Donnerstag, 28. März 2024

Judith Kessler erinnert zum 155. Geburtstag von Magnus Hirschfeld an die erste Transgenderperson

The Einstein of Sex

Magnus Hirschfeld, *14.5.1868, der von den Nazis vertriebene Initiator des ersten Instituts für Sexualforschung und der Schwulenbewegung, Erfinder des Begriffs Transvestit und der These vom dritten Geschlecht …

Die Geschichte von Martha Baer, Karl M. Baer und N. O. Body = Nobody:

Ihre/seine Identität und dass es sich bei den dreien um ein und dieselbe Person handelt, hat erst Anfang der 90er der Historiker Hermann Simon aufgedeckt. Baer war die erste Transgenderperson, die sich einer Geschlechtsanpassung unterzog – Ende 1906, genehmigt vom preußischen Innenministerium, auf Empfehlung von Magnus Hirschfeld, der Baer eine „fehlerhafte sexuelle Zuordnung“ diagnostiziert, ihn als Pseudohermaphrodit (Scheinzwitter, hier mit Hypospadie) erkannt und in seinen Aufzeichnungen zu „Anna Laabs“ anonymisiert hatte.

Entschieden hatte sich Baer, zu diesem Zeitpunkt 21, letztlich zu der von Hirschfeld geratenen Operation, nachdem er sich in eine Frau verliebt hatte, die er später dann auch heiratete (alternativ hatten die beiden beschlossen, sich umzubringen).

All dies passierte unter Stillschweigen. Die Transformation wurde juristisch von dem bekannten jüdischen Anwalt Sammy Gronemann begleitet, so dass im Januar 1907 das Standesamt in Arolsen den Geburtseintrag durch die Ergänzung korrigierte: „Das nebenbezeichnete Kind Baer ist männlichen Geschlechts und hat anstatt des Vornamens Martha den Vornamen Karl erhalten.“ – Hier, wo alles angefangen hatte in Arolsen, wo Baer 1885 als Kind des Kaufmanns Bernhard Bär und seiner Frau Lina, geborene Löwenberg, zur Welt kam und die Hebamme den Eltern zur „Geburt einer schönen Tochter“ gratuliert hatte. Doch dann waren diese stutzig geworden, der Körper des Kindes hatte „so merkwürdige“ Eigenschaften, dass sie sein Geschlecht nicht bestimmen konnten. Der Vater einigte sich mit dem Hausarzt schließlich per Handschlag auf „Mädchen“, auf Martha. Doch die bekam keinen Busen, stattdessen Stimmbruch und Barthaare und versuchte sich ihre Kindheit und Jugend hindurch irgendwie anzupassen und nicht aufzufallen.

Mit 17 ging sie nach Hamburg, wurde Sozialarbeiterin und war von 1904 bis 1906 als „Sendbotin“ in Galizien tätig. Ihre Aufgabe: die dortige jüdische Bevölkerung über den Mädchenhandel aufzuklären und für die Ausbildung von jungen Frauen zu werben (1908 schildert sie, nun als Karl M. Baer, im Band 37 der Berliner „Großstadt-Dokumente“ die Praktiken der internationalen Mädchenhändler; ihre Berichte waren auch maßgeblicher Impuls dafür, dass Bertha Pappenheim und der Jüdische Frauenbund Programme gegen den Mädchenhandel einrichteten). Eine Notiz von Magnus Hirschfeld deutet darauf hin, dass Martha ihre Arbeit in Galizien abbrechen mußte, weil das Gerücht umging, sie sei „ein verkleideter Mann“ …

Karl Meir Baer

Der Rest ist, siehe oben, bekannt. Simon hat auch die Aussage einer Tante aufgetrieben, die sich in den 1910er Jahren in einem Kreis jüdischer junger Leute bewegt hatte und Baers Verwandlung eindrücklich beschreiben konnte: „Zu dieser Gruppe gehörte ein Fräulein Martha Baer, (…) eine typische Intellektuelle, auffallend klug und geistig führend, busenlos, mit Bartwuchs und ausgesprochener Männerstimme, auch sonst wie ein Mann wirkend. Dass dieses junge Mädchen dicke Zigarren rauchte, reichlich Bier trank, und zwar mit kräftigem Zug, fiel als durchaus unüblich auf. Eines Tages (…) sei Fräulein Baer in dem Freundeskreis erschienen, um sich zu verabschieden: Sie ziehe in eine andere Stadt, weil sich für sie dort eine berufliche Betätigungsmöglichkeit, eine sinnvolle Aufgabe gefunden habe. Nach geraumer Zeit sei ein junger Mann namens Karl Baer als Neuling zu der Gruppe hinzugekommen. Er habe der entschwundenen Martha zum Verwechseln ähnlich gesehen, nur habe er nun Männerkleider getragen. Die auffälligste Veränderung habe die neue Frisur bewirkt, kurzer Haarschnitt an Stelle des aufgesteckten Zopfs.“ …

Ab 1908 ist Martha dann als Carl bzw. Karl im Berliner Adressbuch zu finden. Erst arbeitete er bei der Victoria-Lebensversicherung, dann bei der Jüdischen Gemeinde, zuletzt als Direktor der Berliner B’nai Brith Logen. 1938 emigrierte er mit seiner zweiten Frau nach Palästina, arbeitete dort als Versicherungsagent und Steuerberater, starb 1956 und wurde in Tel Aviv als Karl Meir Baer (zuvor hatte das M. in der Mitte für Martha bzw. Max gestanden) beigesetzt.

Baers unter dem Pseudonym N. O. Body 1907 geschriebene Leidensgeschichte „Aus eines Mannes Mädchenjahren“ ist als Reprint bei Hentrich & Hentrich erschienen.

Judith Kessler
Judith Kessler
Judith Kessler ist Sozialwissenschaftlerin, Redakteurin und Autorin mit den Schwerpunkten jüdische Migration, Gegenwartskultur und Biografieforschung.
spot_img
spot_img
spot_img
spot_img
Follow by Email
Facebook
Youtube
Youtube
Instagram
Spotify