man schämt sich, wenn man einen satten Magen und ein ganzes Paar Stiefel hat. Man kann es begreifen, daß sich diese zermürbten, hungernden Kreaturen spielend leicht von gewissenlosen Hetzern aufwiegeln lassen und mit diesen ‚Führern‘, denen hohle Schlagworte sie gierig aufnehmen, losziehen wollen gegen alles, was in diesen grauenvollen Zeiten ‚oben‘ sitzt. Ein Pelzmantel, ein vorbeifahrendes Auto genügt, um grimmige Flüche laut werden zu lassen gegen Regierung, gegen die Juden, gegen Poincaré, gegen die Sozialisten, überhaupt gegen alles… Ein planloses Wüten zerfetzt dieses Land…“.

Morgan gehört zu denen, die schon Anfang der 20er-Jahre beginnen, in satirischen Texten die aufkommenden Nationalsozialisten zu verspotten. Ende 1924 gründet er zusammen mit Kurt Robitschek und Max Hansen das „Kabarett der Komiker“, kurz KadeKo, das dank seines großen Erfolgs beim Publikum später von der früheren „Rakete“ in einen neuen, großen Mendelsohn-Bau am Lehniner Platz umzieht. Hier tritt Morgan u.a. in der Antikriegsreportage „Der Fall des Generalstabchefs Redl“ von Egon Erwin Kisch auf und schon 1926 in der bissigen in das alte Rom verlegte Hitler-Operetten-Parodie „Quo vadis“. In der macht sich Morgan als Kaiser Nero über seinen Landsmann lustig, diesen „RRRR“, den „reinrassigen rasenden Roland mit Oberlippenbart, der die Welt neu ordnen will und nach dessen Wahnideen sich nicht mehr wie bisher jeder mit jedem einlassen darf, sondern Stadtmäuse fortan nur mit Stadtmäusen, Feldmäuse nur noch mit Feldmäusen“.

Im Dezember 1929 feiert das KadeKo sein fünfjähriges Bestehen mit einer fünfstündigen Vorstellung und 60 prominenten Künstlern, u.a. Richard Tauber, begleitet von Franz Lehár am Klavier. Doch kurz darauf scheidet Paul Morgan aus der KadeKo-Leitung aus; er soll sich mit Robitschek überworfen haben. Morgan gründet mit Max Hansen und Carl Jöken die Trio-Film-GmbH, die nach einem grandiosen Flop des Debüt-Films „Das Kabinett des Dr. Larifari“ aber gleich wieder pleite geht. Dafür nimmt er im Herbst 1930 das Angebot von Metro-Goldwyn-Mayer an, in den USA an der deutschen Fassung einiger Hollywood-Filmen mitzuwirken. Der erste Film ist „Menschen hinter Gittern“ (The Big House); am Drehbuch arbeiten Ernst Toller und Walter Hasenclever mit und außer Morgan spielen auch Heinrich George und Hans Heinrich von Twardowski mit.

Morgans letzte Hollywood-Film ist „Casanova wider Willen“ (Bedroom and Bath) und dazwischen entsteht seine lustige, fiktive Filmreportage „Wir schalten um auf Hollywood“, für die er das Manuskript und Oscar Straus die Musik schreibt, und in der er als Erfinder eines drahtlosen Radio-Senders und angeblicher Reporter auftritt, der in Hollywood lauter Stars von Buster Keaton über Greta Garbo und Adolphe Menjou bis Joan Crawford trifft. Die MGM-Produktion kommt in Deutschland gut an und nach der Rückkehr aus den USA 1931 spielt Morgan wieder im KadeKo, mit Fritz Grünbaum u.a. im Film „Arm wie eine Kirchenmaus“ und er beginnt an seiner Anekdotensammlung „Promin-Enten-Teich“ zu schreiben, seinen Erlebnissen „mit Stars, Sternchen und allerlei Gelichter“. Als das andere „Gelichter“ samt seinem „reinrassigen rasenden Roland“ 1933 an die Macht kommt, wird der Starkomiker Paul Morgan gezwungen, am KadeKo die Hakenkreuzfahne zu hissen.

Paul Morgan verlässt Berlin. Er versucht sein Glück in Zürich und landet schließlich wieder in seiner Geburtsstadt. Doch auch im zunehmend reaktionären und antisemitischen Wien wird es nun eng für jüdische Künstler. Anders als bei Wikipedia & Co angegeben, hat er aber schon noch Engagments. Karin Ploog schreibt in ihrem Buch „Als die Noten laufen lernten“, dass sie für Morgan zwischen 1934 und 1938 allein in Wiener Zeitungen 436 Erwähnungen über seine Tätigkeiten gefunden habe – in den Wiener Kammerspielen, im Raimundtheater,  im Varieté Leicht, in der Scala, dann Gastspiele am Prager Deutschen Theater, im Kurtheater Franzensbad und Marienbad, sowie etliche Rundfunk-Sendungen mit und launige Zeitungsartikel von Morgan.

1936 schreibt er zusammen mit Adolf Schütz das Libretto für das Benatzky-Singspiel „Axel an der Himmelstür“, in dem er zusammen mit Fritz Grünbaum und Otto Wallburg im Theater an der Wien auftritt und das die bis dato unbekannte Hauptdarstellerin – Zarah Leander – über Nacht berühmt macht. Mit diesem Stück gastiert Morgan 1937 dann auch in Zürich, gefolgt von der Operette „Terzett zu viert“ mit Trude Hesterberg, die es in zwölf Tagen im Züricher Corso Theater auf über 13.000 Zuschauer bringt.

Im Mai 1937 feiert ihn die Wiener Presse noch für seine Rolle in „Der Vizekönig“ als „überwältigend komisch“ und im November 1937 als „Künstler von Weltruf“.  Paul Morgan hofft, dass der braune Spuk irgendwann einfach vorbei sein würde, warum auch soll er dieses Land verlassen?: „Ich will nicht weg. Ich habe ja auch gar nichts getan.“
Und er kann sich nicht wirklich vorstellen, in welcher Weise die witzelnden Verse Realität werden würden, die er Jahre zuvor als Nachruf auf sich selbst zusammengereimt hatte: „Da liegst du nun und stehst nicht wieder auf. (…) Den Nekrolog für dich, den heben wir uns auf, bis wir dein Maulwerk extra noch erschlagen.“. 

Neun Tage nach dem deutschen Einmarsch in Österreich wird Paul Morgan am 22. März 1938 in seiner Wohnung von der Gestapo verhaftet. Man wirft ihm den Besitz eines harmlosen Briefes von Gustav Stresemann vor, in dem sich der mit Morgan befreundete, längst verstorbene Politiker für einen wohltätigen Auftritt bedankt; später lautet der Haftgrund „Verkehr mit Emigranten“. An Litfaßsäulen prangen nun Karikaturen von ihm als unrasiertem KZ-Häftling mit den Satz „Paul Morgan, der Held aller Bühnen, sitzt endlich hinter schwedischen Gardinen“. und sas SS-Organ „Das Schwarze Korps“ bejubelt seine Inhaftierung unter der Schlagzeile „Die Pest von Wien“ . Zwei Monate später wird der Ufa-Star aus dem Wiener Polizeigefängnis nach Dachau deportiert und im September, bereits kränkelnd, nach Buchenwald verlegt – genauso wie Fritz Grünbaum und Hermann Leopoldi. Während sich die Drei bemühen, ihre Mithäftlinge mit ihren Kabarett-Sketchen aufzumuntern, versucht Morgans Frau, die es knapp geschafft hatte, zu Freunden nach London zu fliehen, verzweifelt, Ausreisepapiere für ihn zu besorgen und bekommt schließlich tatsächlich ein Visum für die Niederlande. Doch die Anträge auf seine Haftentlassung werden abgelehnt. Es ist zu spät.

Morgans Mithäftling Bruno Heilig berichtet: »Auf Block 16 hat ein Blockführer Lebensmittel in den Betten gefunden. Der Block muss strafexerzieren. Es regnet, scharfer Wind weht. Ein Mann tritt aus der letzten Reihe, nimmt die Mütze ab, geht wankend auf den Blockführer zu, der das Strafexerzieren beaufsichtigt. ›Ich bin krank – ich habe Fieber…. (…) Der Blockführer jagt ihn zurück. Der Block exerziert bis zum Pfeifen. Paul Morgan wird auf einer Bahre zurückgebracht. Er kommt in Agonie aufs Revier…«. 

Paus Morgan, „Schutzhäftling Nr. 9447“, stirbt noch am selben Abend, am 10. Dezember 1938, laut Totenschein an „Lungen- und Rippenfellentzündung“.

Paul Morgan ist heute fast komplett vergessen, kaum noch jemand kennt überhaupt seinen Namen. Doch die allermeisten dürften den Sketch „Rennbahngespräche“ mit der albernen Phrase „Ja, wo laufen sie denn, wo laufen sie denn hin?“ kennen, den Morgan 1926 mit Wilhelm Bendow auf Schallplatte aufgenommen und dessen Tonspur Loriot 1972 für einen seiner beliebten Zeichentrickfilme verwendet hat.

Ps: Paul Morgan ist doch nicht von allen vergessen. Heute vor einer Woche wurde vor dem Theater des Westens ein „Stolperstein“ für ihn verlegt und für den Kabarettisten Kurt Lilien, der 1943 in Sobibór vergast wurde.

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