Dienstag, 16. April 2024

Judith Kessler: Am 24. April 1915 beginnt der Völkermord an den Armeniern …

Mit der Verhaftung hunderter Mitglieder der amenischen Elite in Istanbul beginnt am 24. April 1915 der Völkermord an den Armeniern …

Sechs Jahre später erschießt der armenische Student Soghomon Tehlirjan auf der Berliner Hardenberg-, Ecke Fasanenstraße den früheren türkischen Großwesir Talaat Pascha, den Mann, der diese Verhaftungen angeordnet hatte und „die Seele der Armenierverfolgungen“ gewesen war (für die anderen indes „der türkische Bismarck).

Beim Prozess gegen Tehlirjan legte der Sachverständige Johannes Lepsius dem Gericht Dokumente vor, die klar die Verantwortung der türkischen Regierung und Talaats für die Deportationen und den Massenmord an den osmanischen Armeniern belegen.

Überraschend wird der Attentäter (wegen Unzurechnungsfähigkeit) freigesprochen. Die Zuschauer applaudieren minutenlang – unter ihnen: Robert M.W. Kempner, später US-Ankläger im Nürnberger Prozess. An diesem Tag, erinnert er sich, sei zum ersten mal der Grundsatz anerkannt worden, dass ein durch eine Regierung begangener Völkermord durchaus von anderen Staaten bekämpft werden kann, ohne eine unzulässige Einmischung zu sein.

Was das Gericht nicht wusste (oder nicht wissen wollte): der junge Armenier war kein verwirrter Einzeltäter, sondern einer der Mitwirkenden der „Operation Nemesis“, die ihr Volk rächen wollten. Denn obgleich das türkische Parlament 1919 bekannt hatte: die „Gräueltaten an den Armeniern … haben unser Land in ein gigantisches Schlachthaus verwandelt“, das oberste Kriegsgericht von einem „Verbrechen gegen die Menschheit“ sprach und Talaat, den Kriegsminister Enver Pascha und 15 weitere Hauptverbrecher zum Tode verurteilte, wurden nur drei von ihnen hingerichtet. Die anderen hatten sich 1918 mit deutscher Hilfe aus der Türkei abgesetzt. Doch „Nemesis“ spürte sie fast alle auf – in Berlin, Rom, Tbilissi. Fünf der Verbrecher aus dem „Komitee für Einheit und Fortschritt“ – die heute allesamt als Helden und Märtyrer gelten – bekamen allerdings unter Mustafa Kemal „Atatürk“ nach der Gründung der Türkischen Republik 1923 wieder Ministerposten.
„La question armenienne n’existe pas“, hatte Talaat stolz verkündet, als anderthalb von zwei Millionen Armeniern tot waren. „Die armenische Frage existiert nicht mehr“ galt nun auch für die Erinnerung. Das armenische Leid war so schnell vergessen wie das türkische Schuldbekenntnis von 1919 – und ist es bis heute.

Heute leben nur noch 60.000 Armenier in der Türkei. Wie die Juden haben die Armenier ein eigenes Wort für ihre nationale Katastrophe: ihre „Schoa“ heißt „Aghet“ (oder „yeghern“) – „die Tat des Fremden“, und die ist tabu und nennt sich amtstürkisch „Umsiedlung“ oder „Notwehr“. Ohne Schutz und Hilfe des Deutschen Reiches wäre sie nicht möglich gewesen. Die Deutschen leisteten dem Bündnispartner Militärhilfe, lieferten Waffen, stellten Logistik und Personal zur Verfügung. Allein die deutsche Militärmission in Konstantinopel verfügte über 12.000 Soldaten. Die Regierung in Berlin war bestens über die Massaker informiert, durch ihre Konsulate in allen Provinzen, durch die Fotos Armin T. Wegners, die erschütternden Berichte des Theologen Lepsius (der sogar nach Holland fliehen musste, als er sie drucken und verbreiten ließ) und die zahllosen Appelle von Überlebenden, Krankenschwestern, Diplomaten:

Vizekonsul Kuckhoff sieht sich an die Judenverfolgung in Spanien und Portugal erinnert, Generalmajor von Lossow nennt das „Aushungern der Armenier“ eine „neue Form des Massenmords“. Der unbequeme Botschafter Paul Graf Wolff-Metternich appelliert unentwegt an die Regierung, dem Treiben ein Ende zu setzen – und wird abberufen. 1916 läuft auch eine Parlamentsanfrage Karl Liebknechts zur „Ausrottung der türkischen Armenier“ ins Leere. Niemand will so genau wissen, was in der Türkei passiert. Schließlich befindet man sich an der Seite der Türken im Krieg. Diese Allianz ist wichtiger als alle Berichte über Leichenberge, über grausam verstümmelte Menschen, die aneinander gebunden von hohen Felsen in den Euphrat gestürzt werden, über die Blutorgien der Sonderkommandos. Deren Einsatz organisiert ein Deutscher: Colmar Freiherr von der Goltz. Andere Deutsche befehligen Einheiten des türkischen Heeres. Oberstleutnant Boettrich ist für den Tod Tausender Zwangsarbeiter der Bagdadbahn mitverantwortlich, sein Kollege von Schellendorf weist ebenfalls Deportationen an, kritisiert einen deutschen Konsul, weil der Brot an Armenier verteilen lässt und macht die Opfer zu Tätern: Der Armenier sei „wie der Jude, … ein Parasit, der die Gesundheit seines [Aufenthalts-]Landes aufsaugt“ und deshalb gehasst werde. Sein Kollege Humann, Marineattaché an der deutschen Botschaft wiederum schreibt: „Die Armenier wurden jetzt mehr oder weniger ausgerottet. Das ist hart, aber nützlich.“

Ahnte Franz Werfel, was den Juden bevorsteht, als er seinen Roman „Die vierzig Tage von Musa Dagh“ über den Widerstand armenischer Dorfbewohner schrieb, in dem prophetisch von „wandernden Konzentrationslagern“ die Rede ist? Das Buch wird in der NS-Zeit zum Fingerzeig für viele Juden und eine der Hauptlektüren in den Ghettos.

In den 1980er Jahren sind es wieder jüdische Autoren, die den Toten ein Denkmal setzen: Ralph Giordano mit dem Film „Die armenische Frage existiert nicht mehr“, Edgar Hilsenrath mit dem „Märchen vom letzten Gedanken“. Er nennt die Täter „Lehrmeister des Holocaust“, wegen der perfiden Systematik, mit der sie vorgingen und wegen ihrer Vorbildwirkung, denn die Welt hätte damals erlebt, dass die Verbrechen ungesühnt blieben – Hitler 1939: „Wer redet heute noch von der Vernichtung der Armenier?“.

Im Unterschied zur Ermordung der Juden im modernen Industriestaat Deutschland gab es im Osmanischen Reich noch keine technisch perfekte Vernichtungsmaschinerie und Christen konnten ihr Leben zum Teil durch Übertritt zum Islam und Heirat mit Türken retten. Dennoch gibt es viele Parallelen:

Wie die Juden in Mitteleuropa waren die Armenier im 19. Jahrhundert anderen Bürgern formal gleichgestellt worden. Wie bei den Juden gesellte sich in dieser Zeit zu ihrer religiösen Ablehnung sukzessiv ein rassistisches Moment und galten die Armenier als „die Juden des Orients“. Hinzu kam sozialer Neid, die fehlende Sanktionierung vorheriger Pogrome (gegen Juden in Osteuropa, gegen Armenier in der Türkei 1895/96, 1909) und eine Propaganda, die einen Gegensatz zwischen staatsloyalen Muslimen und illoyalen christlichen „Schädlingen“ konstruierte und so die „Endlösung“ vorbereitete, wie bei den Juden: Erst Verleumdung (Armenier bereichern sich oder vergiften Lebensmittel) und Ausgrenzung („Kauft nicht bei Armeniern!“), dann Ausschaltung der Eliten, dann Deportation – „ins Nichts“, in die mesopotamische Wüste. Wer hier nicht verdurstete oder verhungerte wurde erschlagen oder erschossen.

(Auch der Begriff „Holocaust“ wurde erstmals im Zusammenhang mit Pogromen gegen Armenier benutzt – von der amerikanischen Missionarin Corinna Shattuck, die 1895 miterlebte, wie in Urfa Armenier in einer Kirche verbrannt wurden.)

Ein Ort nach dem anderen wird „armenierfrei“ (und umbenannt – wie das alte „Zeitun“ in „Süleymanli“). Und wie Deutsche von Juden profitieren die Türken von den Armeniern. All ihr Hab und Gut wird systematisch „umverteilt“ – Geld in Banken beschlagnahmt, Tote nach Gold gefleddert, Häuser ausgeräumt. Die Ausschaltung der unliebsamen Konkurrenz („wirtschaftlicher Patriotismus“ genannt) endet damit, dass bei Gründung der Türkischen Republik nur noch fünf Prozent der Kaufleute und Gewerbetreibenden Christen sind; vor dem Genozid waren es 80 Prozent. Fast die gesamte christliche Bevölkerung von fünf Millionen Bulgaren, Griechen, arabischen und aramäischen Christen und nun auch Armeniern ist beseitigt. Die Jungtürken haben den ethnisch homogenen Nationalstaat, den sie wollten …

Judith Kessler
Judith Kessler
Judith Kessler ist Sozialwissenschaftlerin, Redakteurin und Autorin mit den Schwerpunkten jüdische Migration, Gegenwartskultur und Biografieforschung.
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