Freitag, 29. März 2024

Der Magier und „Hellseher“ Herschel Chaim Steinschneider alias Erik Jan Hanussen wurde vor 134 Jahren geboren

Hanussen, * 2. juni 1889, der Magier und „Hellseher“ Herschel Chaim Steinschneider alias Erik Jan Hanussen war eine der schillerndsten Figuren im Berlin der späten Weimarer Jahre, bis ihm seine Nähe zu den Nazis zum Verhängnis wurde.

„was ist magie? …die menschen an den geliebten glauben an das wunderbare nicht stören, sondern bestärken. ich zeige ihnen, dass man mit wille, mut, energie und impertinenz zweitausend leute, die im saal sitzen, in die tasche stecken kann.

was ist publikum? schwachköpfe, wundersüchtige, hysteriker, ein paar wirklich unglückliche – vor allem aber doch kinder, deren großer kummer es ist, dass ihnen kein lehrer, vater, vorgesetzter, freund genug imponiert, um sich ihm restlos anvertrauen zu können.“ (hanussen 1930)nach seinen anfängen bei wanderzirkussen in wien und der provinz (ressort glaszerbeißen, kettenzerreißen, entfesseln, feuerschlucken, auf nägeln liegen) hatte steinschneider schon im ersten weltkrieg damit begonnen, seinen frontkameraden die zustände in der heimat vorauszusagen (nachdem er heimlich deren feldpostbriefe von zuhause gelesen hatte). nach mässig erfolgreichen zwischenstationen, u.a. in asien und new york, endlosem zoff mit seinem rivalen zische breitbart, dem „stärksten mann der welt“ und der anschließenden ausweisung aus österreich (weil tschechischer staatsbürger) erarbeitete sich der charismatische scharlatan zum ende der 1920er-jahre hin in berlin mit chuzpe, intelligenz und skrupellosen methoden der informationsbeschaffung einen legendären ruf als gedankenleser, hellseher, hypnotiseur und okkultist.

der mann, der sich nun „erik jan hanussen“ nannte und angeblich einem dänischen adelsgeschlecht entstammte, konnte sich regelmäßig ausverkaufter zuschauersäle erfreuen, wenn er seine kunststückchen und angeheuerte „weltwunder“ vom hungerkünstler bis zu „omikron, dem lebenden gasometer“ vorführte. er gab eigene auflagenstarke zeitschriften heraus, in denen er teils spektakuläre vorhersagen machte, astrologisch „untermauerte“ börsentipps gab, die tatsächlich die aktienkurse beeinflussten, okkultistische beratungen und seancen gegen horrende honare und magische eigenprodukte von amuletten bis pillen anpries.die berliner, schwer gebeutelt von wirtschaftskrisen und politischen unruhen, ließen sich gern betrügen. sie suchten autoritären halt und bejubelten den wahrsager wie einen messias. schließlich verstummten auch noch die wenigen miesmacher, als er 1930 die richter in einem spektakulären prozess vor einem tschechischen gericht um den finger wickelte und die ihn vom vorwurf des (35-fachen) betrugs freisprachen; begründung: sein publikum, wenn es nicht „schwachsinnig“ sei, müsse damit rechnen, dass es hinters licht geführt werde, es sei nicht zweifelsfrei beweisbar, dass hanussen nicht hellsehen kann und schließlich könne auch ein begabter hellseher mal daneben liegen.

hanussen schlachtete diesen freispruch oder besser gesagt: freibrief groß für sich aus und war nun auch im ausland in aller munde, aber noch nicht am ziel. er wollte einfluss, er wollte ganz oben mitspielen, und dazu war ihm jedes mittel und jede allianz recht, und so diente er sich den aufstrebenden anderen scharlatanen an. aus kalkül oder/und echter begeisterung schrieb er, garniert mit allerlei günstigen propheizungen und horoskopen zu deren zukunft, den aufstieg der nsdap und hitlers herbei (den er auch mehrfach aufgesucht und beraten haben soll) und sagte das ende der arbeitslosigkeit an. gleichzeitig begann er, inzwischen in einem luxeriösen appartement am ku’damm lebend und zu erheblichen reichtum gelangt, den ausschweifenden lebensstil der ersten riege seiner spielsüchtigen nazi-freunde zu finanzieren, indem er ihre außenstände gegen schuldscheine bezahlte. allein wolf-heinrich graf von helldorff, der spätere berliner polizeipräsident, soll ihm 150.000 reichsmark geschuldet haben. ihn und andere ns-größen, wie sa-chef ernst röhm, lud hanussen nun auch regelmäßige auf seine elegante yacht zu okkulten orgien ein, bei denen er ihnen je nach neigung junge mädchen oder knaben zuführte, stellte ihnen seine dicke limousinen zur verfügung und spendete an die sa, die im gegenzug bei seinen vorstellungen den saalschutz gegen kommunistische störtrupps übernahm.

wenige wochen nach der machtübergabe an die hitler-truppe am 30. januar 1933 eröffnete hanussen in der lietzenburger straße seinen „palast des okkultismus“. eingeladen und erschienen war auch die braune crème de la crème. irgendwann an diesem abend sagte er den sieg der nationalsozialisten bei den reichtagswahlen am 5. märz voraus, wozu man allerdings wahrlich kein prophet sein musste, doch anschließend auch noch, dass bald „flammen aus einem großen haus“ emporsteigen würden… 24 stunden später brannte der reichstag!

die informationen über diesen plan, den willkommenen anlass für die verhaftung politischer gegner im großen stil und die durchsetzung der notstandsgesetze, hatte ihm vermutlich ein befreundeter sa-mann zugespielt. doch der reichtagsbrand war auch seine letzte vorhersage. hanussen hatte sich verzockt. er musste zu viel, er hortete zu viele schuldscheine von zu vielen nazigrößen und zu allem übel hatte sein ex-manager, mit dem er sich überworfen hatte, den „dänischen edel-arier“ kurz zuvor auch noch als waschechten ottakringer juden „geoutet“.
und so warteten die zuschauer im ausverkauften varieté „scala“ am 24. märz 1933, drei wochen nach dem brand des reichstags, umsonst auf den „berühmtesten hellseher der welt“. ein trupp seiner neuen „freunde“ hatte hanussen, wohl auf ansage von ganz oben, verhaftet und noch am selben abend entweder gleich in der sa-kaserne in tempelhof oder an seinem späteren fundort erschossen. während die vielen schuldscheine in seiner wohnung auf wundersame weise für immer verschwanden, wurde seine leiche zwei wochen später in einem waldstück zwischen zossen und baruth gefunden, bereits stark angenagt von tieren und nur noch durch ein gesticktes monogramm in seiner kleidung zu identifizieren. der presse wurde verboten, über den fall zu berichten und das ermittlungsverfahren ein paar wochen später auf anweisung des justizministeriums eingestellt: „täterschaft nicht zu ermitteln“.

herschel chajm steinschneider liegt als „erik jan hanussen“ auf dem stahnsdorfer südwestfriedhof. istván szabó hat ihm mit „hanussen“ und klaus maria brandauer in der titelrolle ein denkmal gesetzt.

https://www.youtube.com/watch?v=3-u6Gk0dAYA

Judith Kessler
Judith Kessler
Judith Kessler ist Sozialwissenschaftlerin, Redakteurin und Autorin mit den Schwerpunkten jüdische Migration, Gegenwartskultur und Biografieforschung.
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